Identität und Herrschaft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

October 26, 2015

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Ausgabe 8 / 2019
|
October 2015
Eine Welt im Dialog
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Über den subtilen Imperialismus der westlichen Geschlechteridentität

Unsere Ideen über unsere Geschlechteridentität sind uns tief eingeprägt und oft unbewusst. Aber in einer Welt, in der wir die Vielfalt integrieren wollen, um gemeinsam eine globale Zukunft zu gestalten, müssen wir viele dieser Annahmen hinterfragen. Dann eröffnet sich ein Ort, an dem wir uns neu begegnen können.

In einem globalen Kontext, der von Vielfalt geprägt wird, ist die Geschlechteridentität eine ständige Konfrontation. Wie wir uns als Männer und Frauen (oder jenseits dieser Unterschiede) erfahren, ist von Kultur zu Kultur, von Ort zu Ort sehr unterschiedlich. Aber ich finde es bemerkenswert, dass es oft schwer für uns ist, dies klar zu erkennen. Und wenn wir es bemerken, dann ist es eine Herausforderung, nicht mit einer persönlichen, emotionalen Reaktion auf diese Unterschiede zu reagieren – oft in Form von Ablehnung. Solche Reaktionen gehen oft besonders tief, weil unser Geschlecht mit der Macht und dem Reiz der Sexualität verbunden ist. Damit meine ich nicht unbedingt Praktiken wie die Genitalverstümmelung bei Frauen. Unsere tief verankerte Geschlechteridentität beeinflusst auch auf subtile Weise, was wir als normal, gut und richtig wahrnehmen. Eine tiefe und unbewusste Anhaftung an unsere Geschlechteridentität kann uns leicht zu subtilen Imperialisten machen.

Unser gemeinsamer Widerstand gegen eine tiefe und konstruktive Konfrontation mit Unterschieden hat vor allem im Westen zu vielen verschiedenen Formen brutaler und subtiler Gewalt geführt. Wenn wir kulturellen Unterschieden begegnen, die den Kern unserer Identität berühren, dann wird die grundlegende »Richtigkeit« unseres Seins in Frage gestellt. Auf dem Weg zu einer integrierten Menschheit müssen wir uns der subtilen Formen der Trennung bewusst werden, die wir als Identität angenommen haben und als »richtig« ansehen. Die Freude und das kreative Potenzial dieser Begegnung über Kulturen und Zivilisationen hinweg werden möglich, wenn wir uns aus dem Gefängnis der alleinigen, ausschließlichen Richtigkeit unserer unhinterfragten Identitäten befreien.

Geistige Versklavung

Ich war um die zwanzig und lebte in Rom. Am frühen Abend ging ich gern in der Stadt spazieren, was für junge Frauen in Italien eher ungewöhnlich war. Ich ging oft zur Piazza del Pantheon, wo viele Menschen waren – Eis und Cappuccino waren dort besonders gut. Junge Männer haben sich in kleinen Gruppen versammelt, in der Hand eine Zigarette und der Rauch umhüllt ihre Gesichter. Die Haare haben sie sorgfältig zu zerzausten Locken gestylt, die über ein Auge herabhängen. Sie unterhalten sich, dabei stehen sie breitbeinig da und schubsen sich gegenseitig mit der Hüfte, wenn sie einem Wort Nachdruck verleihen wollen. Ich halte sie für Schwule. Sie sehen mich, eine Amerikanerin allein am Abend, und halten mich für eine Prostituierte.

Two-Spirits vom Stamm der Onkwehón.

Der europäische Kolonialismus war unvorstellbar brutal, er führte zur Versklavung und dem Tod von hunderten Millionen Menschen. Aber es gab noch eine subtilere Form der Versklavung, die bis heute anhält. Es ist eine Versklavung des Geistes, die Reduzierung von Menschen auf begrenzte Kategorien. Die Form der westlichen Rationalität, die mit den Kolonialmächten importiert wurde, war auf duale Kategorien ausgerichtet: Mann und Frau, heterosexuell und homosexuell, Schwarze und Weiße. Wir westliche Rationalisten können vielleicht nur schwer verstehen, dass viele Kulturen solch eine scharfe Trennung zwischen Frau und Mann, weiblich und männlich nicht kannten. Zudem existierten Rassen nicht als vermeintlich festgelegte biologische Kategorien, die es der Wissenschaft erlaubten, den Ethnozentrismus zu rationalisieren. Es gab eine Vielfalt von menschlichen Ausdrucksformen, die positiv wertgeschätzt wurden, wodurch es ein Spektrum möglicher Verkörperungen von Selbst und Sexualität gab.

