Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
July 18, 2022
»Immer mehr Menschen verlassen die Kirchen.« Das ist mittlerweile ein langweilig alter Satz. Und gleichzeitig sind viele auf der Suche nach neuen Formen des Gottesdienstes. Das »Wild Church Network« trägt den gemeinschaftlichen Gottesdienst in die Natur. Wir sprachen mit der Gründerin Victoria Loorz über die Begegnung mit dem Heiligen in der Wildnis und warum das für die Zukunft der Religion und unsere Gesellschaft bedeutsam ist.
evolve: Was hat Sie dazu bewogen, die christliche Spiritualität um die Verehrung der Natur und die Erfahrung des Heiligen in der Wildnis zu erweitern?
Victoria Loorz: Unser Impuls kam aus einem mystischen Christentum, das Gott in allen Dingen findet, aber weiterhin in der christlichen Tradition verankert ist. Wir möchten spirituelle Praktiken entwickeln, die uns wieder mit dem Heiligen verbinden, das allen Dingen und insbesondere der lebendigen Natur innewohnt.
Ich habe viele Jahre lang mit Jugendlichen in der Klimaschutzbewegung gearbeitet. Und ich bin seit 30 Jahren in der Kirche. In beiden Bereichen, also auch in der Umweltbewegung, beobachte ich eine anhaltende Entheiligung der Beziehung zur Erde. Wir schätzen die Natur, wir kümmern uns um sie, wir schützen Wiesen und pflanzen Bäume. Aber es besteht immer noch eine Angst davor, unsere Spiritualität darin zu integrieren. Tief in unserem Bewusstsein gibt es ein Gefühl der Trennung. Aber wir können nicht wissen, wer wir als Menschen sind, wenn wir uns von unserem Platz innerhalb des lebendigen Ganzen abgeschnitten fühlen.
Ich möchte eine Theologie formulieren, in der es nicht um Herrschaft über die Natur, sondern um Verantwortung für die natürliche Welt geht. Darin können wir unseren Platz in der Natur als Teil eines zutiefst integrierten, miteinander verbundenen Systems des Lebens finden. Diese Verbindung existiert nicht nur physisch über die Nahrung, das Wasser und die Luft, die wir miteinander teilen, sondern auch emotional und spirituell.
Leben ist Beziehung
e: Viele Menschen leben ihre Spiritualität individuell. Sie folgen einem spirituellen Weg, machen Yoga, meditieren oder üben andere Praktiken. Kirche bedeutet, dass sich eine Gemeinschaft oder eine Gruppe von Menschen versammelt, um dem Heiligen zu begegnen, um es zu einem lebendigen Teil eines sozialen Gefüges oder eines Gemeinsinns zu machen. Welche Bedeutung hat diese Gemeinschaftlichkeit?
VL: Ich gehe jeden Tag in den Wald. Momentan habe ich mich für einen Monat in die Hütte eines Freundes im Wald zurückgezogen, weil ich das Bedürfnis hatte, selbst mehr in die Natur einzutauchen. Aber es ist etwas Besonderes, einen gemeinsamen Raum so zu gestalten, wie es in den Gottesdiensten der Wild Church oft geschieht.
Unsere Treffen sind dadurch geprägt, dass wir uns alle in der Natur treffen. Das kann auch ein Park sein. Zu Beginn sitzen wir in einem Kreis. Wir erzählen Geschichten, singen, in einigen der Wild Churches wird getrommelt – eine Praxis, um uns zu zentrieren und diesen heiligen Raum zu schaffen. Alles ist immer heilig, aber es liegt etwas Besonderes darin, das Göttliche oder eine spirituelle Präsenz anzurufen. Dadurch kann sich ein heiliger Raum öffnen. Dies mündet dann in einer Einladung, den Kreis für 45 Minuten zu verlassen. Jeder überschreitet die Schwelle des Kreises und geht durch den Park oder in die Natur hinaus. Dabei lässt man sich von einem lebendigen Wesen, einem Fluss, einem Baum oder einer Heuschrecke anziehen und beginnt ein Gespräch.
¬ WIR KÖNNEN NICHT WISSEN, WER WIR ALS MENSCHEN SIND, WENN WIR VON UNSEREM PLATZ INNERHALB DES LEBENDIGEN GANZEN ABGESCHNITTEN SIND. ¬
Normalerweise bleibe ich im Kreis zurück, halte den Raum und führe mein eigenes Gespräch in diesem Raum. Wenn wir uns wieder alle im Kreis versammeln, teilt jeder seine Erfahrungen mit. Diesen Raum zu halten und einander zuzuhören, vertieft die eigene Erfahrung. Man erkennt, dass es nicht nur ein Gespräch mit dem Fluss oder dem Baum war, sondern ein heiliges Gespräch.
