Hörendes Herz

Our Emotional Participation in the World
English Translation
0:00
0:00
Audio Test:
Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

January 23, 2023

Mit:
Hartmut Rosa
Kategorien von Anfragen:
Tags
No items found.
AUSGABE:
Ausgabe 37 / 2023
|
January 2023
Re-Generation
Diese Ausgabe erkunden

Bitte werden Sie Mitglied, um Zugang zu den Artikeln des evolve Magazins zu erhalten.

Über das Buch »Demokratie braucht Religion« von Hartmut Rosa

Was hält Gesellschaften in ihrem Inneren zusammen? In einer Zeit wachsender Polarisierung ist dies eine virulente Frage. Denn selbst in etablierten Demokratien bröckelt der soziale Zusammenhalt. Mit seinem Werk zur »Unverfügbarkeit« hatte Hartmut Rosa bereits Bruchstellen moderner Kulturen und ihrer politischen Systeme benannt. Das Prinzip der Weltaneignung und der steten Steigerungslogik war schon durch die Klimakrise in Erklärungsnot geraten. Die Pandemie und der Ukraine-Krieg gaben ihm den Rest. Doch dieses »Aggressionsverhältnis« zur Welt, wie Rosa es nennt, bleibt bestehen. Und es hat die politische Kultur verändert. Statt gemeinsam Lösungen auszuhandeln, überwiege heute oft ein Klima der Konfrontation: »Wir haben keine Debatte mehr darüber, wie wir leben wollen, sondern wir betrachten die Anderen als Feinde, die wir zum Verstummen bringen wollen!« In »Demokratie braucht Religion« beleuchtet der Soziologe deshalb, wie in einer solch explosiven Konstellation das Religiöse dabei helfen könnte, das Einander-Zuhören neu zu erlernen. In Rosas Augen wäre dies eine Möglichkeit, wieder zu einem tragfähigen demokratischen Miteinander zu finden.

Das Buch oder besser gesagt Büchlein (75 Seiten inkl. eines Vorworts von Gregor Gysi) basiert auf einem Vortrag, den Rosa beim Würzburger Diözesanempfang 2022 hielt. Über weite Strecken gibt der Soziologe eine Zusammenschau seiner Resonanztheorie. Erst im letzten Drittel des Vortrags, in Anlehnung an die Jahreslosung der Diözese – »Verleih mir ein hörendes Herz« – kommt er auf die Religion zu sprechen. Und das auf zunächst paradoxe Weise: »Wir haben eine Krise der Anrufbarkeit, und die zeigt sich in der Glaubenskrise und in der Demokratiekrise gleichermaßen.« Wie aber kann dann Religion zur Rettung werden, wo sie selbst bereits von der Sinn-Erosion erfasst ist? In den Augen des Soziologen sind es vor allem die Kirchen, die »über Narrationen, über ein kognitives Reservoir verfügen, über Riten und Praktiken, über Räume, in denen ein hörendes Herz eingeübt und vielleicht auch erfahren werden kann«. Religiöse Traditionen könnten die Berührbarkeit und Verletzlichkeit fördern, deren es bedürfe, um auch im Sinne von Gesellschaft und Demokratie wieder ansprechbar zu werden.

¬ WAS HÄLT GESELLSCHAFTEN IN IHREM INNEREN ZUSAMMEN? ¬

Verglichen mit Rosas Resonanz-Epos sind das recht dünne Erkenntnisse, die bereits in seinem Buch zur »Unverfügbarkeit« anklangen. Und man fragt sich, was Verlag und Autor dazu bewogen hat, eine (durchaus erbaulich zu lesende) soziologische Auftragsarbeit als Beitrag zur »Demokratiestärkung« zu inszenieren. Denn letztlich erweist sich die Religion der Gegenwart in ähnlichem Maße wie die Demokratie als behandlungsbedürftige Patientin (was Rosa in seinem Vortrag, vielleicht aus Rücksicht auf sein Publikum, eher außen vor lässt). Und so endet sein »leidenschaftliches Plädoyer für die Relevanz von Glaube und Kirche« (Klappentext) denn auch mit einer Art Hilferuf: »Religion hat die Kraft, sie hat ein Ideenreservoir und ein rituelles Arsenal …, die einen Sinn dafür öffnen, was es heißt, sich anrufen zu lassen, sich transformieren zu lassen, in Resonanz zu stehen. Wenn die Gesellschaft das verliert, … dann ist sie endgültig erledigt.« Womöglich liegt gerade in dieser so eindringlich artikulierten Gefahr des möglichen Verlusts die eigentliche Botschaft des Büchleins. Sind wir bereit, uns von ihr erreichen zu lassen? Denn genau in dieser Erreichbarkeit keimt die Fähigkeit, neue Weltverhältnisse hervorzubringen, die vielleicht wieder tragfähig sind.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
Teile diesen Artikel: