Im Herz des Ungewissen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

November 5, 2018

Mit:
Nicanor Perlas
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 20 / 2018:
|
November 2018
Die Bewusstseinsmaschine
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Das Wunder menschlichen Vernetztseins

Das Internet hat im Bewusstseinsraum ein neues Potenzial menschlicher Vernetzung zum Leben erweckt. In der Pionierzeit des Digitalen lernten wir, uns gemeinsam ins Unbekannte zu strecken und ließen so neue Formen der Ko-Kreation entstehen. Was machen wir aus diesen Fähigkeiten in einer Zeit, in der die Technologie sie wieder zu verschütten scheint?

Wenn ich über den Rand meines Computermonitors nach draußen schaue, kann ich sehen, wie die Bäume am Waldrand sich im Wind bewegen. Durch ihr Wurzelnetzwerk sind sie in der Tiefe des Waldbodens miteinander verbunden. So tauschen sie kontinuierlich Informationen aus. Unser menschliches Wesen ist einer ähnlichen Vernetzung entsprungen. Der spirituelle Aktivist Nicanor Perlas spricht von einer »ursprünglichen Teilhabe an der spirituellen Matrix des Lebens«. Wir waren selbst einst ein gigantisches Netzwerk, allerdings eines vor aller Bewusstheit. Bäume wachsen nicht nur in die Höhe. Mit jedem Zentimeter, den ihre Wurzeln sich in den Boden graben, verbinden sie sich mehr mit ihrem Waldnetzwerk. Als wir als Menschheit zu wachsen begannen, indem wir unseren Selbstsinn entwickelten und die Fähigkeit zu denken, wuchsen wir aus unserem Einssein mit dem Leben heraus. Wir tauschten unser Vernetztsein gegen Individualität und Freiheit. Vielleicht schwingt in unserer Faszination von den virtuellen Netzwerken noch ein wenig mit von der Ahnung unseres menschlichen Ursprungs. Im Internet können wir wieder Teil eines Beziehungsraums werden, der uns mit etwas Größerem verbindet.

Fragen an das Menschliche

Als ich vor gut 20 Jahren damit begann, in die virtuellen Räume vorzudringen, war diese wundersame Erweiterung des Menschseins, die individuelle Freiheit mit neuen Beziehungsformen verband, jedenfalls deutlich spürbar. Im Netz zu sein, bedeutete damals, eine neue Welt zu erschaffen und die eigene Identität in neuen Verbundenheiten wachsen zu lassen. Inzwischen zeigt uns das Digitale auch seine dunklen Seiten. Die Macht der Algorithmen, die heute die Lebendigkeit der sozialen Netzwerke steuern, fordert unsere menschliche Lebendigkeit heraus. Wo das Internet in seinen Anfangstagen noch eine kommerzfreie Zone war, dessen Kultur von uns digitalen Nomaden gestaltet wurde, ist es heute ein Milliardengeschäft von Großkonzernen. Viele, die heute online sind, haben das digitale Leben nur als Konsumgut kennengelernt. Ihr Bewusstsein ist es gewohnt, auf der Basis von Klicks und Likes in Resonanz zu gehen. »Technologie ist ihrem Wesen nach ein Ersatz. Und längerfristig erwächst aus ihr ein Schatten des wirklich Menschlichen, eine Karikatur«, warnt Nicanor Perlas in seinem gerade erschienenen Buch »Humanity’s last stand«. In den Anfangstagen des Internets waren die uns zur Verfügung stehenden Technologien noch so rudimentär, dass der Faktor Mensch die Hauptrolle spielte. Heute kehrt sich dieses Verhältnis um. Das aber führt, so ­Perlas, zu sehr dringlichen Fragen: »Was bedeutet es, zutiefst menschlich zu sein, wirklich zusammen zu wirken und zusammenzuarbeiten?«

Als das Internet zum Medium der Massen wurde, verwandelte sich die digitale Nische in einen Marktplatz.

Digitales Erwachen

Die Vorreiter der digitalen Revolution fühlten sich diesen Fragen zutiefst verpflichtet. Sie erhofften sich, dass aus den isolierten Fähigkeiten menschlicher Einzelwesen ein neues Gewebe der kollektiven Wirksamkeit entstehen könnte. Der Computerwissenschaftler Douglas C. Engelbart träumte 1970 in einem Vortrag von einem »deutlich verbesserten Nervensystem für unsere sozialen Organismen«, gestützt von Plattformen für »kollaborative Dialoge«. Es war der Traum von einer Art globalem Bewusstseinsprojekt, einem Raum des grenzenlosen Zusammenwirkens. 

