Im offenen Horizont

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Interview
Publiziert am:

February 2, 2024

Mit:
Christian Lehnert
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AUSGABE:
Ausgabe 41 / 2024
|
February 2024
Leben, Tod
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Über die Grenzen der Sprache hinaus

In den Gedichten und Essays von Christian Lehnert verbinden sich poetisches Staunen und religiöses Fragen. In seinen Werken begibt er sich an die Grenzen menschlicher Existenz und lotet die Beziehungen zur Natur und zur transzendenten Wirklichkeit aus.

evolve: Was war der Auslöser dafür, dass Sie sich dem poetischen Schreiben zugewandt haben?

Christian Lehnert: Diese Frage ist gar nicht so einfach zu beantworten. Ich kann den Anfang nicht bestimmen. Im Grunde genommen gilt das für alle Anfänge: Sie liegen vor uns und wir reflektieren sie nur im Nachhinein als Anfänge. Bei Ihrer Frage ist es besonders schwierig, weil ich seit meinem intellektuellen Erwachen, seit sich in mir das kleine Wörtchen »ich« formte, Verse schreibe.

Eine existenzielle Dringlichkeit bekam das Schreiben, als ich in den späten 1980er-Jahren in der DDR den Wehrdienst verweigerte. Als Bausoldat musste ich in einer Maschinerie existieren, die auf Persönlichkeitsdissoziation ausgerichtet war, so dass es viel Energie kostete, das eigene Selbstgerüst zu erhalten. Für mich wurde das Schreiben zu einem Refugium für die eigene Identität.

Eine Öffnung für Wirklichkeit

e: Ist diese existenzielle Dringlichkeit auch der Grund dafür, sich mit Religion zu beschäftigen?

CL: Ja. Ich bin in der DDR zweisprachig aufgewachsen. Mit einer Sprache für die Welt draußen, wo man einen Klassenstandpunkt einnehmen und sich überlegen musste, was man sagen darf. Und es gab eine Welt zuhause, die freier war, aber auch viel verschwieg. Ich hatte als Kind wenig Orientierungspunkte für eine mit Worten gegebene Wahrheit. Ich lebte in einem sprachlichen Gehäuse, wobei sich Sprachmuster bleiern über das Denken legen.

Die Poesie lebt aber aus dem Gefühl dafür, dass in der Sprache die Welt eigentlich erst entsteht. Die Sprache ist kein Gehäuse, sondern eine Öffnung für Wirklichkeit. Das war bei mir elementar verbunden mit einem religiösen Interesse. In einem Atemzug tat sich die Transzendenz auf in zwei Modi, nämlich im Modus der Poesie, die über die Sprache hinausgreift in das Ungesagte, und im Modus der Religion. Beides war verstörend. Meine ersten Gottesdienste waren mit tiefer Befremdung verbunden, aber auch mit einer großen Neugier. Die traditionellen Formulierungen klangen für mich im höchsten Maße innovativ. So etwas hatte ich noch nie gehört.

e: Wie verstehen Sie den Bezug zu diesen beiden Transzendenzen, der religiösen und der poetischen Erfahrung und Sprache?

CL: Die Poesie ist eine Bewegung, die über die Grenzen der Sprache hinausgreift. Gedichte entstehen dort, wo mir ein Ausdruck fehlt und gleichzeitig das Aussagebedürfnis so stark ist, dass ich nicht schweigen kann. Dann entstehen poetische Bewegungen an der Grenze. Sie sind immer ausgreifend, immer in Bewegung über das hinaus, was ich schon sagen kann. Dasselbe geschieht in der Religion.

»Die Poesie lebt aus dem Gefühl dafür, dass in der Sprache die Welt eigentlich erst entsteht.«

Ich betrachte manchmal das Christentum wie ein großes Gedicht, an dem über Jahrtausende Menschen geschrieben haben. Das ist auch eine Bewegungsform, die an dieser Grenze ausgreift in das, was noch nicht gesagt ist. In das Undenkbare, das mit dem Geheimnis Gottes gegeben ist. Dieses Geheimnis dringt in religiöse Sprachformen hinein – und diese sind immer merkwürdig untauglich in dem, was sie ausdrücken. In dem Moment, wo ­eine Religion sich ideologisch verfestigt, hat sie ihren eigenen Wesenskern verloren. Sie ist immer untauglich in dem, was sie sagt, aber höchst kraftvoll auf das gerichtet, wohin sie verweist. Sie ist unterwegs in eine Beziehung, die ins Offene greift. Die große Kraft geht von der Offenheit aus, nicht von dem, was gesagt wird.

