Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
April 21, 2017
Das Buch »Exponentielle Organisationen« zeigt, wie radikale technologische Innovation unser Arbeiten verändert – und wirft die Frage auf, wie wir in Zukunft leben wollen.
Die Verbindung von Mensch und Maschine hat unsere Welt und uns selbst tiefgreifend verändert. Aber das ist erst der Anfang. Darüber sind sich viele Technologie-Experten einig. Die Nutzung von künstlicher Intelligenz, Big Data, globaler Kommunikation und vielen weiteren technologischen Innovationen wird eine Transformation unserer Lebensweise bedeuten, die wir uns heute nur schwer vorstellen können. An vorderster Front dieser technologischen Revolution stehen die Transhumanisten, die in einer zunehmenden Verschmelzung von Mensch und Technologie das Aufdämmern einer Spezies sehen, die mit unserem heutigen Menschsein nicht mehr viel zu tun hat. Treibende Kraft dieser Entwicklung wird ihrer Ansicht nach die exponentielle Zunahme von Rechenkapazität und künstlicher Intelligenz sein, die in einer »Singularität« mündet, in der wir Menschen von der Intelligenz der Roboter bzw. Cyborgs, also Mischwesen aus Mensch und Maschine, überholt werden.
Peter Diamandis ist einer der führenden Köpfe dieser vor allem im Silicon Valley populären radikalen Variante einer unbändigen Technologiegläubigkeit. In Büchern mit Titeln wie »Überfluss – Die Zukunft wird besser als Sie denken« und »Bold – Groß denken, Wohlstand schaffen, die Welt verändern« beschreibt er, wie sich seiner Ansicht nach unsere Gesellschaft durch Technologie zum Positiven verändern wird. Diamandis ist Mitgründer der Singularity University, die sich der Erforschung dieses Wandels in verschiedenen Bereichen widmet. Aus diesem Umfeld stammen auch die Autoren des Buches »Exponentielle Organisationen – Warum neue Unternehmen deutlich besser und schneller sind« Salim Ismail, Michael S. Malone und Yuri van Geest. In ihrem Buch untersuchen sie, wie sich die technologiegetriebenen Innovationen auf die Wirtschaft auswirken werden. Und sie nehmen uns mit auf eine Tour de Force durch die »Schöne Neue Welt« der Arbeit, bei der einem schon mal schwindelig werden kann.
Im ersten Teil wird dieses exponentielle Paradigma mit grundsätzlichen Merkmalen eingeführt und im zweiten Teil werden durch konkrete Handlungsempfehlungen, Fallbeispiele und strukturelle Bemerkungen zu den Rollen in einer exponentiellen Organisation viele konkrete Impulse zur Umsetzung gegeben. Dabei stützen sich die Autoren auf dreijährige Forschungen, die das Studium der wichtigsten Bücher zum Innovationsmanagement, Analysen verschiedener Fortune-200-Unternehmen und Untersuchungen der 100 am schnellsten gewachsenen Unternehmen weltweit umfassen. Zudem führten sie zahlreiche Interviews mit erfolgreichen Gründern, wie Marc Andreessen, Chris Anderson, Arianna Huffington oder Tim O‘Reilly.
Ihre Grundthese ist, dass es heute schon Unternehmen gibt, die aus diesem Paradigma exponentiellen Wachstums arbeiten und weitaus – um genauer zu sein, 10 x – schneller und erfolgreicher sind als ihre Konkurrenten. Es sind Unternehmen, die das exponentielle Ansteigen der Rechenkapazität und die exponentiell wachsenden Informationen zu nutzen wissen, um ihre wirtschaftlichen Ziele zu erreichen. An ihrem Anfang steht eine Durchbruchsidee, ein großes Ziel, das die Autoren als Massive Transformative Purpose (MTP) bezeichnen – unter der völligen Transformation des Planeten oder einer Branche wird hier nicht begonnen: »Das wichtigste Ergebnis eines echten MTP’s besteht darin, dass er eine kulturelle Bewegung auslöst. ... Das bedeutet, dass der MTP so inspirierend wirkt, dass sich um die exponentielle Organisation eine Gemeinschaft bildet, die spontan selbstständig funktioniert und schließlich eine eigene Gemeinschaft, einen Tribe oder eine Kultur bildet. Denken Sie an die Schlangen vor dem Apple Store oder die Wartelisten für die jährliche TED-Konferenz.«
Das exponentielle Anwachsen von Daten, künstlicher Intelligenz, global verfügbarer Informationen durch die zunehmende Vernetzung eröffnet Organisationen wie Google, Apple oder Amazon, aber auch kleinen innovativen Start-ups ganz neue Ressourcen, wie zum Beispiel Nutzer, die freiwillig ihre Daten zur Verfügung stellen und zur Weiterentwicklung und Verbreitung des Produktes oder Services beitragen. Die globale Vernetzung ermöglicht zudem eine Verringerung des »Ballastes«, wie feste Arbeitskräfte in Belegschaften und Wirtschaftsgüter, wie Fabriken, Produktionsstätten oder Büros. In exponentiellen Organisationen werden Produktionsstätten bei Bedarf angemietet, die Mitarbeiter flexibel eingestellt, es werden Community & Crowd genutzt, Algorithmen eingesetzt und das Engagement der Nutzer/Kunden unterstützt. Dies sind die externen Merkmale exponentieller Organisationen, denen interne gegenübergestellt werden. Dazu gehören Schnittstellen und Dashboards, also intensive Vernetzung und optimaler Zugang zu Daten. Ein radikales Zulassen von Experimenten, die Stärkung der Autonomie und Kreativität der Mitarbeiter und soziale Technologien, die technologiegestützt eine dezentrale Zusammenarbeit in geteilter Führung, jenseits hierarchischer Strukturen ermöglichen. (Interessanterweise werden hier teilweise Entwicklungen angesprochen, wie sie auch in Büchern wie »Reinventing Organizations« von Frederic Laloux oder »Holacracy« von Brian Robertson aus Sicht neuer Organisationsmodelle thematisiert werden.)