Unser Gottesdienst basiert auf der Idee des Gesprächs. Auf diese Weise erneuern wir das Verständnis von Gottesdienst. Selbst als ich noch Pastorin war, habe ich mich dagegen gewehrt, »die professionelle Christin« zu sein, die anderen sagt, was sie zu tun oder zu denken haben. Das gefällt mir nicht, denn darin fehlt das Gespräch.
Ein großes Aha-Erlebnis war für mich, als ich die Bedeutung des Wortes »Gespräch« im Neuen Testament besser verstand. Es gibt einen Hymnus am Anfang des Johannes-Evangeliums, den die meisten Menschen kennen, selbst wenn sie keine Christen sind: »Am Anfang war das Wort und das Wort war bei Gott und das Wort war Gott.« Bei meinen Nachforschungen habe ich herausgefunden, dass der Begriff, der mit »Wort« übersetzt wurde, eigentlich »Gespräch« bedeutet. Bis zum vierten Jahrhundert übersetzten alle, auch Augustinus, dieses Wort mit »Gespräch« ins Lateinische. Als Konstantin das Christentum zur Staatskirche ernannte, setzten sich die Bischöfe zusammen und trafen die bewusste, politische Entscheidung, den Begriff in »Wort« zu ändern, weil sie Konstantin als alleinigen Herrscher etablieren wollten: Es gibt nur einen Weg, und wir sagen allen anderen, dass wir im Besitz der Wahrheit, des Wortes sind. Es gibt kein Gespräch. So begann man, jeden auszuschließen, der eine abweichende Meinung hatte – und das wurde zum Muster der Kirche.
Wir müssen dieses Verständnis des Im-Gespräch-Seins wiederherstellen, denn das ist das Zentrum des Lebens, wie es auch die Quantenphysiker und andere Wissenschaftler erkannt haben. Leben ist kein Substantiv, sondern ein Verb, es ist eine Beziehungswirklichkeit, die oft als Gespräch bezeichnet wird – als dem Träger dieser Beziehung.
Unser Gottesdienst basiert auf dem Gespräch. Am Anfang war das Gespräch. Und das Gespräch war Gott. Dieses Gespräch ist die Gegenwart des Heiligen. Es geht nicht nur darum, dass der Baum heilig ist und dass ich heilig bin, sondern das Gespräch dazwischen ist die Präsenz des Heiligen.
Die Verbindung wiederherstellen
e: Worin sehen Sie die Bedeutung dieser Praxis für die Kultur, in der wir leben? Das Heilige ist ein Wort, über das man in bestimmten Kreisen sprechen kann, und es hat verschiedene Bedeutungen. Aber in der Kultur generell halten die Menschen eher Abstand zu diesem Wort. Jeder kann seine eigene Religion haben, solange es Privatsache ist. Aber es nimmt keinen bedeutenden Stellenwert in unserer Kultur ein. Wenn Sie darüber sprechen, dass das Gespräch die Begegnung mit dem Heiligen ist, geben Sie ihm eine andere Bedeutung. Können wir das Heilige wieder als etwas erlebbar machen, das im gesellschaftlichen Gespräch neue Relevanz findet?
VL: Ich sehe unser Netzwerk als Teil einer Reformation nicht nur der Kirche, sondern auch unserer Kultur. Wir haben uns vom Rest der natürlichen Welt als etwas Heiligem abgeschnitten. Und in diesem Prozess des Wieder-Zusammenfügens müssen wir das Heilige neu definieren. Das Wort »heilig« könnte für einige zu provozierend sein. Vielleicht müssen wir andere Worte finden.
Für mich ist es hilfreich, auf die etymologischen Wurzeln der Wörter zurückzugreifen. Das Wort Religion bedeutet zum Beispiel religio, Rückbindung. Doch Religion hat sich in das genaue Gegenteil verwandelt, sie ist häufig zu einer trennenden Kraft geworden. Heute brauchen wir Praktiken, um uns wieder mit uns selbst, miteinander und mit dem Rest der Welt zu verbinden. Ob wir diese Rückbindung als heilig bezeichnen, ist eine andere Frage. Ich sehe einen gewissen Wert darin, zu einer Art von heiliger Sprache zurückzukehren, um unser ganzes Menschsein zu umfassen.
e: Was ist Ihr Eindruck von den Menschen, die zu Ihnen in das Netzwerk der Wild Church kommen? Wonach suchen sie und was bringt sie dazu, dem Heiligen gemeinsam in der Wildnis zu begegnen?
