Hingabe und die offene Gesellschaft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 31, 2019

Featuring:
Yuval Harari
Thomas von Kempen
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Issue:
Ausgabe 21 / 2019:
|
January 2019
Die Zukunft der Religion
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Ist Religion mehr als Spiritualität?

Religion hat einerseits viel zur Entwicklung des Menschseins beigetragen, wird aber zu Recht auch dafür kritisiert, unsere Freiheit und Mündigkeit zu beschneiden. Gibt es bei aller berechtigten Religionskritik aber nicht auch Fragen an unser wissenschaftliches Weltbild, die so nur aus dem religiösen Erfahren gestellt werden können? Und müssen vielleicht Kernaspekten der Religion in unserer Zeit neuen Raum geben?

Die Religion hat, zumindest in aufgeklärten Kreisen, einen schlechten Ruf. Vor einigen Monaten sprach ich am Rande einer Tagung mit einem angesehenen Vertreter einer modernen, wissenschaftlichen und säkularen Spiritualität und fragte ihn, wo er den Unterschied zwischen Spiritualität und Religion sieht. Für meinen Gesprächspartner, einen Philosophen und Neuro-Ethiker, war diese Unterscheidung von großer Bedeutung. Religion, so seine Antwort, basiere auf einem alten mythenhaften Weltbild, auf vorwissenschaftlichen Glaubenskonstrukten. Die Aufklärung habe das Ende dieser Märchen gebracht. Spiritualität sei so etwas wie eine innere Wissenschaft, eine Praxis, die empirisch erschlossen werden könne. Auch er meditiere seit vielen Jahren täglich mindestens eine Stunde.

Diese Form einer modernen und wissenschaftlichen Spiritualität hat weltweit und gerade auch in den USA prominente Vertreter. Der amerikanische Erfolgsautor Sam Harris, der sich selbst als spirituellen Atheisten sieht, zählt zu ihnen, auch der bekannte israelische Historiker, Bestsellerautor und transhumanistische Denker Yuval Harari.

Es spricht auch viel dafür, Spiritualität von der Religion zu trennen, denn das Sündenregister der Religion ist lang. Damit meine ich nicht einmal die Religionskriege, auch nicht die Scheiterhaufen für Häretiker, die Kreuzzüge, die Menschenopfer, den faulen Zauber und die Nähe zur Macht. Sie hat sich zu oft dem freien Denken, der rationalen Kritik und der Mündigkeit der Menschen entgegengesetzt.

Shirin Abedinirad
Das Problem und das Potenzial der Religion

Religion kommt aus einer anderen Zeit. In ihr liegt etwas Befremdliches und etwas Bezauberndes. Manchmal ist es auch nur der Reiz des Exotischen. Die »mystique«, die einen in einer kleinen, weiß getünchten, griechisch-orthodoxen Kapelle irgendwo am Peloponnes erfasst, wenn man diesen winzigen, halbdunklen und etwas verrauchten Innenraum betritt, dieser Zauber des schon abblätternden Wandfreskos, die Altarwand mit ihren Ikonen – das hat schon auch mit der Faszination exotischer Märchen und den alten »vergangenen Zeiten« zu tun. Die Mythen, die diese Gemäuer erzählen, halten in vielem unserem aufgeklärten Blick nicht stand. Zu Recht sehen wir in diesen romantischen Gefühlen, die uns hier ereilen, auch unser Bedürfnis nach einer einfachen Welt, als »gut« noch gut und »böse« noch böse war. Und doch, auch hier scheint es so etwas wie ein Geheimnis zu geben, das uns trifft.

Die Religionen sind ein Relikt jener Zeit, bevor die Naturwissenschaft gemeinsam mit dem europäischen Kolonialismus die Welt überzogen hat. Das machte sie zum Gegner der Aufklärung, zu einem Gegner der offenen Gesellschaft. Religiöse Eliten misstrauten und misstrauen dem offenen und kritischen Geist der Wissenschaft.

Braucht es in unserer aufgeklärten Zeit überhaupt noch so etwas wie Hingabe?

Auch heute begegnet uns Religion oft als eine Form von Regression, als eine Sehnsucht nach alten Gewissheiten. Christliche Fundamentalisten oder islamistische Gewaltorgien erinnern an ihre sehr dunklen Seiten. Selbst der von vielen als Ausnahmeerscheinung gesehene »friedliche Buddhismus« zeigt im gerade stattfindenden Genozid an der islamischen Minderheit der Rohingya in Myanmar ein erschreckendes Gesicht.

