Neue Möglichkeiten der Sinngebung
Es gibt viele Anzeichen dafür, dass ein weiterer Schritt, vielleicht gar ein Sprung in unserer Bewusstseinsentwicklung ansteht. Herausgefordert auch durch die machtvollen digitalen Technologien, die wir entwickeln. Aber könnten sie auch diesen Wandel unterstützen?
Wir stehen an einem entscheidenden Punkt unserer Geschichte, an dem wir für die globalen Herausforderungen neue Denk- und Handlungsansätze finden müssen. Es ist ein Wandel vonnöten, der kein linearer Fortgang ist, sondern ein »Phase Shift«, wie es der Systemforscher Daniel Schmachtenberger nennt, eine grundlegende Transformation von Bewusstsein, Beziehungen, Bildung und Institutionen. Für Schmachtenberger zeigt sich dieser Wandel vor allem auch in neuen Formen der Sinngebung, Bedeutungsfindung und Entscheidungsfindung, die auf Co-Kreation und kollektiver Intelligenz beruhen. Seiner Ansicht nach brauchen wir »eine dezentralisierte Bewegung von Aktivitäten in Richtung einer Renaissance und einer neuen kulturellen Aufklärung, in der die Menschen viel tiefer darüber nachdenken, wie wir unsere Institutionen angemessen umstrukturieren und die Menschen sich so entwickeln können, dass dies möglich wird.«
In einer Gesellschaft, die auf Individualität, Wettbewerb, Konkurrenz, Machtkämpfen – zwischen Menschen, Gruppen, Institutionen, Nationen, Denkweisen – gründet, ist das ein Wandel, der umfassender ist, als es zunächst erscheint. Der Systemdenker Jordan Hall bezeichnet es als den Übergang von Game A zu Game B, von einer von Machtkämpfen und Ausbeutung geprägten Kultur zu einer Kultur der Kooperation und Co-Kreation. Charles Eisenstein spricht als Kulturphilosoph vom Übergang von einer Kultur der Trennung zu einer Kultur der Verbundenheit, des Interseins.
¬ DIE NEUEN FORMEN VON VERNETZUNG KÖNNTEN MIT BEWUSSTSEIN GEFÜLLT WERDEN ¬
Wie kann dieser Wandel aber gelingen? Wo beginnt er? Wie kann sich unser Bewusstsein erweitern, um Ausdruck dieses neuen Potenzials zu werden? Wo kann es erprobt werden? Wie können wir gemeinsam soziale Vorstellungskraft ausbilden, um das Neue in die Welt zu bringen? Und welche Rolle kann die Technologie dabei spielen?
Darauf gibt es keine einfachen, linearen, sicheren Antworten – und das ist schon Ausdruck der Tiefe dieser Transformation: Wir können sie allein mit den Denkweisen, die wir erlernt haben, die auf rationaler Analyse und Berechnung basieren, nicht erfassen. Und angesichts der Komplexität der Herausforderungen und Potenziale und ihrer vielschichtigen Wechselwirkung ist es wohl auch nicht möglich, dass ein Mensch, eine Sichtweise, Forschungsdisziplin oder Institution die Antwort finden kann. Vielmehr brauchen wir intersubjektive Prozesse, in denen wir gemeinsam eine neue Welt imaginativ ins Bewusstsein bringen können. Eine solche »soziale Vorstellungskraft nimmt kollektive Intelligenz und Weisheit ernst«, erklären Geoff Mulgan und Demos Helsinki vom University College London. Denn »einige der größten Möglichkeiten des 21. Jahrhunderts sind diejenigen, die neue Arten von Gemeingütern schaffen – die Zusammenführung von Daten, Erkenntnissen und Ideen sowie die Umwandlung fragmentierter Gemeinschaften in eine in Echtzeit funktionierende gemeinsame Intelligenz, bei der Beobachtung, Kreativität und Lernen miteinander verbunden sind. Wir bezeichnen das gern als ›Intelligenzversammlungen‹.«
Viele Menschen experimentieren schon mit solchen Foren – offline und online –, in intersubjektiven Dialogformen und Wir-Räumen sowie über Podcasts, YouTube-Kanäle und globale Videokonferenzen, in denen synergetische Dialoge gepflegt werden. Und es gibt Versuche, die Werte und Qualitäten eines solchen synergetischen Bewusstseins auch in die Technologe hineinzucodieren, indem man im Web3 mit Tokenökonomie ein bestimmtes Handeln und Engagement belohnt. Es wäre durchaus vorstellbar, dass so von unten, aus der Zivilgesellschaft heraus, eine Kommunikationsstruktur wächst, die Räume der co-kreativen Sinnfindung, Entscheidungsfindung und Umsetzung in konkrete Projekte entstehen lässt.
Solche Räume könnten auch eine Erneuerung der demokratischen Prozesse und Institutionen vorbereiten. Denn die Zukunft unserer Demokratie wird auch davon abhängen, ob es gelingt, in der Entscheidungsfindung eine »offene Mitte« lebendig zu halten. Die Philosophen Gert Scobel und Markus Gabriel bezeichnen so einen Gesprächsraum, der nicht durch die Dominanz einer Sichtweise oder einer Interessengruppe verstellt wird. So wird eine Sinnfindung möglich, die aus der Synthese verschiedener Anliegen entsteht. Für sie ist die Praxis der offenen Mitte das Herz einer offenen Gesellschaft.
Diese Praxis wird nur möglich sein, wenn sich unser Bewusstsein verändert. Denn »Co-Kreation beginnt«, so der Regenerationsforscher Christian Daniel Wahl, »wenn wir mit anderen an einer Vision arbeiten, die größer ist als unser eigenes Ich, unser eigenes Leben, unsere eigene Familie – eine Vision, die uns selbst, unserer Gemeinschaft und unserer Welt zugutekommt. Wichtig ist, dass dies auch für die Zusammenarbeit mit den nicht-menschlichen Mitgliedern der Gemeinschaft des Lebens gilt.« Es könnten Biotope einer co-kreativen, regenerativen Kultur entstehen – vor Ort und online, global vernetzt. Und es gibt sie in Ansätzen auch schon.
Wenn solche »Intelligenzversammlungen« wirklich zum Ausdruck des Neuen werden, dann wird darin ein Bewusstsein lebendig spürbar, das nicht in einer Sichtweise gefangen ist, Nichtwissen zulässt, eine Demut der Erkenntnisfähigkeit und tiefes Zuhören praktiziert. Es umfasst eine ethische Wandlung zu einem Verhalten, das in Verbundenheit mit dem Planeten handelt. Eine schöpferische Verlebendigung, die unsere innewohnende Kreativität befreit, um sie in das Ganze einbringen zu können. Das Wiedererwecken unserer sozialen Vorstellungskraft, in der wir aus einer Vision heraus die Welt gestalten. Dazu gehört auch eine Würdigung unseres Verkörpertseins im Wahrnehmen und Spüren der Welt. Und auch eine Wertschätzung für den unverfügbaren und heiligen Grund unseres und allen Lebens.
Man kann diese Bewusstseinshaltungen nicht in die Technologie hinein codieren, aber sie könnte Räume schaffen, um diese Werte zum Ausdruck zu bringen und Menschen darin zu verbinden. Die neuen Formen von Vernetzung könnten so von innen belebt und mit Bewusstsein gefüllt werden. Strukturen wie das Web3 könnten zur äußeren, technologischen Form eines neuen, gemeinschaftlichen Bewusstseins werden und es sogar verstärken. Aber nur, wenn wir sie so gestalten.