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Kolumne
Publiziert am:

July 18, 2022

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Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Neue Wege, das Heilige ins Gespräch zu bringen

Das Gespräch über die tieferen Grundlagen unserer Gesellschaft geht oft unter in den vielen Nachrichten über die globalen Ereignisse und Sorgen über die Folgen unserer vielfältigen Krisen. Wie können wir existenzielle Fragen des Heiligen in einen offenen Diskurs einbringen? Und warum ist das wichtig? Wir haben fünf Menschen, die sich mit lebensnaher, gesellschaftsverändernder Spiritualität beschäftigen, gefragt:

Braucht das Heilige einen Platz in unserem öffentlichen Raum?

Ursula Seghezzi, Religionswissenschaftlerin und Naturritualleiterin und Leiterin des uma institut.

Meine Antwort ist einfach: ja, dringender denn je! An unserem uma institut forschen, erproben und unterrichten wir seit 20 Jahren, wie gesellschaftliche Transformation wirklich funktionieren könnte. Die Ursache für die heutige Misere liegt in zweierlei Trennungen. Das eine ist die Abtrennung von der Natur bis hin zu einer »Naturvergessenheit«. Transformation kann daher nur gelingen, wenn wir uns auf innige, freundschaftliche Weise neu mit der Natur und allen Wesen verbinden. Die dringend notwendigen neuen Ideen tauchen dann in Co-Kreation mit der Natur auf, schenken Lebendigkeit und machen uns freier vom eingeübten Konsum.

Das andere ist die Abtrennung vom Spirituellen bis hin zu einer »Heiligenvergessenheit«. Wirklich neue Ideen tauchen ja nur aus einem radikal offenen Raum aus, in dem sich das Ego in ein mehr-als-menschliches Bewusstsein weitet. Die Kombination davon ist »Naturmystik« und schon lange mein eigener spiritueller Weg. Es ist eine Heiligkeit, die sehr geerdet ist, kein Glaubensgebäude verlangt und auf der natürlichen Erfahrung des Eingebettet-Seins des Menschen in das große Gewebe des Lebens basiert.

Diese »Heiligkeit« ist für viele moderne Menschen sehr einfach nachvollziehbar und entspricht ihrer Sehnsucht nach Tiefe. Immer öfter wirke ich darum als »spirituelle Begleiterin gesellschaftlicher Transformationsprozesse«. So kommen das Heilige und die Kraft der Naturrituale mehr und mehr in den öffentlichen Raum und zu Akteur*innen des Wandels.

Alexander Poraj,Religionswissenschaftler, Zen-Meister und spiritueller Leiter des Benediktushofes Holzkirchen.

Die Bezeichnung »heilig« weist ursprünglich eben nicht auf eine den Alltag übersteigende Besonderheit oder gar auf eine metaphysische Präsenz eines alles überragenden Wesens hin. Heil bedeutet ganz. Ganz wiederum deutet darauf hin, dass entgegen unseren vorschnellen Eindrücken und Deutungen die Wirklichkeit nicht aus einzeln existierenden Wesen oder Dingen zusammengesetzt ist. Nein, etwas anderes scheint der Fall zu sein, nämlich: Nichts existiert aus sich heraus, ist getrennt, hat Substanz oder wäre von Dauer. Das bedeutet wiederum, dass das, was wir Leben oder Wirklichkeit nennen, wortwörtlich alle unsere gängigen Vorstellungen über den Haufen wirft. Und genau auf solch einer Vorstellung basiert der Wunsch, das »Heilige« im Sinne eines »Sacrum« als etwas Besonderes, d. h. in der Regel als von der täglichen Wirklichkeit irgendwie Abgetrenntes, zu betrachten, um ihm dann irgendeinen – wiederum »besonderen«, mithin von uns abgetrennten – Ort zuzuweisen. Tempel, Kathedralen und »heilige« Orte aller Art, wie auch Besinnungsmomente, Zeiten für Meditationen und Stille gab und gibt es genug. Aber vielleicht waren und sind sie immer noch eher der Ausdruck von Trennung des Lebendigen als von seiner Ganzheit?

Deswegen plädiere ich dafür, sich der Beschaffenheit der Wirklichkeit bewusst zu werden. Das wäre als erster Schritt mehr als genug. Wir würden dann aus unseren falschen Annahmen über die Wirklichkeit aufwachen und erfahren, wie wunder-voll, voll-kommen, un-trennbar und in diesem Sinne heilig sie immer schon ist und das auch in Momenten, die uns gar nicht als solche vorkommen.

Markus Stockhausen, Trompeter und Komponist.

Das Heilige ist vielfach verloren gegangen aus dem Bewusstsein der Menschen. Sie spüren da nichts, keine Sehnsucht, keine Verbindung zur Quelle allen Lebens. Dabei ist das Heilige in allem anwesend, vor allem in uns selbst. Das ist nach wie vor der bedeutendste Raum, der innere Tempel des Heiligen. Wenn Augen liebend leuchten …

Das Heilige schwingt auch in den Künsten, und vor allem in der Musik kann es erfahrbar werden. Wie auch in der Natur, die da, wo sie noch intakt ist, pralle Lebenskraft ausstrahlt und uns seelisch nähren und aufbauen kann. Und im »Du«, in der tiefen menschlichen Begegnung.

