»Gute Musik kommt aus tiefster Seele«

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

January 21, 2016

Mit:
Patrice Babatunde Bart-Williams
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AUSGABE:
Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
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Ein Interview mit Patrice

Patrice Babatunde Bart-Williams alias Patrice, veröffentlichte mit 17 Jahren seine erste Platte und hat seitdem mehrere erfolgreiche Alben und Singles produziert. Mit seiner Mischung aus Hip-Hop, Reggae, Rock und Soul ist er vor allem auch ein bekannter Live-Act. Wir sprachen mit Patrice über Musik, Spiritualität und was es heute heißt, ein Global Citizen zu sein.

evolve: In deinem Song »Boxes« singst du: »Let’s get out these boxes«. Du selbst bist auch jemand, der Grenzen und enge Definitionen überschreitet. Dein Vater kommt aus Sierra Leone, deine Mutter aus Deutschland, heute lebst du in Köln, Paris, New York, und in deiner Musik schöpfst du aus Reggae, Rock, Soul, Hip-Hop und vielem mehr. Was bedeutet es für dich, Grenzen zu überschreiten?

Patrice: Ich bin mit verschiedenen Kulturen aufgewachsen, das gab mir die Möglichkeit, von verschiedenen Perspektiven aus auf die Dinge zu schauen. Wir denken häufig in Schubladen, aber ich bin der Ansicht, dass das viel zu grob ansetzt. Die Welt ist nicht schwarz und weiß. Mir geht es darum, die Dinge so ehrlich und scharf wie möglich zu sehen und dabei helfen Schubladen einfach nicht, weil das alles zu krass vereinfacht.

Auch in meiner Musik will ich keiner bestimmten Kategorie gerecht werden, ich tobe mich in verschiedenen Bereichen aus. Und jeder Song will etwas anderes. Es gibt Songs, die wollen einfach nur mit einer akustischen Gitarre gespielt werden und klingen dann mehr nach Folk. Und andere Songs brauchen mehr Instrumente und einen volleren Klang. Das hängt von der Idee ab und wie sie sich anfühlt.

Aber mir ist das Verbindende wichtiger als die Unterschiede. In der Musik ist es meine Inspiration. Aber auch im Leben suche ich nach diesem Gemeinsamen. Ich bin zwar in verschiedenen Kulturen aufgewachsen und wurde auch oft als anders wahrgenommen, aber ich habe immer versucht, in den zwei sehr unterschiedlichen Kulturen den gemeinsamen Nenner zu finden, oder die Dinge zu finden, die in beiden Welten gültig, wahr und richtig sind. Und darauf habe ich letztendlich meine eigene Identität und Kultur aufgebaut. Somit passt dieses Boxen-Ding einfach nicht zu meiner Philosophie.

Songs haben ein Wesen

e: Wie entstehen deine Songs?

P: Ich versuche, nicht in Routinemuster zu verfallen, sondern ich will ehrlich bleiben. Wenn es Routine wird, kann ich es nicht mehr so ehrlich rüberbringen, weil ich dann eine Kopie von mir selbst bin. Ich versuche immer wieder, mit Mustern zu brechen. Oder mit kindlichem Enthusiasmus etwas Neues zu entwickeln und von dem, was entsteht, überrascht zu sein.

Songs haben ein Wesen. Der Song schreibt sich selbst und geht in eine bestimmte Richtung und nimmt dich mit. Jeder Song ist wie ein nackter Mensch, den du anziehst. Es liegt an dir, wie du ihn anziehst und wie er den Leuten erscheint. Aber diese Hülle macht nicht das Wesen eines Songs aus. Du kannst »No Woman, No Cry« von Bob Marley auch als Rocksong spielen oder als Hip-Hop-Nummer. Aber egal wie du den Song »anziehst«, am Ende kommt es auf das Wesen selbst an. Und wenn ich Musik schreibe, ist es so, dass jeder Song, jedes Wesen einen gewissen Style verlangt. Die Richtung ist irgendwie klar.

Interessant ist das auch in meiner Arbeit als Produzent. Ich arbeite zum Beispiel gerade mit einer Band aus Irland, die irischen Folk macht. Das finde ich viel aufregender als eine Reggae-Band, weil ich mich neu ausprobieren kann und mit etwas konfrontiert bin, das ich noch nicht so gut kenne. Bei Musik ist für mich nicht der Stil das Entscheidende, es gibt gute und nicht so gute Musik, egal in welchem Stil. Für mich geht es einfach darum, gute Musik zu machen.

e: Wann ist Musik für dich gut?