Und doch hat sie auch eine andere Seite. Dass sie aus einer anderen Zeit und einer anderen Wahrnehmung der Welt kommt, macht Religion auch zu einem wachen Kritiker der Auswüchse des neuen Geistes und der Geistlosigkeit der Moderne. Heute, nach 300 Jahren naturwissenschaftlichen Denkens, wird es deutlich, dass sie mit ihrer Kritik nicht immer falsch lag. Die religiösen Traditionen haben sich neben ihren dogmatischen und mythischen Scheuklappen auch einen Reichtum von Lebensverhältnissen erhalten, der sich einer nur technisch instrumentellen Sicht auf die Welt entzieht. In einer Welt, die letztlich von einem ökonomischen Effizienzdenken getragen wird, wirken sie wie bunte Paradiesvögel einer anderen Zeit.

Dabei sind es ganz unterschiedliche Paradiesvögel. Ein schamanisch geprägtes Dorf im Amazonas, ein serbisch-orthodoxes Kloster auf dem Berg Athos, eine Shinto-Gemeinde in Japan und ein südindisches Dorf neben einem alten Shiva-Tempel mag zwar einiges verbinden, aber sie sind einander auch in vielem sehr fremd. Was sie verbindet, ist ihr Widerspruch gegenüber unserem instrumentell pragmatischen Lebensstil.

Und, die Religionen der Welt halten Schätze, die es vielleicht zu erhalten gilt. Ich meine den Schatz der religiösen Praktiken. Auch wenn hier manches entstaubt werden muss: Hier liegen Perlen, die es lohnt, neu zu sehen. Meist sind es Praktiken der Hingabe. Islam ist nicht nur Islamismus. Wörtlich kann das Wort Islam ja auch als Hingabe übersetzt werden. Wer sich je an der Sufi-Praxis des Dhikr beteiligt hat, weiß, dass in der rhythmischen Anrufung der Namen Gottes, im La ilaha illa ’llah eine tiefe innere Hingabe geübt wird. Das kann die Hingabe an ein theokratisches Herrschaftssystem sein, es hat aber zumindest auch das Potenzial, die Hingabe an ein erfahrbares lebendiges Mysterium zu sein. Auch eines der am weitesten verbreiteten geistlichen Bücher des Christentums, Thomas von Kempens »Nachfolge Christi«, kann einen in seinem rigiden katholischen Rahmen, in dem es sich zeigt, abschrecken. Aber wenn man es aus seiner dogmatischen Klammer befreit, entfaltet es eine eigentümliche Kraft der Hingabe an ein Mysterium, das uns als Menschen anspricht. Auch der deutsche Tibet-Pionier Lama Govinda – er war in den 30er-Jahren einer der ersten westlichen Lamas – spricht ausführlich darüber, dass die Grundlage der buddhistischen Meditation die Hingabe an das Mysterium ist.

Aber braucht es in unserer aufgeklärten wissenschaftlich orientierten Zeit überhaupt noch so etwas wie Hingabe? Sollte ein aufgeklärtes Verständnis von Spiritualität nicht darin bestehen, dass sie sich als innere Wissenschaft und als eine Technik der Bewusstseinstransformation versteht?

Wissenschaft, Wissenschaftskritik und säkulare Spiritualität

Die gegenwärtige säkulare Spiritualität ist auch ein Versuch, wissenschaftliches Denken und spirituelle Praxis zu verbinden. Sie macht das auch mit großem Erfolg. Man konnte zeigen, dass Meditation und meditative Erfahrungen auch naturwissenschaftlich getestet werden können. Diese Praxis der neuen Spiritualität, sich ganz auf die Wissenschaft einzulassen, hat aber auch einige unvorhergesehen Nebenwirkungen gezeigt. Wenn die Naturwissenschaft zum Maßstab aller Dinge wird, auch zum Maßstab der spirituellen Erfahrung, dann bestimmt ab einem gewissen Punkt das naturwissenschaftliche Denken, was Spiritualität eigentlich ist. Manche haben darauf mit einer Art Schizophrenie reagiert. In der Öffentlichkeit betonen sie die naturwissenschaftlichen Erkenntnisse über spirituelle Praktiken. Privat leben sie weiterhin viele New-Age-Fantasien. Andere interpretieren ihre spirituellen Erfahrungen nur mehr im Sinne einer Optimierung unseres psychologischen und sozialpsychologischen Lebens.