Noch stehen in den meisten Städten Kirchen, viele Gemeinden sind aktiv und öffnen sich für einen breiten gesellschaftlichen und kulturellen Dialog. Dieser »Platz« für das Heilige sollte solange wie möglich erhalten werden. Denn diese Räume strahlen oft Schönheit, Stille und Geborgenheit aus. Sie erinnern uns an die göttliche Dimension. Hunderte wunderbare Konzerte durfte ich in Kirchen spielen, und ich hoffe, dass das weiterhin möglich sein wird. Aber eine Abnahme der Anziehungskraft der institutionalisierten Religionen ist nicht zu leugnen.

Das echte Heilige ist eher verborgen, mystisch. Es offenbart sich geheimnisvoll in vielfältiger Gestalt, auch in ganz alltäglichen Situationen. Von daher braucht es keine neuen Denkmäler, sondern vom Heiligen durchdrungene, Gott-bewusste, freie Menschen. Werden wir zu dem, dann begegnet es uns überall.

Das ist die Möglichkeit unserer neuen Zeit. Die Wege wurden uns in allen Kulturen gewiesen, aber gehen müssen wir sie selbst. Lehren wir unsere Kinder die Ehrfurcht vor dem Leben, lassen wir sie das Schöne, Wahre und Gute erfahren. Geben wir ihnen Auszeiten von den digitalen Medien, damit sie das Leben mit allen Sinnen er-leben, sie offen sind dem Heiligen zu begegnen.

Jonathan Pageau, Ikonenmaler und christlich-orthodoxer Theologe.

Ich glaube, dass das Heilige notwendig ist, damit öffentliche Räume ihre Existenzberechtigung behalten. Heilige Räume verankern unsere Ideale und gemeinsamen Werte, erinnern uns an die Gründe, warum wir zusammen existieren, und verkörpern gleichzeitig unsere Fähigkeit, dies zu tun. Werden sie entfernt, führt dies zur Fragmentierung. Mit dem langsamen Verschwinden der Kirchen haben wir erlebt, wie der öffentliche Raum von einer Sphäre der Gemeinschaftlichkeit zur Sphäre der individuellen Freizeit erodiert ist, und selbst die Stadtzentren sind Einkaufszentren gewichen. Unsere verbliebenen öffentlichen Räume, wie Parks und Freizeiteinrichtungen, sind nicht mehr Orte des Feierns und der gemeinsamen Identität, sondern lediglich Orte des Zusammenlebens und der Freizeit.

Mit der fortschreitenden Zersplitterung werden auch diese letzten öffentlichen Orte erodieren, denn das Fehlen von Gemeinsamkeiten fördert Angst, Misstrauen und willkürliche Gewalt. Das Problem ist natürlich, dass das Heilige nicht hergestellt und improvisiert werden kann. Der Versuch, dies mit säkularen Idealen und einer fortschrittlichen Denkweise zu tun, wird ideologische Parodien des Heiligen hervorbringen, die Feindseligkeit und Unruhen verstärken. Schützt, pflegt und engagiert euch an den heiligen Orten, die uns geblieben sind. Betet Gott an, feiert eure Geschichte und liebt eure Familie. Euer Zuhause kann immer noch ein heiliger Ort sein, wenn ihr es heiligt.

Jonathan Pageau, Ikonenmaler und christlich-orthodoxer Theologe.

Dr. Gail Bradbrook, Biophysikerin, Umweltaktivistin, Mitgründerin von Extinction Rebellion.

Ja, auf jeden Fall! Natürlich ohne irgendwelche Dogmen oder die Festlegung auf eine bestimmte Form ist das Heilige für viele von uns eine gefühlte Erfahrung und nach meinem Verständnis ein Kernbestandteil unseres Menschseins. Wir müssen darauf achten, wie wir Menschen einladen, an dieser Tiefe teilzuhaben, sie zu erfahren. Dabei ist es wichtig, eine Sprache zu verwenden, die nicht ausschließt.

Zusammen mit meiner Kollegin Skeena Rathor und als Teil unserer Arbeit von XR Being the Change schreiben wir einen Eid im Dienste des Lebens, der ein Open-Source-Format haben wird, um eine umfassende Pluralität im Ausdruck zu unterstützen (viele Arten des Wissens und des Seins). Wir stellen uns das als Teil unserer Absicht vor, das dominante Paradigma der Dominanz zu überwinden. Wir stellen uns vor, dass es sich um einen Eid handelt, der öffentlich abgelegt wird, da wir das Gefühl haben, dass diese Zeit unseren öffentlichen Ausdruck des Heiligen, des Dienstes am Leben und des lebenslangen Engagements braucht.

Author:
Ursula Seghezzi
Author:
Dr. Alexander Poraj
Author:
Markus Stockhausen
Author:
Jonathan Pageau
Author:
Gail Bradbrook
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