Etwas Ähnliches geschieht im Gedicht. Es kann das, was es noch nicht sagen kann, durch die eigene Anwesenheit als merkwürdig poröses Sprachgebilde verwirklichen.

Primäre Energie der Aufmerksamkeit

e: Können Sie noch etwas ausführen, was Sie mit dem Ausgreifen ins Offene meinen?

CL: Ich vermute, dass die primäre religiöse Begabung eigentlich die der Aufmerksamkeit ist. Im Glauben werde ich aufmerksam für das, was ich noch nicht kenne, für das Unerhörte, für das, was ich noch nicht sehe, für das, wofür ich noch keine Worte habe. Für die Offenheit im radikalen Sinne, wo genau genommen das Wort »Offenheit« auch nicht mehr taugt; auch das Wort »Gott« taugt hier nicht mehr. Denn durch eine lange Begriffsgeschichte schränkt es diesen offenen Raum bereits wieder ein. Aufmerksamkeit heißt: offen werden für das Fremde, das mich in allem, was ich verstehe, übersteigt, und alle Worte können es nur andeuten.

Aufmerksamkeit ist auch die primäre Energie des Schreibens. Ich lausche auf das, was ich noch nicht kenne. Ich bin schreibend permanent unterwegs an der Grenze dessen, wofür ich noch keine Worte habe – in der Natur, in der eigenen Seele, in Geschichtserinnerungen.

Dasselbe passiert in der Spiritualität. Ich lausche auf das hin, was ich noch nicht ­habe. Religionen als Institutionen haben in den großen Verunsicherungen der Gegenwart die Tendenz, sich als Raum der Beheimatung zu beschreiben, in denen man Sinn, innere Kraft und Trost findet. Das ist alles wichtig, aber dieser Trost und diese Kraft gründen auf etwas, das jenseits alles denkbaren Trostes und jenseits aller möglichen Hoffnung liegt.

e: Wie kommen Sie in diesem Prozess der Offenheit zu den Themen Ihres Schreibens?

CL: Der Anfang des Gedichtes oder der Erzählung ist ein Vermissen, das Gefühl, dass mir der Ausdruck fehlt. In dieses Fehlende dringt zuallererst eine Art Klanggefühl oder eine Atmosphäre, die Sprache wird. Dann gerinnt ein Gegenstand. Es ist manchmal auch etwas sehr Konkretes, was auf mich zukommt, mich anspricht, mich überrascht.

Auch hierin berühren sich Schreiben und Spiritualität: Religiosität setzt nicht damit ein, dass ich von irgendetwas überzeugt werde, sondern dort, wo ich in mir eine fundamentale Offenheit, ein Nicht-ganz-zuhause-Sein in mir selbst und in der Welt empfinde: Etwas fehlt.

An der Grenze

e: In dem Essayband »Ins Innere hinaus« sprechen Sie über numinose Kräfte, die Begegnung mit Engeln. Was hat Sie daran fasziniert, solchen Kräften nachzugehen, die uns in Berührung mit dem Göttlichen bringen, aber doch so unfassbar sind?

CL: Engel sind Wesen, die an der Grenze stehen. Sie verkörpern augenblickshaft die Offenheit, die ich soeben – nach Worten ringend – versucht habe zu beschreiben. Wenn man in die biblische Überlieferung schaut, sind Engel sehr oft reine Sprachereignisse. Ein verkörperter Satz, eine verkörperte Erkenntnis, ein Traum, der als Wesenheit wahrgenommen wird.

Engel verkörpern die Grenze. Sie stehen mit einem Bein in mir, und mit dem anderen Bein stehen sie in dem Anderen, wofür ich noch keinen Ausdruck habe. Als Grenzbewohner sind sie immer vollständig subjektiv. Wenn ich jemandem von einem Engel erzähle, lässt sich das sofort dekonstruieren und kritisch hinterfragen. Gleichzeitig sind Engel vollständig objektiv. Denn jeder, der so eine Erfahrung hatte, weiß, dass man sich ihr nicht entziehen kann.