In vielen Teilen der Welt, einschließlich Afrika oder bei den indigenen Völkern Nordamerikas, wurden Menschen mit einem männlichen oder weiblichen Körper nicht als Gegensätze gesehen – in einer Hierarchie, bei der die Männer dominierten. In ihrem Buch »The Invention of Women« beschreibt Oyéronké Oyewùmí, dass vor der Kolonialisierung Afrikas die Gesellschaft der Yoruba nicht so organisiert war, dass das Geschlecht eine Kategorie war, die bestimmte, was ein Mensch tun konnte oder nicht. Nach der Kolonialisierung waren die Menschen, die als weiblich gesehen wurden, nicht mehr in der Lage, Führungspositionen einzunehmen. Sie hatten kein Recht auf Besitz und mussten sich auch aus anderen Bereichen ökonomischer Macht zurückziehen. Paula Gunn Allen, die bekannte indigene Autorin aus Amerika, beschreibt für die Stämme der Cherokee und Irokesen ähnliche Beispiele. Nach der Kolonialisierung wurden auch hier den Frauen Rechte genommen, die sie traditionell innehatten, wie das Recht, einen Krieg auszurufen, an öffentlichen Entscheidungen beteiligt zu sein oder die Entscheidung, zu heiraten oder nicht. Sie beschreibt diese Veränderung als einen vergeblichen Versuch, die europäischen Siedler milde zu stimmen, indem man sie nachahmte, um das eigene Land nicht zu verlieren.

Diese fehlende duale Entweder-oder-Hierarchie gab es auch im Zusammenhang mit Sexualität: Die Kategorien homosexuell und heterosexuell existierten nicht. Ähnlich wie in früheren Perioden der europäischen Geschichte, wurde zwar erkannt, dass sich sexuelles Verhalten auf das andere oder das gleiche Geschlecht beziehen kann. Aber das führte nicht zur Schaffung negativer Kategorien, in die ein Mensch eingeordnet wurde. Vor Kurzem wurde der Begriff »Two-Spirit« geprägt, um Menschen aus den indigenen Völkern Amerikas zu beschreiben, die nicht in die dualen westlichen Genderkategorien passen. Es gibt offensichtlich Hinweise darauf, dass es über 130 Stämme gab, die mehr als die beiden Kategorien, die wir als männlich und weiblich bezeichnen, anerkannten. Oft waren diese Two-Spirits hoch angesehene Stammesmitglieder, die wichtige Rollen als Seher, Glücksbringer oder spirituelle Führer inne­hatten. Die Existenz zusätzlicher Geschlechteridentitäten finden wir in Kulturen in Indien und Polynesien, ganz zu schweigen von den gleichgeschlechtlichen Beziehungen, die es seit den Griechen auch in der westlichen Kultur gibt.

Angst vor dem Fremden

Ich laufe den Broadway in New York City entlang, an der progressiven Upper West Side, zusammen mit meinem damaligen afroamerikanischen Partner. Wir reden, aber halten uns nicht an den Händen und berühren uns auch nicht. Erschreckt bemerke ich, dass ein weißer Mann direkt auf mich zuläuft, er scheint nicht zu bemerken, dass unsere Wege sich kreuzen. Ich gehe zur Seite, um nicht angerempelt zu werden. Und dann bemerke ich etwas sehr Beunruhigendes: Viele der Weißen, denen wir auf der Straße begegnen, scheinen mich nicht zu sehen. Ich meine nicht, dass es keinen Augenkontakt gibt oder sie, wie oft auf geschäftigen Straßen, andere ignorieren oder an mir vorbeigehen. Es geht tiefer: Meine Erfahrung ist, dass ich für sie nicht existiere. Es ist so, als wäre dort, wo ich bin, ein leerer Raum. Ich fühle mich merkwürdig aufgeregt und beengt und erzähle meinem Partner davon. Er lächelt etwas und sieht mich von der Seite an: »Ja, so fühlen sich Schwarze meistens.«

