Im Koan des Lebens ankommen

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

July 16, 2020

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Ausgabe 27 / 2020:
|
July 2020
Schönheit
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In rasanter Geschwindigkeit erleben wir, wie ein vertrautes, kontrollierbar wirkendes Lebensumfeld in viele unbekannte, nur bedingt steuerbare Facetten zerfällt. Mir erscheint es, als würde dadurch eine Realität aufgedeckt, in der wir uns schon lange bewegen, die wir aber bisher nicht anerkennen konnten.

Wir Erdenbürger haben uns miteinander in eine undurchschaubare Komplexität und Dynamik von Wechselwirkungen hineinmanövriert, die weder zu durchschauen noch zu kontrollieren oder bewusst zu steuern sind. Viele Organisationen kämpfen schon lange damit und bemühen sich um Konzepte. VUCA ist ein beispielhaftes Modell, ein Akronym für Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität, was für Widersprüchlichkeit steht.

Schon vor Corona war klar, dass unsere etablierten Systeme mit ihren bisherigen Kontrollfunktionen, Regeln, Strukturen und herkömmlichen Steuerungstools keine ausreichende Antwort mehr geben. Viele taten so, als hätten sie ihr Geschäft noch im Griff, das stimmt aber nicht. Die Rahmenbedingungen der weltweiten Finanzund Wirtschaftsarchitektur schafften eine fest zementierte Zwangsjacke aus ständig wachsenden, maximierenden Zielen und zu knappen Ressourcen. Zwangsläufig kam es zu einer permanenten Überforderung und Ausbeutung von unterschiedlichen, aufeinander einwirkenden Systemen und von Menschen auf körperlicher, emotionaler, seelischer und auch mentaler Ebene.

CORONA LÄDT EIN, ALLE IRRITIERENDEN, BEFREMDLICHEN, BEÄNGSTIGENDEN EMPFINDUNGEN UND EINDRÜCKE NICHT WEG ZU THEORETISIEREN.

Deshalb wurde die Frage, wie Organisationen ihre innere Resilienz stärken können, zu einem dringenden Anliegen. Ein Zeichen von unternehmerischer Resilienz sind funktionierende, diversifizierte, tragende Netzwerke, die unter starker Belastung nicht zusammenklappen oder gar reißen. Ein lebendiges, Komplexität integrierendes System spielt täglich auf der reichen Klaviatur von gemeinsamer Reflektion, emotionalem Verstehen, kluger, schneller Abstimmung, klarer Priorisierung und entschiedenem Handeln. Bemühungen, solch eine Kultur der Resilienz auf individueller, sozialer, organisationaler und gesellschaftlicher Ebene anzusteuern, waren aus meiner Sicht bisher nur bedingt erfolgreich. Letztlich zeigte sich, dass es ohne konsequenten Systemwandel, innerlich wie äußerlich, zu keiner wirklichen, tragfähigen Veränderung kommen kann. Und zu so einem radikalen Schnitt konnten wir bisher noch nicht den Mut fassen.

Nun leben wir in einer Unterbrechung. Corona deckt bisher Verborgenes auf. Zunächst: Wo stehe ich mit mir selbst? Was irritiert mich, bringt mich aus der Fassung, beängstigt mich, und wo bleibe ich gelassen und fühle festen inneren Grund, auf dem ich unabhängig von äußeren Geschehnissen stehe? Wie tragend erfahre ich mein familiäres und soziales Beziehungsgeflecht? Wie stabil und gleichzeitig flexibel ist die Organisation aufgestellt, in der ich arbeite? Welche Werte vertritt sie? Wie steht es um die Zusammenhänge im gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Leben?

Corona wirkt wie ein Brennglas. Es ist zu erkennen, dass es keine allgemeingültige Wahrheit gibt, denn wir alle wissen viel zu wenig, wir verfolgen nur Annahmen. Die Brille, durch die ich diese Situation deute, setzt sich aus meinen bewussten und unbewussten Lebenserfahrungen zusammen, aus Mustern und Prägungen, meinen individuellen Schmerzpunkten, Ängsten und meinen bisherigen Bewältigungs- bzw. Abwehrstrategien. So geht es allen. Jede Äußerung ist letztendlich ein individuell gefärbtes Wirklichkeitskonstrukt. Aus einer persönlichen Betrachtung eine allgemein gültige Wahrheit abzuleiten, scheint mir menschlich verständlich, doch gerade jetzt sehr kurzsichtig. Es ist eine große Leistung, die Fliehkräfte auseinanderdriftender Meinungen und emotional aufgeheizter Standpunkte auszuhalten und sie in einem möglichst demokratischen, abwägenden Prozess der offenen Reflektion in einen möglichst sinnvollen Handlungskorridor zu überführen.

Corona lädt ein, alle irritierenden, befremdlichen, beängstigenden Empfindungen und Eindrücke nicht weg zu theoretisieren, nicht in Stellungnahmen und Argumentationsketten zu flüchten. Diese Situation, beispielhaft für unser ganzes Leben, lässt sich mental nicht in den Griff bekommen, dazu ist sie zu vielschichtig.

Wie ein Koan wirkt sie paradox, unverständlich, mental unlösbar. Erst durch tieferes Einlassen auf unsere inneren Wesenskräfte wie Gegenwärtigkeit, Klarheit, Offenheit und Lebendigkeit kann sie ihre transformative Kraft entfalten. Hier liegt für mich die tiefste Quelle der Resilienz und die größte Wendekraft für eine neu gestaltete Zukunft, für einen Systemwandel von tief innen nach außen.

Author:
Sylvia Kéré Wellensiek
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