P: Für mich ist gute Musik inspirierte Musik, hinter der eine originelle Idee steht, die eine schöne Melodie hat und etwas Ehrliches ausdrückt. Gute Musik ist unmittelbar, kommt direkt aus tiefster Seele. Sie gibt einen Einblick in die Essenz eines Moments, der technische Aspekt der Musik ist zweitrangig. Bob Dylan hat unglaubliche Songs geschrieben, als Sänger ist er eher limitiert. Aber er kompensiert es mit der Qualität seines Songwritings. Oder Jimi Hendrix: Er hat seine stimmlichen Grenzen durch sein wahnsinniges Gitarrespiel kompensiert. Als Musiker sollte man sich auf die eigene Stärke konzentrieren und die voll entwickeln.

¬ DER SONG SCHREIBT SICH SELBST UND GEHT IN EINE BESTIMMTE RICHTUNG UND NIMMT DICH MIT. ¬

Dankbar für den Moment

e: Was willst du mit deiner Musik aussagen? Was willst du in den Hörern berühren?

P: Es beginnt damit, diesen Moment wirklich wertzuschätzen. Das hört sich irgendwie plakativ an, ist aber trotzdem wahr. Wir können im Augenblick und im Flow des Lebens sein. Für mich beginnt jeder Tag mit der Dankbarkeit dafür, dass ich lebe. Damit rückt dann alles andere ins rechte Licht. Es ist ein extrem großes Privileg, auf einem Planeten zu leben, auf dem Leben überhaupt möglich ist. Es ist ein Wunder. Und mit dieser Voraussetzung kann man sich fragen, was man ausdrücken will, wozu man sich inspiriert fühlt. Und das auch tun! Dabei wird man Fehler machen, aber die Hauptsache ist, dass man Entscheidungen trifft.

Das habe ich auch immer so gemacht. Ich bin unter den Augen der Öffentlichkeit gewachsen, seit ich mit 17 meine erste Platte veröffentlicht habe. Ich habe natürlich nicht als perfekter Mensch oder Künstler begonnen, sondern auch immer wieder große Fehler gemacht. Aber ich habe mich nicht versteckt oder zu lange über Dinge nachgedacht, sondern sie rausgelassen. Ich glaube, wir halten zu viel zurück, weil wir unsicher sind, aber dann wird unser Geschenk an die Welt nie rauskommen. Das ist schade, denn jeder von uns kann etwas in die Gesellschaft geben.

e: Ich habe dich bei einem Konzert in Berlin gesehen und es war ein echtes Erlebnis. Ich habe selten einen Musiker gesehen, der sich so auf sein Publikum einlässt und über das ganze Konzert in einer Art Dialog mit den Leuten ist. Warum sind dir Livekonzerte so wichtig? Welche Stimmung oder Erfahrung möchtest du erzeugen?

P: Das Konzert in Berlin war besonders cool, weil es eine kleinere Location war. Bei großen Festivals bin ich nicht so nah am Publikum. Aber auch auf größeren Bühnen versuche ich, einen besonderen Moment zu schaffen und keinen Routine-Gig zu spielen. Auf der Bühne habe ich absolutes Gottvertrauen und folge einfach meiner Inspiration. Ich bin auf der Bühne auch viel gelassener als in so einem Interview oder im normalen Leben – die Performance auf der Bühne ist einfach mein Element. Ich kann schwer beschreiben, warum das so ist. Das ist ja auch der Ursprung der Musik. Sie wurde in Verbindung mit anderen Menschen live gespielt. Man saß zusammen und hat gesungen oder getrommelt. Bei meinen Konzerten versuche ich, die Distanz zum Publikum aufzubrechen und wieder an diesen Ursprung heranzukommen. Dann entsteht eine ganz andere Atmosphäre. Vor allem in einer Zeit, wo Künstler auf der Bühne so extrem idealisiert werden und es DJ-Shows mit allen möglichen 3D-Effekten gibt, unglaubliche Lightshows, die etwas Unwirkliches haben. Bei diesem Trend werden Musiker fast zu Göttern hochstilisiert. Da möchte ich nicht mitmachen, sondern ich mache meine Konzerte so menschlich wie nur möglich. Da ist dann auch Raum für Fehler, aus denen man dann wieder was Cooles lernt. Die meisten großartigen Geniestreiche sind Fehler, die man nachher in ein anderes Licht rückt. Diese Ursprünglichkeit war auch die Idee der »Sonrise«-Konzerte, die ich allein mit Gitarre in verschiedenen Städten um 6 Uhr morgens gemacht habe. Viele haben gesagt, da wird doch keiner kommen, aber dann waren in Köln 4000 Leute, einige haben Croissants oder Kaffee mitgebracht. Zusammen haben wir einen unvergesslichen Moment geschaffen.