VL: Als ich mein Buch schrieb, dachte ich zunächst, dass es niemanden ansprechen würde, weil es zu christlich für Nicht-Christen und zu unchristlich für Christen ist. Aber in Wirklichkeit empfinden viele Menschen, dass etwas fehlt. Sie nehmen die Klimakatastrophe, die ökologische Katastrophe wahr. Sie wachen auf und spüren, dass da etwas nicht stimmt. Ich begegne Menschen innerhalb der Kirche, die sagen: »Ich kann diese institutionelle Kirche nicht mehr mitmachen, sie ist so abgeschnitten von meinem numinosen Empfinden in der Natur.«
¬ DAS GESPRÄCH IST DIE GEGENWART DES HEILIGEN. ¬
Im Rahmen einer soziologischen Untersuchung wurden Menschen gefragt: »Wo empfinden Sie das Numinose – man könnte sagen, die Präsenz des Heiligen – am intensivsten?« Und 75 Prozent der befragten Menschen ohne kirchliche Verbindung sagen, es sei in der Natur. Das Interessante ist, dass 74 Prozent der Menschen, die mit der Kirche verbunden sind, ebenfalls sagen, dass sie es in der Natur erleben. Diese Erfahrung existiert also, wir haben nur nicht die Sprache und die kulturelle, religiöse oder persönliche Erlaubnis, sie zu benennen.
Durch mein Buch, das »Wild Church Network«, das Projekt »Seminary of the Wild« und das »Center for Wild Spirituality« sprechen wir etwas an, das in den Menschen bereits vorhanden ist. Die Menschen haben unterschiedliche Zugänge dazu, aber in der Regel erinnern sie sich daran, dass diese natürliche Verbindung in ihrer Kindheit vorhanden war und dann systematisch und schrittweise verloren ging. Sie wollen diese Verbindung wiederherstellen. In der jüngeren Generation gibt es bei vielen eine tiefere Verbindung mit der Natur durch Ansätze wie die Permakultur, die neue Formen der Verbundenheit mit der natürlichen Welt eröffnen. Und sie finden dafür ihre eigene spirituelle Sprache, die unseren Beziehungen eine neue Grundlage gibt.
Ich feierte einen Wild-Church-Gottesdienst mit 15 Menschen, darunter einige Landwirte mit einem evangelikal-konservativen christlichen Hintergrund, andere wiederum waren Biolandwirte. Zudem war ein Mann dabei, der sehr atheistisch und antichristlich eingestellt ist, und auch ein jüdisches Paar. Dann waren da noch einige New-Age-Leute und einige, die schon länger zur Wild Church kamen. Sie kamen aus dem Mainstream-Christentum, hatten diese Strömung aber verlassen. Es war also eine wirklich interessante Gruppe, und ich hatte ein bisschen Angst, wie es wohl werden würde.
Aber es war unglaublich. Sie kehrten von ihrer Wanderung zurück und jede und jeder von ihnen benutzte die Sprache, die ihr oder ihm jeweils eigen war. Vielleicht hatte geholfen, dass ich zu Beginn eine Sprache benutzt hatte, die besagte: »In meiner Tradition hat das Wort ›heilig‹ diese Bedeutung und dies ist meine Geschichte. Das heißt nicht, dass ihr euch meiner Tradition anschließen müsst, ich bekenne mich nur zu meiner eigenen Wurzel.« Das gab jedem die Erlaubnis, seine Erfahrungen in seiner Sprache zu teilen. Und dadurch konnten wir unsere gemeinsame Basis finden. Es spielte keine Rolle, welche Art von Sprache die einzelnen Personen benutzten. Wir alle verstanden, hörten zu und schätzten, was die anderen auf ihre Art und Weise zum Ausdruck brachten. Das schuf eine gemeinsame Grundlage für uns alle.
Heilige Bindung
e: Hat die Wild-Church-Erfahrung Ihrer Beobachtung nach weitere Auswirkungen auf den Lebensstil der Menschen?
VL: Eine Forscherin der Universität Boston untersucht seit fünf Jahren die Wild-Church-Bewegung. Eine ihrer Fragen lautet: »Hat die Wiederherstellung der Beziehung zur Natur als etwas Heiligem einen Einfluss auf Ihren ökologischen Lebensstil?« Und sie stellt fest, dass dies der Fall ist. Es hat nicht nur Auswirkungen auf die Art und Weise, wie man sich um einen Ort kümmert, wie man die Bäume beschneidet, wie man sicherstellt, dass keine Schädlinge überhandnehmen.
Darüber hinaus entwickeln die Menschen eine Liebe zum eigenen natürlichen Umfeld. Und wenn sich diese Liebe entwickelt, werden die Bäume zu Mitgliedern der eigenen Familie. Und das hat wiederum Auswirkungen auf unsere eigene Psyche, unsere Seele und unseren Geist. Denn solange unsere Spiritualität vom Rest der natürlichen Welt abgeschnitten ist, sind wir von einem Teil dessen, was wir sind, getrennt. Und genauso, wie wir erfahren, wer wir sind, weil uns andere Menschen spiegeln, erfahren wir auch, wer wir sind, weil der Wald und der Nachthimmel uns spiegeln, denn wir gehören zu diesem größeren Organismus.