Buddhismus ist in unserer postmodernen Zeit auch deshalb so beliebt, weil er sich so leicht in unseren pragmatischen, technisch individualistischen Kontext übertragen lässt. Viele der sich als spirituelle Atheisten verstehenden Menschen sehen sich auch als Buddhisten. Vielleicht weil es möglich ist, Buddhismus ohne diese Hingabe an »etwas« zu verstehen. Aber natürlich tut dies dem historischen Buddhismus Gewalt an. Der historische Buddhismus war Teil der transzendenten Kultur des klassischen Indiens und seiner Mysterien. Er kritisierte sie nur mit einer radikal neuen Sprache, um die Verkrustungen der damaligen Kultur aufzubrechen.

Wissenschaft braucht auch Wissenschaftskritik. Die Naturwissenschaft war in vielem eine große Befreiung des mündigen Denkens. Aber es wird auch immer dringender, ihre Grenzen zu sehen. Im naturwissenschaftlichen Blick verwandelt sich die Wirklichkeit in Dinge, die messbar und berechenbar sind. Anderes wird schlicht übersehen. Der Erfolg dieser Sicht war enorm. Es hat uns aber auch ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem geschaffen, das sich ausschließlich darauf ausrichtet, berechenbare Werte zu optimieren. Manche Absurditäten kennen wir. Unser Bruttonationalprodukt profitiert davon, wenn Menschen mehr Geld für chronische Krankheiten ausgeben müssen. Viele der Krisen im globalen Süden wurden auch von Institutionen wie der Weltbank weiter verschärft, weil es menschliche, kulturelle und ökologische Wirklichkeiten gibt, die man nicht in ökonomische, berechenbare Fakten pressen kann. Berechenbarkeit ist auch das große Thema der kommenden künstlichen Intelligenz. Wenn alles zu Algorithmen wird, können wir unsere Zukunft vielleicht doch besser der künstlichen Intelligenz überlassen. Sie wird uns auf diesem Gebiet bald bei weitem überflügeln. Amazon weiß vielleicht schon heute besser, welche Produkte ich als nächstes kaufen sollte. Aber der alleinige Blick auf das Berechenbare verfehlt den Menschen.

Für die Religionen war Spiritualität nie nur eine individuelle, private Erfahrung.

Es ist eines der Verdienste der neuen Spiritualität, dass sie uns auf die Verengungen unseres naturwissenschaftlichen Blicks aufmerksam macht. Oft sind es Menschen mit einer Sensitivität für Lebendigkeit, für das Wunder des Lebens, die bemerken, dass uns mit dem herrschenden Weltbild irgendwie unsere Menschlichkeit entgeht. Wir gleichen uns den Automaten an, die wir in die Welt gestellt haben. Spirituell sensitive Menschen haben immer wieder darauf reagiert. In den 60er- und 70er-Jahren versuchte die New-Age-Bewegung, neue Wege zu gehen. Doch diese Bewegungen sind oft an ihrer Naivität gescheitert.

Braucht es noch Religion?

Für die Religionen war Spiritualität nie nur eine individuelle, private Erfahrung. Ihre Bedeutung wurde immer auch im gemeinschaftlichen kulturellen Kontext gesehen. Wenn Spiritualität weder meine private New-Age-Welt ist noch einfach uminterpretiert wird in eine funktionale Technik, was sagt sie uns dann über unsere Welt? Hilft sie die Begrenztheit unserer herrschenden Weltsicht zu verstehen?

Es hilft, sich experimentell einmal auf den Blickwinkel der alten Religionen einzulassen, um zu sehen, wie die Naturwissenschaft und das wissenschaftliche Effizienzdenken auch zu so etwas wie einer Religion der Gegenwart geworden sind. Brauchen wir deswegen eine neue Religion? Wahrscheinlich nicht, denn der Kontext, den wir uns hier erarbeiten müssen, wird ein neuer sein.