Jeder Tag eine Neugeburt

e: In deinem Song »Faces« singst du: »I believe in something bigger than me.« Was ist dieses Größere für dich?

P: Wie alles andere kann man auch Musik aus verschiedenen Motivationen heraus machen. Man kann Musik machen, weil man Geld und Ruhm haben will. Davon ist keiner verschont; wenn man Erfolg hat, kann man schon mal abheben und kommt dann hoffentlich bald wieder runter. Aber meine Motivation war von Beginn an eine andere. Schon als Kind, als ich anfing, Musik zu machen, war es meine Motivation, die Welt zu verändern. Mit 16 schrieb ich die Lieder für mein erstes Album. Zu dem Zeitpunkt war es eine unschuldige und ehrliche Motivation: die Welt zu verändern bzw. meinen Beitrag dazu zu leisten. Mir war klar, dass viele Dinge falsch laufen und Musik war für mich das Medium, das die stärkste Power hat, darauf einzuwirken. Ich will Menschen inspirieren, bewusst zu handeln und darauf zu achten, wie wir leben und welchen positiven Beitrag wir der Welt geben können. Ich glaube an größere Werte und versuche sie mit meiner Musik rüber zu bringen, aber ohne erhobenen Zeigefinger. Ich will, dass Leute auf ein Konzert kommen können, sich gut fühlen und energetisch auftanken können. Aber in meiner Musik versuche ich, diese größeren Werte auszudrücken und weiterzutragen. Die Quelle dieser Werte kann man nennen wie man will – Liebe, Gott, Wahrheit, Unendlichkeit oder Licht –, aber diese Werte zu leben, ist uns Menschen selbst überlassen. Auch hier nehme ich die Namen nicht so wichtig, weil das auch wieder Boxen oder Schubladen sind. Mir ist egal, woran Leute glauben, solange es letztendlich dazu führt, dass sie gute Werte haben, die sie in die Gesellschaft einbringen und die dazu beitragen, dass wir alle besser miteinander auskommen.

e: Dein letztes Album heißt »The Rising of the Son«. Was hat es mit diesem Titel auf sich?

P: »Rising Of The Son« spielt auf die Doppeldeutigkeit von Sohn und Sonne an. Im Grunde geht es dabei um Wieder-Auferstehung. Denn wir erleben ja jeden Tag eine Art Neugeburt: Ich muss mit alten Sachen brechen, um mich wieder neu erfinden zu können oder durch mein Handeln einen Sinn zu finden. Jeden Tag können wir mit so einer Unschuld beginnen, dass alles möglich ist. »Rising Of The Son« bezieht sich auf ein neues Bewusstsein. Und es gibt eine astrologische Deutung der Bibel, in der die Sonne als Sohn Gottes gilt und die Monate als die zwölf Apostel. Daher dieses Wortspiel, weil mir diese Verbindung von Sohn und Sonne gefallen hat.

Der Gedanke von Wiedergeburt hat auch einen persönlichen Bezug, weil ich an dem Tag geboren wurde, als mein Großvater gestorben ist. Mein zweiter Name Babatunde bedeutet »die Auferstehung des Vaters«. Das ist also ein Motiv, das sich durch mein ganzes Leben zieht.

e: Was ist dieses neue Bewusstsein für dich? Ist dir Spiritualität dabei wichtig?

P: Ich bin sehr christlich aufgewachsen. In dem Dorf in der Nähe von Köln, in dem ich großgeworden bin, war ich Messdiener und die meiste Zeit auf dem Internat. Das war meine erste Berührung mit Spiritualität. Dann habe ich irgendwann zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Bücher gelesen. »Siddhartha« von Hermann Hesse hat einen richtig tiefen Eindruck bei mir hinterlassen. Da war ich 15 oder 16 und habe mich spirituell ausgerichtet. Ich habe auch »Der Prophet« von Khalil Gibran und Bücher über den Buddhismus gelesen. Hinzukam, dass ich zwischen verschiedenen Kulturen aufgewachsen bin und für mich war auch in der Spiritualität der gemeinsame Nenner zwischen den Traditionen wichtig. Ich respektiere also die Religion, aber für mich ist das Wichtigste, was die Religion aus den Menschen macht. Wenn die Religion ihnen hilft, bessere Menschen zu sein, dann kann ich das nur unterstützen. Aber ich respektiere auch Atheisten, für die es gut ist, an nichts zu glauben, weil es sie dazu veranlasst, aktiver zu sein. Die Worte, die man benutzt, sind für mich nicht so wichtig, sondern das Leben, das man lebt. Und alle Versuche, unsere Welt zu verstehen, sei es durch Wissenschaft, Philosophie oder Religion, landen alle bei der Unendlichkeit.

In meiner Lebensphilosophie ist Spiritualität eine wichtige Dimension, die auch viel mit der eigenen Empfänglichkeit und Offenheit zu tun hat. Ich kann dafür sorgen, dass ich mich innerlich reinige, dass ich empfänglich bin, damit eine größere Kreativität durch mich hindurch kommen kann. Wenn man innerlich so gereinigt ist, dann kommen die Ideen zu einem, man schafft ein inneres Klima für Inspiration. Meine Religion ist Kreativität und die Natur ist für mich die höchste Form von Kunst. Wenn du dir anschaust, wie eine Blume aufgebaut ist, das ist krass. Kreativität ist für mich eine Lobpreisung des Lebens. Der beste Song ist deshalb auch der, der am natürlichsten wirkt, der sich so anfühlt, als wäre er schon immer da gewesen und müsste immer da sein, weil er Teil der Schöpfung ist.

Best-of-Kultur

e: Du lebst in Köln, New York, Paris, Jamaika. Fühlst du ich als Global Citizen?

P: Ja, ich lasse mich von all diesen Orten und Kulturen beeinflussen und schaffe mir so eine Art »Best-of-Kultur«. Ich denke, das ist die Zukunft. Wir werden uns kulturell immer mehr vermischen. Wir werden uns unsere eigene Kultur gestalten, mit den Dingen, die wir lieben und cool finden. Dadurch sind wir nicht so darauf festgelegt, woher wir kommen. Viele Leute machen jetzt Yoga oder interessieren sich für den Buddhismus. Da hat die indische Kultur etwas Cooles entwickelt, das auch für unsere Kultur ein positiver Beitrag sein kann. Das finde ich toll an unserer Zeit, dass man sagen kann: Ich entscheide mich für meine eigene Kultur. Durch meine Herkunft musste ich mich schon früh mit diesen Fragen beschäftigen. Ich musste mir die Frage stellen: Was ist meine Identität? Aber diese Frage stellt sich früher oder später uns allen, vor allem heute in dieser Welt. Ich finde das einen guten Prozess, weil er uns als Menschen näherbringt, und es ist glaube ich ein Prozess, der sich nicht vermeiden lässt.

e: Diese Frage der Identität stellt sich ja auch gerade in Deutschland angesichts der Flüchtlingssituation.

P: Ja, Deutschland wird gerade sehr gefordert, aber ich glaube, das wird ein extremer Gewinn sein für die deutsche Identität, die sich absolut neu erfinden muss. In Deutschland ist es anders als in England, Frankreich oder den USA. Dort sind Einwanderer in der zweiten Generation schon mehr integriert, weil sich die Identität auf die Nation richtet und nicht auf die ethnische Herkunft als »Deutscher«. Deutschland kann kulturell durch die Auseinandersetzung mit anderen Kulturen eine große Bereicherung erfahren. Deutschland erlebt da gerade eine Art Schocktherapie. Das ist ein krasser Prozess, eine echte Herausforderung. Zuerst gibt es die Phase, wo die Leute willkommen geheißen werden, dann kommt die nächste Phase, wo viele Ängste benannt werden. In dieser Phase sind wir jetzt gerade, obwohl das wahrscheinlich auch von Stadt zu Stadt unterschiedlich ist. Die deutsche Kultur wird gefordert, und das ist glaube ich eine gute Entwicklung, die Deutschland auch bewältigen kann.

e: Was sind deine nächsten Pläne?

P: Ich werde dieses Jahr ein Best-of-Album mit dem Titel »The Super Album« herausbringen, in dem ich einige Stücke ganz klassisch auf Band aufgenommen habe. Und wahrscheinlich im Frühjahr werde ich auch eine neue Platte veröffentlichen. Ich mache ständig Musik und vergesse leicht, die vielen Songs, die dabei entstehen, so zusammenzustellen, dass sie eine Platte ergeben.

Und ich habe einen Kurzfilm gemacht und überlege noch, wann ich den herausbringe. Darin geht es um einen jungen Mann, der vor seinen Ängsten davonläuft. Seine Ängste werden von einer Gang personifiziert, die ihn im Film verfolgt. Je mehr sie ihn jagen, desto erschöpfter wird er und sie töten ihn. Aber er kommt von den Toten zurück und stellt sich der Gang schließlich entgegen und umarmt den Anführer. Er umarmt also seine Ängste und überwindet sie, kann weiterleben und hat seine Erleuchtung erfahren. Das ist genau das, was ich mit »The Rising of the Son« meine.

Das Interview führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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