Als ich in den 1990er-Jahren meine ersten digitalen Gehversuche im FidoNet unternahm, erlebte ich diese kulturelle Aufbruchsstimmung. Das Herz der Plattform war der lebendige Austausch aller Beteiligten. Heute, wo wir es gewohnt sind, immer nur einen Mausklick von der ganzen Welt entfernt zu sein, fällt es uns schwer, das noch als bahnbrechende Errungenschaft wahrzunehmen. Ich hatte als Jugendliche Brieffreunde in Frankreich und Australien, um meine Fremdsprachenkenntnisse zu pflegen und zu erfahren, wie Gleichaltrige in anderen Kulturen lebten. Unsere Briefe waren über Tage, manchmal Wochen unterwegs. Und sie stellten lediglich eine lineare Beziehung zwischen genau zwei Menschen her. Verglichen damit war das FidoNet für mich wie eine Offenbarung. Hier wuchsen unsere Gedanken in den Dialogen, die wir in den Foren führten, über uns hinaus, verbanden sich mit den Ideen anderer und ließen eine lebendige Welt entstehen, die sich immer weiter entfaltete und uns selbst immer wieder aufs Neue inspirierte. Das Internet war das, was wir daraus machten. Und es spiegelte die Ambitionen einer postmodernen Kultur, die nach Gemeinschaftlichkeit, menschlicher Entwicklung und politischer Emanzipation strebte.

Kreative Selbstorganisation

In der Ära bevor die bunten Bilder kamen, war das Netz nicht besonders sexy. Man wählte sich mit einem quälend langsamen Modem in eine Mailbox ein, wartete ewig, bis die Inhalte heruntergeladen waren und navigierte mit kryptischen Tastaturbefehlen durch die Beiträge, die in unformatiertem Text angezeigt wurden. Es waren vor allem Techniker, Wissenschaftler und gesellschaftlich Interessierte, die sich von diesem Möglichkeitsraum angezogen fühlten und die Mühen auf sich nahmen, hier mitzuwirken. Wer zu dieser Zeit online war, wollte etwas geben und sich an etwas Größerem beteiligen, das hier am Entstehen war. 

Das subtile Gewebe der vernetzten Existenz ist kein Konsumgut.

In jedem Forum gab es von der Community gewählte Moderatoren, die auf die Einhaltung angemessener Umgangsformen achteten und Trolle ausschließen konnten. In den Entwickler-Foren, wo unzählige Freiwillige an der Software arbeiteten, die das Netz zum Laufen brachte, bildeten sich natürliche Hierarchien und Entscheidungsstrukturen. Wer viel zu einem Projekt beitrug, hatte entsprechend viel zu sagen. Es war die Frühzeit einer digitalen Evolution, die an ihren Reibungen etwas über sich selbst lernte und daran wuchs. Wir schufen Formen der Selbstorganisation, die nicht auf Macht oder finanziellen Ressourcen basierten, sondern der Entfaltung unserer Kreativität dienten. Unsere Währung war Engagement, denn ohne unser Interesse, selbst Inhalte zu erzeugen, die für andere von Belang waren, wäre unser Netz nicht mehr gewesen als eine virtuelle Einöde. Es war fast so, als entstünde hier eine digitale Polis, selbstverwaltet und selbstregiert und offen für alle, die einen Beitrag leisten wollten. Die Technologie schaffte eine Struktur für unser Zusammenwirken, doch wesentlicher war, dass wir in unserem Miteinander eine Kultur entwickelten, die all die kreativen Prozesse zwischen uns möglich machte und den kollektiven Raum selbst aufrechterhielt.

Die Kraft der Nacktheit

Wir wussten, wer wir im analogen Leben waren. Wer wir unter den Vorzeichen des Digitalen werden konnten, war ein Abenteuer, auf das wir uns einließen, indem wir etwas von uns selbst preisgaben. »Die menschliche Verletzlichkeit, die vor allem aus einem Mangel an Verständnis und Mitgefühl erwächst, wird geschützt durch die Tatsache, dass verletzende Aktionen durch andere in völliger Sichtbarkeit stattfinden«, formulierte Douglas Engelbart sein Vertrauen in die selbstregulierenden Kräfte der Transparenz im Netz. Virtuelle Begegnung bedeutete, sich in ungewohnter Nacktheit einander auszusetzen. Man konnte nie wirklich wissen, mit wem man es gerade zu tun hatte. Da war eine subtile Kraft der Berührung am Wirken. Jedes Posting bedeutete auch eine Öffnung. In dem, was man schrieb, vermittelte sich anderen immer auch etwas von dem, was man selbst war. Hier schimmerte eine Tiefendimension durch, die unsere gewohnten Identitäten zu erweitern schien. In unserem offenen Zusammenwirken entstanden feine neue Gewebe einer Identität, die nicht mehr allein auf uns als Personen verwies, sondern in der auch unser gemeinsamer Raum atmete. Es gab damals natürlich auch schon digitale Reibereien und Konflikte im Netz. Aber viele von uns waren vor allem von dem Staunen beseelt, dass hier eine neue menschliche Möglichkeit zwischen uns aufschien. Die Technik erlaubte es uns, diese neuen Räume zu finden und zu betreten. Wesentlicher aber war, dass hier interessierte Menschen auf andere Interessierte trafen und sich in einer Art sich selbst vervielfältigender Bewegung aus Kreativität und Gestaltungswillen begegneten.