Religion war keine individuelle Erfahrung. In unserer postmodernen Spiritualität haben wir sie zu einer Erfahrung innerhalb der Grenzen unserer persönlichen, psychologischen Entwicklung verengt. Entweder war sie ein wunderbares Erlebnis oder ein Weg zur Selbstoptimierung. Die Religionen mit ihren Ritualen und Praktiken waren sozial, kollektiv. Und das nicht nur in ihrer äußeren Form. Sie waren eine gemeinsame Möglichkeit, die Welt zu sehen. Deshalb auch der Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft: Sie konkurrieren als Weltanschauungen. Wenn wir Spiritualität nur durch das Teleskop der technisch-wissenschaftlichen Welt betrachten, wird sie zu einer weiteren Erfahrungskategorie und nicht zu einem Boden für das Leben selbst.

Das Mysterium öffnet sich nur in der Hingabe.

Hier liegt auch unsere Schwierigkeit mit Hingabe. Die Wissenschaft hat die Hingabe hinter sich gelassen. Sie kennt sie höchstens als Hingabe an die Technik und die empirische Strenge. Dies war auch wichtig für die Entwicklung unserer intellektuellen Fähigkeiten und unsere Unabhängigkeit von religiösen Hierarchien. Aber das Mysterium öffnet sich nur in der Hingabe. Die Hingabe bringt uns in Kontakt mit dem, was größer ist als mein Selbst. Die vielen Juwelen der traditionellen religiösen Praxis werden zu Toren zu diesem Geheimnis und weisen uns die vielen Orte und Wege, an denen das Göttliche sein Gesicht zeigt. Für die Religionen bildete das den gemeinsamen Boden, auf dem Gemeinschaft entstand.

Die zeitgenössische Spiritualität hat uns Erfahrungsräume geöffnet, in denen die Beschränktheit des technisch-instrumentellen Weltbildes wahrnehmbar wird. Einer neuen integralen und spirituellen Kultur könnte es gelingen, diese wissenschaftlich-technische Verengung unserer Sicht auch als eine gelebte Kultur zu überwinden. Genauso wie die klassische Aufklärung die Welt der alten, dogmatischen Religionen gesprengt hat, kann eine spirituelle Aufklärung die Paradigmen des Szientismus sprengen.

Shirin Abedinirad
Hingabe in der offenen Gesellschaft

Aber wir brauchen all diese Ansätze, um den Schritt ins Neue zu gehen, den unsere Kultur braucht. Und das ist mehr als eine auf eine klassische Wissenschaftlichkeit reduzierte Spiritualität. Wir müssen unsere Fähigkeit zum rationalen Denken mit dem tiefen Respekt vor dem Unbekannten, dem geheimen Herzen des Lebens, verbinden. Gemeinschaften der Praxis schaffen, in denen dies erforscht und entwickelt wird, ohne die Pluralität zu vernachlässigen. Vielleicht brauchen wir dafür den Erfahrungsschatz der Religionen noch viel mehr, als uns bewusst ist, um die Beschränkungen des klassisch wissenschaftlichen Weltbildes überhaupt sehen zu können. Hingabe an das Mysterium ist etwas, in dem wir viel von den Religionen der Welt lernen können. Aber auch zu sehen, dass spirituelle Erfahrungen, wenn wir sie ernst nehmen, nach einem gemeinsamen kulturellen Verständnis verlangen, in dem sie mit zum Fundament einer offenen pluralen Weltgesellschaft werden können.

Dies könnte zu einer tieferen Wertschätzung der traditionellen Religionen führen, wenn wir erkennen, wie sie bei all ihren Beschränkungen und Schattenseiten ihre Beziehung zum Mysterium kultiviert haben. Und wenn sich unsere zeitgenössische Kultur diesem Respekt gegenüber öffnen würde, ist es sehr wahrscheinlich, dass auch der Bedarf an Fundamentalismen nachlassen wird, weil Ehrfurcht und Hingabe wieder möglich werden. Die Aufgabe ist eine große. Es ist viel zu leicht, spirituelle Erfahrungen einfach zu verdrängen. Es ist auch zu einfach, sie in eine überholte dogmatische mythische Welt zurückzuholen oder aber sie in eine technisch-wissenschaftliche Weltsicht zu verbiegen.

Wir haben aber auch die Möglichkeit, in unserer offenen Gesellschaft Wege zu finden, durchaus bunte und vielfältige, in denen es uns gelingt, was Religionen immer versucht haben: Zeugen und Hüter des Mysteriums zu sein.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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