In meinem Buch schreibe ich über meine nicht-menschlichen Freunde: die Schwarzwedelhirsche, die mich in ihr Leben eingeladen haben. Eine bestimmte Hirschmutter lässt ihre Kitze in meinem Garten zurück, damit ich auf sie aufpassen kann, während sie anderswo grast. Sie haben mich viel über Elternschaft, Verlust, Liebe und Treue gelehrt. Sie betrachten mich mit Respekt, Neugier und Vertrauen. Ich versuche, ihnen im Gegenzug Zärtlichkeit zu schenken. Robin Wall Kimmerer schreibt in ihrem Buch »Geflochtenes Süßgras«, dass uns solche Beziehungen von einer wilden Begegnung zu einer heiligen Bindung führen. Über diese Begegnung bin ich immer noch voller Ehrfurcht. Das Gespräch zwischen uns ist für mich die unmittelbare Gegenwart des Heiligen, des Christus, des heiligen Gesprächs zwischen uns.
e: Sie sprachen von einer gemeinsamen Grundlage in dem Wild-Church-Gottesdienst mit Menschen, die aus unterschiedlichen Traditionen und Weltanschauungen kommen. Sehen Sie darin auch eine Relevanz, um Gespräche in einer oft sehr polarisierten Gesellschaft zu ermöglichen?
VL: Der Weg durch diese polarisierende gesellschaftliche Realität ist das Gespräch. Aber jeder Versuch, diese Gespräche zu direkt und zu politisch zu führen, bringt wenig. Häufig macht es die Dinge nur noch schlimmer. Die Frage ist also, wie wir Gelegenheiten für Gespräche schaffen können, in denen sich etwas Grundlegendes zeigen kann, sodass wir einander zuhören.
In der von mir erwähnten Studie wird auch eine Frage zum Gemeinschaftsgefühl gestellt. Die Wissenschaftlerin stellte fest, dass viele Befragte den Eindruck hatten, dass die Wild-Church-Praxis die Gemeinschaft in einer Weise fördert, wie es in den konventionellen Kirchen und in anderen Erfahrungen nicht der Fall ist. Es stellt sich heute die dringende Frage: Wie finden wir Wege, um in tiefere Gespräche einzutreten und einander als heilig und würdig wahrzunehmen? Wie laden wir zu solchen Begegnungen ein, die davon leben, dass das Heilige in allen Menschen anwesend ist? Menschen in die Wild Church einzuladen, ist ein solcher Weg.
Und selbst kleine Gesten können eine große Wirkung entfalten. Als ich in Washington war, initiierte die Regierung ein Baumpflanzprojekt. Interessierte erhielten eine kleine Einführung darin, wie man einen Baum pflanzt. Und dann kamen 300 Menschen, um beim Pflanzen der Bäume in einem abgeholzten Gebiet zu helfen. Die Unterstützung, die wir anboten, war sehr einfach: »Bevor du den Baum pflanzt, nimm dir einen Moment Zeit, um den Baum zu segnen.« Wir sagten nicht, wie man einen Baum segnet, welche Worte man benutzen sollte oder was das Wort »heilig« meint oder was Segen überhaupt bedeutet. Aber jeder und jede wusste es. Sie sagten also Worte wie: »Kleiner Baum, mögest du wachsen und alle Nährstoffe und so viel Sonne finden, wie du brauchst, und mögest du stark werden. Ich segne dich.« Wenn man das tut, wird man sich auch in Zukunft um den Baum kümmern. Man wird den Ort mit seinen Kindern aufsuchen und erzählen: »Seht euch den Baum an, den wir gepflanzt haben.« Wir vertiefen unsere Beziehungsfähigkeit. Und Beziehungsfähigkeit ist ein anderes Wort für das Heilige.
Die einzige Stelle in den hebräischen Schriften des Alten Testaments, in denen Gott sich selbst identifiziert, ist der Satz, den wir mit »Ich bin, der ich bin« übersetzen. Aber das ist nicht die eigentliche Aussage dieses Satzes. Es ist kein Substantiv, es ist ein Verb und es bedeutet: »werden, was wird«. Es ist eine Beziehungswirklichkeit, die evolutionäre Wirklichkeit des Lebens. Das ist das Heilige.
Und mit jedem Schritt, den wir in Richtung einer neuen Heiligung unserer Beziehung zum Rest der natürlichen Welt und unserer Beziehung miteinander als verbundene Wesen machen, nähern wir uns einer Weltsicht der tiefen Verbundenheit, die der Zen-Meister Thich Nhat Hanh als die »Allverwobenheit des Interseins« bezeichnete.