Engel sind Chiffren für religiöse Erfahrungen an sich. In ihnen kommt mir etwas als fremd entgegen und ich versuche, es »als etwas« zu verstehen. Dann sage ich »Engel«. Das ist der erste Deutungsversuch. Ich werde angesprochen und ich antworte. Deshalb sind Engel wesensverwandt mit literarischen Texten. Weil diese, genauso wie Engel, nichts beweisen können, nur für sich selbst stehen, ihre Überzeugungskraft nur in sich selbst haben und von etwas erzählen, was sonst nicht vorkommt, was an der Grenze haust.

e: Engel und literarische Texte sind beides Beziehungsphänomene. Wie erleben Sie diese Beziehungswirklichkeit?

CL: Das ist der Wesenskern. Ich empfinde den Engel als Person oder als Verweis auf ­eine Person. Das ist ein wesentliches Moment religiöser Erfahrung für mich. Diese Urerfahrung, dass da etwas ist, was ich nicht kenne, hat einen personalen Charakter. Vorsichtiger sollte ich vielleicht sagen: Ich erfahre es als Person. Es ist nicht nur eine Naturkraft oder eine kosmische Größe, und wenn der Begriff der »Person« hier wieder zu kurz greift, dann musss ich sagen: Es ist mehr als eine Person, nicht weniger. Wenn ich es beschreibe, wird es schnell anthropomorph und kippt ins Klischee. Deshalb bin ich da vorsichtig. Es geht hier um Winke, Hinweise auf etwas, was jenseits der Bilder liegt. Es geht um Wegzeichen, die in die Ferne weisen – und ihr eigentlicher Sinn ist die Beziehung, das Wagnis des Gehens.

Angesprochen sein

e: In dem Gedichtband »Im Flechtwerk«, aber auch an anderen Stellen in Ihrem Werk, hat die Beziehung zur Natur eine große Bedeutung. Wie ereignet sich diese Beziehung für Sie?

CL: In der Natur begegnet mir eine Grenze des Menschlichen. Noch niemals in der Geschichte lebten Menschen so weitgehend in menschengemachten Räumen wie wir heute. Wir haben kaum mehr Berührungen mit nicht von Menschen gemachten Horizonten. Einer der wenigen Räume, in denen das geschieht, ist die Natur. Für mich ist das weniger die Landschaft, der Wald, denn auch das sind meistens menschengemachte Räume. Die Wälder im Erzgebirge, durch die ich laufe, sind bei Licht besehen Holzplantagen. Die Befremdung, welche die Romantiker »Wildnis« nannten, erfahre ich in Details, im Kleinen, in Milben und Springschwänzen, in Insekten und Mikroben. Dort begegnet mir Fremde.

»Ich bin schreibend permanent unterwegs an der Grenze dessen, wofür ich noch keine Worte habe.«

Die Naturgedichte vollziehen in der Horizontale, was die Religion in der Vertikale vollzieht: eine Öffnung, eine Befremdung. Zudem rechnen diese Gedichte damit, dass sich in der sinnlichen Erfahrung ein Sinn verbirgt. Durch die sinnliche Erfahrung bin ich angesprochen: Wenn der Wurm über das Blatt kriecht und ich ihn sehe, dann meint er mich. Die deutsche Sprache hat dafür die schöne Bezeichnung »etwas zeigt sich«. Das bunte Blatt oder die Wurzel in ihrer besonderen Form zeigen sich mir. Sie machen sich mir sichtbar und von mir wird eine Antwort gefordert. Diese Antwort vollziehe ich oft zunächst im Raum des Gedichts. Doch diese Antwort geschieht auch in vielen anderen Daseinsvollzügen, in Verantwortlichkeiten.

Ich rechne damit, dass ich in den Phänomenen, die sich mir zeigen, angesprochen bin. Dass das, was sich da zeigt, eine eigene Aktivität ist, die mich als Subjekt fordert, ja im Grunde formt. In der Natur erfahre ich eine Eigenkraft, die in den Phänomenen liegt. Und das führt zu einer fundamental anderen Natursicht als die, die unsere Gesellschaft heute meist prägt. Die Natur lässt sich dann nicht mehr als Rohstoff und Ressource betrachten, auch nicht mehr als Umwelt, auch nicht als irgendein Raum, den ich gestalte, sondern als ein Beziehungsgeschehen.

e: In Ihren Werken zitieren Sie immer wieder Mystiker wie Jakob Böhme oder Meister ­Eckhart. Wie erleben Sie den Bezug zur Mystik?