Projektion – dieser psychologische Schutzmechanismus – ist im Westen in unserem Umgang mit Menschen aus anderen Kulturen weit verbreitet. Geblendet von dualen Denkkategorien können wir andere leicht als fehlerhaft ansehen, wenn sie nicht in diese Kategorien passen. In der Tat besteht die Tendenz, dass wir angstauslösende Annahmen über den »anderen« entwickeln. Die Völker ganzer Kontinente wurden von Männern und Frauen im Westen als hypersexuelle, nicht-menschliche Tiere gesehen, die von sexueller Begierde und emotionaler Leidenschaftlichkeit bestimmt wurden. Interessanterweise gehören die Merkmale, die unsere Vorfahren auf Menschen aus Afrika, Asien und Amerika projizierten, nicht zum Ideal des westlichen Mannes oder der westlichen Frau. Das sind die Schattenanteile unserer eigenen Geschlechteridentität, deren Folgen die Menschheit in großen Teilen der Welt erleiden musste.

Hijras in Bangladesh. Diese Transgender sind seit Tausenden von Jahren Teil der südasiatischen Kultur

Die viktorianischen Geschlechterideale des rationalen Mannes und der keuschen Frau entwickeln sich nicht von allein. Man braucht eine ganze Kultur, um Jungen dazu zu bringen, sich von sensiblen Gefühlen abzuschneiden und um Mädchen von der Kraft und Begierde ihres Körpers zu trennen. Der Prozess der Entwicklung einer Geschlechteridentität beginnt sehr früh. Kleine Kinder sind im Alter von zwei Jahren sehr neugierig, was »Junge« und »Mädchen«, »Mutter« und »Vater« bedeutet, insbesondere in Kulturen, wo diese Unterschiede sehr stark sichtbar sind. Nach Ansicht des Psychologen Jerome Kagan von der Harvard University beginnen Kinder im Alter von zwei Jahren auch mit der Entwicklung eines moralischen Gefühls. Dieses moralische Gefühl verbindet sich mit der sich entwickelnden Geschlechteridentität – kleine Kinder möchten ein richtiger »Junge« oder ein richtiges »Mädchen« sein. Sie sind von ihren Eltern und ihrer kulturellen Umgebung abhängig, die ihnen zeigen, was das bedeutet. Und sie spüren, dass es sehr wichtig ist, es richtig zu machen. Aus verschiedenen Gründen gibt es bei Jungen, die vor allem von Frauen ohne die Anwesenheit eines Mannes erzogen werden, eine existenzielle Angst, die Kategorien zu überschreiten und sich selbst zu verlieren. Denn wenn das geschehen würde, wären Angst und Scham die Folge.

Unser Gefühl, nach den Normen der westlichen Kultur ein richtiger Mann oder eine richtige Frau zu sein, wird durch Scham begründet. Als Mann unmännlich und »feminin« zu sein oder als Frau eine Hure oder ein »Mannweib« zu sein, ist beschämend. Scham ist die schmerzhafte Erkenntnis, dass man die Standards und Werte nicht erfüllt, die einem als wichtig beigebracht wurden. Die Geschlechterzweiheit ist eine sehr fragile Angelegenheit, denn eine Hälfte aller menschlichen Fähigkeiten ist von vornherein falsch. So ist es sehr leicht, Scham zu empfinden. Scham ist sehr schmerzhaft und die meisten Menschen tun alles, um sie zu vermeiden. Selbst, wenn wir das Menschsein eines anderen Menschen verleugnen müssen.

