Gewaltlosigkeit, Heilung, Transformation

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

July 17, 2023

Mit:
Sami Awad
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AUSGABE:
Ausgabe 39 / 2023
|
July 2023
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Ein palästinensisches Friedensprojekt

Mit dem Holy Land Trust erprobt Sami Awad mit seinem Team seit mehr als 30 Jahren neue Wege der Verständigung zwischen Palästinensern und Israelis, um zu einem nachhaltigen Frieden zu finden.

evolve: Du arbeitest seit 30 Jahren an der Lösung eines Konflikts, der Frieden unmöglich macht. Diesen Konflikt zu befrieden, wäre eine Inspiration für die ganze Welt. Wie versucht ihr in dieser verfahrenen Situation, Impulse des Friedens zu setzen?

Sami Awad: Der Holy Land Trust ist eine palästinensische Nonprofit-Organisation und unser Slogan lautet: »Wir stärken Gemeinschaften für die Zukunft«. Wir glauben, dass letztendlich nur die Gemeinschaften dieses Landes einen bleibenden Frieden gestalten können. Unser Engagement hat drei Ebenen. Die erste ist ein absolutes Bekenntnis zur Gewaltlosigkeit. Wir glauben, dass das Unrecht, die Marginalisierung und die Besetzung, die wir als Palästinenser erleben, nur in einem gewaltlosen Widerstand überwunden werden können. Dazu gehört die Stärkung der lokalen Gemeinden, für ihre Rechte einzustehen, und gleichzeitig das Aufdecken des Kreislaufs der Gewalt.

»Heute ist Angst zu einer globalen Epidemie geworden.«

Die zweite Ebene ist Heilung. Wir glauben, dass die Motive und Identifikationen der Konfliktparteien aus historischen Traumata stammen. In Bezug auf die jüdisch-israelische Bevölkerung bedeutet es die volle Anerkennung der Leiden von Juden im Holocaust. Dieses Ereignis hat für immer verändert, was es bedeutet, ein Jude zu sein. Denn wenn die Juden das meistgehasste Volk der Erde sind, dann ist der einzige Weg, sich selbst zu erhalten, ein Misstrauen gegenüber potenziellen Feinden.

Auf der palästinensischen Seite gibt es die Katastrophe von 1948, bei der 75 Prozent der Bevölkerung zu Flüchtlingen und über 400 Gemeinden zerstört wurden. Wir haben uns nie davon erholt und es prägt die Suche nach unserer Identität. Wir müssen die Auswirkungen dieses kollektiven Traumas und wie es unsere Identitäten auf beiden Seiten formt verstehen.

Die dritte Ebene unseres Engagements befindet sich im Feld der Transformation unseres Denkens, unserer Sichtweisen, Entscheidungen und Möglichkeiten. Die meisten Palästinenser und Israelis würden sagen, dass Frieden in diesem Land unmöglich ist. Unsere Erkenntnisse kommen aus unseren früheren Erfahrungen und deren Interpretation, sowohl individuell als auch kollektiv bei unseren Politikern. Deshalb verwenden wir eine Methode, die als »nicht-lineares Denken« bezeichnet wird. In diesem transformativen Prozess wird den Teilnehmern bewusst, wie ihre Sicht der Gegenwart durch die Vergangenheit beeinflusst wird. Dadurch haben wir eine Wahlmöglichkeit: Will ich, dass die Vergangenheit weiterhin meine Motivation für die Zukunft beeinflusst, oder kann ich mich dafür entscheiden, mich auf die Zukunft zu konzentrieren, die ich gestalten will?

e: Du sagst, dass eure Arbeit die Gemeinschaften stärken soll. Was bedeutet das praktisch für dich?

SaA: Die Basis unserer Arbeit ist, Beziehungen aufzubauen, die von Vertrauen und Respekt getragen sind. Wenn ich stark genug bin, dir zu vertrauen und dich zu respektieren, und du stark genug bist, um die gleichen Gefühle mir gegenüber zu haben, dann können wir gemeinsam weitergehen. Wenn Menschen eine Vision und eine Strategie haben, engagieren sie sich gewaltlos; wenn Menschen vom Trauma geheilt sind, sind sie gestärkt. Wenn die körperliche, emotionale und spirituelle Heilung möglich wird, sind die Menschen frei. Wenn wir frei sind, können wir uns selbstverantwortlich um uns selbst, unsere Familie und unsere Gemeinschaft kümmern.

Mit dieser Vision engagieren wir uns in Workshops, Seminaren, Treffen in verschiedenen Gruppen, die gewöhnlich sehr geteilte Sichtweisen vertreten. Es geht nicht darum, Friedensinitiativen zusammenzubringen, wir bringen Leute zusammen, die nicht an diesen fortlaufenden Friedensprozess glauben, auch extremistische religiöse Führer auf beiden Seiten. Viele Menschen, die den Friedensprozess ablehnen, sind nicht gegen den Frieden. Sie weisen einen Friedensprozess zurück, der ihre Bedürfnisse oder ihr Verständnis von Frieden nicht berücksichtigt. Wir möchten dafür sorgen, dass ihre Stimmen gehört werden.

e: Welche Wirkungen siehst du bei dieser tieferen dialogischen und transformatorischen Arbeit?

SaA: Die sehe ich zum Beispiel in den Trauma-­Workshops, die wir mit Israelis und Palästinensern veranstalten. Es ist verblüffend zu sehen, wie tief sie in die Heilung ihrer historischen Wunden gehen und beginnen, sich und die anderen differenziert zu sehen. Die Freundschaften und Verbindungen, die nach den Workshops entstehen, sind sehr intensiv, weil wir auch vor den wunden Punkten nicht zurückschrecken. Die Tränen und die Frustrationen kommen heraus, es geht nicht darum, nett zueinander zu sein, sondern die wirklichen Pro­bleme anzusprechen.

Wir sehen Ergebnisse, die sich auf einer kleinen Skala bewegen. Letzten Endes geht es um die Anhebung der Bewusstheit. Vielen Menschen wird bewusst, was sie im Inneren motiviert, und umso mehr haben sie den Zugang zu einer Wahlmöglichkeit. Allein wenn ich die Erwartungsmuster aufbreche, entsteht eine Transformation.

e: Siehst du eure Arbeit auch als bedeutsam oder beispielhaft für andere lang bestehende Konflikte?

SaA: In jedem Konflikt geht es im Kern um Befreiung, um eine Bewegung heraus aus der Angst und hinein in die Liebe. Im Grunde ist es das, wofür wir arbeiten. Heute ist Angst zu einer globalen Epidemie geworden, und sie ist der wichtigste Motivator für menschliches Verhalten. Angst begrenzt uns als Menschen darin, wie wir auf dieser Erde zusammenleben. Denn wenn ich Angst habe, richte ich Mauern auf, um mich zu schützen.

Wir brauchen also eine globale Bewegung, die Spiritualität und Aktivismus zusammenbringt. Viele Menschen werden spirituell, aber sie isolieren sich von den Problemen der Welt. Viele Aktivisten sind wütend und voll von politischen Ressentiments, ihr Geist verödet, weil sie durch ihren Hass auf das System motiviert sind. Das ist der Grund, warum wir eine neue Bewegung gründen müssen, die in Liebe eingebettet ist, welche die Ressourcen und die Natur des Menschen ebenso ehrt wie die Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit. ■

Das Gespräch führte Mike Kauschke für die Ausgabe 27/2020.

Author:
Mike Kauschke
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