Ein Marktplatz für die Massen

Als das Internet zum Medium der Massen wurde, verwandelte sich unsere digitale Nische in kürzester Zeit in einen Marktplatz. Manche mögen sich noch an die AOL-Werbung erinnern, in der Boris Becker linkisch am Computer hantierte und nach ein paar Klicks erfreut ausrief: »Ich bin drin!« Die kommerziellen Online-Dienste mit ihrer leichten Zugänglichkeit, ihren bunten Benutzeroberflächen und vorproduzierten Inhalten machten das Web in kürzester Zeit zu einem Schlaraffenland des Konsums. Sie boten für ein paar Mark die Stunde auf Mausklick verfügbare Orte des virtuellen Miteinanders. Das hört sich vielleicht ein wenig nach Peep-Show an und irgendwie war es das auch. Ich erinnere mich noch, wie ich im Rhein-Main-Forum von AOL nach Menschen suchte, mit denen ich mich auch offline über meine spirituellen Interessen austauschen konnte. Es kostete mich einige seltsame Treffen, bis ich verstand, dass es denen, die sich bei mir gemeldet hatten, nicht um Bewusstseinsfragen ging, sondern einfach darum, eine neue Partnerschaft klarzumachen. Für viele wurde das Netz in dieser Zeit zu einem willkommenen neuen Kanal der Konsumbefriedigung.

Die um die Jahrtausendwende wie Pilze aus dem Boden schießenden sozialen Netzwerke von Wer-kennt-wen über StudiVZ bis hin zu Facebook interessierten mich schon kaum noch, weil sie oft nicht viel mehr taten als mittelprächtige Konversationen, vor denen ich mich in jeder Kneipe verdrückt hätte, in den virtuellen Raum zu verlagern. Die neuen Reiz-Reaktions-Mechanismen, die sie ins Spiel brachten, etablierten eine gewisse Flachheit als Basis des Austauschs. Daumen hoch oder runter, ein paar Sternchen – mit einem Klick kann man sich heute überall einmischen, aber wie involviert ist man dabei noch? »Für mich wäre eine gesunde Gesellschaft eine, in der nur diejenigen Leute, die Risiken eingehen und deren Folgen auf sich nehmen, eine Meinung von Belang hätten«, sagte der Fragilitätsexperte Nassim Nicholas Taleb anlässlich der Veröffentlichung seines neuen Buches »Skin in the Game«. Gemessen daran ist vieles in den sozialen Netzwerken heute schlicht belanglos. In den Anfangstagen des Netzes ging es noch um unsere Haut, denn Kommunikation bedeutete damals, sich wirklich zu zeigen, sich völlig hineinzubegeben in das Ungewisse. Man konnte sich nicht einfach nur zurücklehnen und kommentieren.

In wirklichen Beziehungen geht es immer auch um die eigene Haut.

Vernetzte Existenz

Mich hat die Frühzeit des Internets so begeistert, weil wir in aller Unschuld versuchten, selbstschöpferische Beziehungsräume zum Leben zu erwecken und dafür alles gaben, nämlich uns selbst. Das funktionierte, weil wir spürten, dass sich hier unser Menschsein in eine neue Dimension des Miteinanders streckte. Meine Versuche, über AOL eine Brücke ins »richtige« Leben zu bauen, hatten wahrscheinlich auch etwas mit der Einsicht zu tun, dass virtuelle Inspiration letztlich nur dann wirklich wird, wenn sie auch im gelebten Leben ihren Ausdruck findet und Konsequenzen hat. Das Wunder, zu dem Menschsein werden kann, wenn es sich bewusst vernetzt, ist sehr real, wenn wir es leben. In den Anfangstagen der digitalen Ära durfte ich daran teilhaben und lernen, wie wir in diese vernetzte Existenz hineinwachsen können. Ihr subtiles Gewebe ist kein Konsumgut. Es spannt sich durch uns auf, indem wir Fürsorge tragen für seine Ganzheit und Integrität. Soziale Netzwerke, Chats, Blogs oder Videokonferenzen können zu Startbahnen werden, zu Biotopen, wenn wir sie bewusst nutzen um he­rauszufinden, was zwischen uns möglich ist. Was hier zählt, sind unsere Hingabe und unsere Sehnsucht nach dem Wesentlichen. Die Technologie selbst ist nur eine leere Hülle und kreiert heute vielfach eine von Algorithmen angetriebene Scheinlebendigkeit. Doch die grundsätzlichen menschlichen Fähigkeiten, die wir in der frühen Netzzeit in unserer Auseinandersetzung mit dem Digitalen erweckt und erprobt haben, die sind echt.

In den verschiedenen Feldern der Bewusstseins- und Kultur­entwicklung, in denen ich heute aktiv bin, erlebe ich immer wieder, welche Kraft kollektive Bewusstseinsräume entwickeln können, in der persönlichen Begegnung wie auch im Virtuellen. Ihre Lebenskraft ist unsere Offenheit und Berührbarkeit. Wenn wir ein Gespür dafür entwickeln, dass zwischen uns eine tiefere Möglichkeit lebendig werden kann, und wenn wir den Willen haben, diese Möglichkeit gemeinsam zu gestalten, erwacht das menschliche Internet zum Leben. Es ist an uns, aus diesem Potenzial etwas zu machen.  

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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