¬ DIE REDUZIERUNG VON MENSCHEN AUF BEGRENZTE KATEGORIEN IST EINE VERSKLAVUNG DES GEISTES. ¬

Ein Ort der Begegnung

Nur wenige von uns, die in Europa leben – und dieses Magazin lesen – haben bewusst eine viktorianische Geschlechteridentität angenommen, in der klar ist, wie ein richtiger Mann und eine richtige Frau zu sein hat. In den letzten 50 Jahren ist viel passiert, was uns näher zusammengebracht und uns zu ganzheitlicheren Menschen gemacht hat, sodass wir nicht auf eine Hälfte der Polarität beschränkt sind. Aber unsere Geschlechter-identitäten wurzeln in einem sehr jungen Teil des Selbst, aus einer Zeit, als wir kaum laufen konnten und unsere Fähigkeit für Komplexität und Mitgefühl sehr begrenzt war. Unter der Entwicklung, durch die wir gegangen sind, können tief sitzende Glaubenssätze weiterhin sehr stark sein, geschützt von einer unsichtbaren Wand aus Scham.

Eine »Eingeschworene Jungfrau« aus Albanien – eine Frau, die Keuschheit geschworen hat und im Dorf eine männliche Identität und Rolle annimmt.

Viele Jahrzehnte nach dem Ende der Kolonialherrschaft befinden sich viele Menschen in einem tiefen Konflikt zwischen kultureller Authentizität und einer verinnerlichten imperialistischen Sichtweise ihrer selbst als minderwertig. Wenn wir in ein authentisches Gespräch mit Menschen kommen wollen, die zutiefst andere Ausdrucksformen des Menschseins und des Lebens auf diesem Planeten neu beleben und neu wertschätzen, müssen wir bestimmte Annahmen, die unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit bestimmen und strukturieren, in der Schwebe halten können. Wir können diese Annahmen nicht einfach loswerden, aber sie können transparent werden. Die Arbeit an uns selbst, die wir psychologisch und spirituell getan haben, kann nun einem größeren Sinn dienen. Wir erhalten die innere Freiheit, über Denk- und Verhaltensweisen hinauszugehen, mit denen wir subtil eine koloniale Sichtweise bestätigen. Die gleichen globalen Kräfte, die für den Klimawandel und das Artensterben verantwortlich sind, sind auch die Ursache für das Aussterben der kulturellen Vielfalt und kostbarer Formen menschlichen Bewusstseins auf diesem Planeten. Wir wissen nicht, wie sich das auswirken wird.

Wir können viel voneinander lernen und wir haben viel zu tun, um echte Begegnungsorte der Kulturen auf diesem Planeten zu schaffen, in denen Kreativität und Erneuerung lebendig sind. Wie Oyewùmí schreibt: »Im Westen besteht die Herausforderung des Feminismus darin, wie sich Frauen von der Kategorie ›Frau‹, die mit geschlechtsspezifischen Ideen aufgeladen ist, zur ›Fülle ihres Menschseins, das nicht durch das Geschlecht bestimmt ist,‹ entwickeln können. Die Obinrin [Menschen mit einem weiblichen Körper] beim Volk der Yoruba stehen vor einer anderen Herausforderung, weil für sie in bestimmten Bereichen der Gesellschaft die Idee eines ›Menschseins, das nicht durch das Geschlecht bestimmt ist,‹ kein Traum und keine Erinnerung ist.« »Sie existiert«, so sagt sie, »im Konflikt mit den imperialistischen Lebensformen der Moderne.« Ich bin der Ansicht, dass jeder von uns, Frauen und Männer, diese Fülle eines Menschseins, das nicht durch das Geschlecht bestimmt ist, entdecken sollte. Nur wenn wir uns in dem begegnen, was unser Geburtsrecht ist, können wir entdecken, wie wir unsere Unterschiede kreativ nutzen können, um eine integrale Zukunft zu gestalten.

¬ UNSER GEFÜHL, NACH DEN NORMEN DER WESTLICHEN KULTUR EIN RICHTIGER MANN ODER EINE RICHTIGE FRAU ZU SEIN, WIRD DURCH SCHAM BEGRÜNDET. ¬

Author:
Dr. Elizabeth Debold
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