¬ Die »Ökonomie des Überflusses« könnte auch den Kapitalismus von innen heraus verändern. ¬
In den Beschreibungen der Autoren zeichnet sich eine Wirtschaftswelt ab, die sich heute schon in einer jungen Generation informationsbasierter und internetgestützter Start-ups, kreativen Unternehmern und anpassungsfähigen und datengestützten Organisationen zeigt. Beispielhaft sind die bahnbrechenden Innovationen, die heute dank des Internets von überall her kommenkönnen – zwei junge Nerds in einer Garage irgendwo auf der Welt können durch eine solche Innovation Giganten einer Branche zu Fall bringen. Die Weiterverbreitung des Internets auf immer mehr Menschen – 2020 werden es laut den Autoren fünf Milliarden Menschen sein – erhöht dieses kreative Potenzial exponentiell. Autonome kreative Fachkräfte werden immer mehr zum kostbarsten Wirtschaftsfaktor, und dabei stehen die Quereinsteiger und Querdenker höher im Kurs als Experten und Mitarbeiter mit tadellosen Diplomen. Hierarchische Strukturen gehören der Vergangenheit an, Führung wird verteilt, in Netzwerken organisiert. Und auch große firmeneigene Fabriken oder Bürotürme wird es kaum mehr geben, eine extrem flexible, global vernetzte Workforce ist das Zukunftsszenario. Und da immer mehr Arbeit von Maschinen übernommen wird, konzentrieren sie sich auf das, was nach Ansicht der Autoren nur der Mensch kann: kreative Innovationen schaffen. Diese Wirtschaft und ihre Organisationen gleichen in gewisser Weise dem Internet – vernetzt, flexibel, schnell, flach, voller nutzbarer Daten und Informationen.
All diese Entwicklungen beschreibt das Buch mit einem beeindruckenden technologischen Optimismus, wie er auch für die Transhumanisten typisch ist. Die Autoren versuchen aber auch klarzustellen, dass es ihnen nicht um die »Abschaffung« des Menschen geht, sondern um seine Befreiung. Man muss ihnen zugute halten, dass es ihnen anscheinend wirklich um eine radikale Transformation der Welt geht, bei der Hunger, Krankheit und Armut der Vergangenheit angehören. Ihre Begeisterung dafür ist spürbar. Zudem könnte das exponentielle Paradigma ihrer Ansicht nach zu einer Wirtschaft und Gesellschaft führen, die Jeremy Rifkin als »kollaborative Gemeingüter« bezeichnet: Da durch die exponentielle Zugänglichkeit von Technologie und Informationen die Grenzkosten gegen null gehen, wird es für jeden möglich sein, kreativ an der Gestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft teilzunehmen – sei es durch lokale Initiativen zur Nachhaltigkeit, Petitionen an die Regierung und liquide technologiegestützte Formen demokratischer Mitbestimmung bis hin zu innovativen Start-ups und Business-Initiativen. Die so entworfene »Ökonomie des Überflusses« könnte für die Autoren auch den Kapitalismus von innen heraus verändern, der seine Existenz einem Paradigma des Mangels und der Verteilungskämpfe verdankt.
Aber eines scheinen die Autoren dabei doch zu übersehen: Die Frage, wie dieser Fokus auf Technik, Informationen, Rechenkapazität und Daten unser Menschsein verändert. Die technologische Emanzipation des Menschen, wie sie die Autoren entwerfen, lässt den Menschen auch Teil einer technologischen Logik werden. Aber was geschieht mit unserem Bewusstsein, unserem Denken und Fühlen, unseren Werten, wenn wir der Technologie die Führung überlassen und sozusagen in ihrem Fahrwasser die exponentiellen Möglichkeiten nutzen? Auch eingedenk der transhumanistischen Vision, dass die exponentiell wachsende technologische künstliche Intelligenz an einen Punkt kommt, wo sie unser Menschsein definiert.
Ein Verdienst des Buches ist, dass es uns die Dringlichkeit dieser Fragen vor Augen führt: Wie können wir den Missbrauch der horrenden Datenmengen durch staatliche Dienste, gierige Unternehmen oder autokratische Systeme verhindern? Wie kann der Massive Transformative Purpose der exponentiellen Organisationen nicht nur den Wettbewerbsvorteil in neoliberalem Konkurrenzdenken beinhalten, sondern auch das Wohl des Ganzen im Sinne des Gemeinwohls in Natur und Kultur. Und schließlich: Was ist nötig, damit die technologische Entwicklung von unserer menschlichen Entwicklung geführt wird und nicht umgekehrt?