CL: Ich bin nicht religiös aufgewachsen. Religion war für mich zuerst eine Brucherfahrung. Das machte mich von jeher sensibel für das ganz Andere Gottes. Die Mystik verbindet zwei konträre Energien, die ich von mir gut kenne. Auf der einen Seite ist da das deutliche Gefühl für die vollständige Entzogenheit Gottes. Gott ist ein Geheimnis, an das kein Bild, keine Abbildung, kein Wortgebilde, kein Ritus heranreichen. Auf der anderen Seite lebt die Mystik von starken religiösen Erfahrungen. Das völlig Entzogene zeigt sich in starker sinnlicher Erfahrung. Diese beiden paradoxen Pole prägen auch mein religiöses Leben.

Bei Jakob Böhme interessiert mich noch ein weiterer Aspekt: Er rechnet in allen sinnlichen Erscheinungen, in jedem Naturphänomen mit einem fundamentalen Offenbarungsgeschehen. Diese sprühende Lebendigkeit, wo Gott zu einem riesigen kosmischen Organismus wird, ist etwas Wunderbares.

Der Einbruch des Anderen

e: Sie haben angesprochen, dass Menschen in der Religion oft Gewissheiten suchen. Gleichzeitig widerspricht diese Gewissheit der mystischen Erfahrung. Wie gehen Sie damit um?

CL: Das ist die Crux, in der Religion immer steht und weshalb sie auch ganz schnell ins Ideologische kippt. Die Hoffnung, die Religion vermittelt, liegt jenseits dessen, was ich hoffen kann. Es ist ein Trost jenseits dessen, was ich verstehen kann. Hier haben viele Zeitgenossen ein Problem, weil Religion eine Beziehung verlangt, die ins Ungewisse mündet, die nicht handhabbar ist, dazu auch noch augenblicks­haft veränderlich.

Auch Gedichte haben so etwas Augenblicks­haftes, aber das kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie das Ergebnis einer zähen, langen Überarbeitung und sprachlichen Arbeit sind – mit 30, 40 verschiedenen Fassungen, an denen ich feile und die ich immer wieder neu umstelle. Genauso ist es in der Religion. Der Einbruch des Anderen ist das eine. Die Offenheit und Aufmerksamkeit dafür muss man üben. Man verharrt über Tage im Schweigen oder lebt im Herzensgebet in einer mantra­artigen Wiederholung von Worten, ohne dass irgendetwas passiert. Man betet lange, bleibt aber innerlich leer. So ist es oft. Aber es passiert eben doch etwas – nur außerhalb unserer autonomen Selbstwahrnehmung. Das sind hohe Hürden für zeitgenössische Menschen. Man muss sich einlassen auf etwas, was unverfügbar ist. Auf einen offenen Horizont, auf die eingeübte Verletzlichkeit des eigenen Ichs.

e: Wie erleben Sie Ihr Schreiben im Kontext unserer Zeit?

»Der Anfang des Gedichtes oder der Erzählung ist ein Vermissen, das Gefühl, dass mir der Ausdruck fehlt.«

CL: Ein literarischer Text, ein Kunstwerk, ein Gedicht steht mit einem Bein in der Zeit und mit einem anderen Bein anderswo. Beide Beine braucht es. Gedichte oder Erzählungen stehen vollständig in der Zeit. Die Perspektive, die sie einnehmen, ist dennoch implizit zeitkritisch, weil sie auf andere Räume weisen – auf Träume oder andere Lebensmöglichkeiten, Utopien oder Ganzheitserfahrungen. Sie unterwandern einen technisch-rationalen Zugriff auf die Wirklichkeit, der sie Zwecken unterordnet. Sie fragen, allein durch ihr Dasein, warum alles so ist, wie es ist, und warum es überhaupt ist. Sie durchlöchern ein Modell, in dem sich die meisten Menschen heute unreflektiert bewegen: ein autonomes abgeschlossenes Subjekt, das frei in einer Wirklichkeit von objektiv existierenden Dingen handelt, diese verwendet und erforscht. Aber Literatur und Kunst machen das Ich porös und die objektive Welt lebendig.

Das hat wieder zeitkritische Seiten: Die ganze ökologische Krise etwa ist auf einer technischen Ebene nicht lösbar. Es bedarf veränderter Wahrnehmungsformen, eines veränderten Bewusstseins des eigenen Ortes und atmenden Verwobenseins innerhalb der Natur.

Verunmöglichte Beheimatung

e: In Ihrem neuen Buch »Das Haus und das Lamm«, thematisieren Sie Endzeitvorstellungen im Zusammenhang mit der Apokalypse des Johannes. Erleben Sie unsere Zeit als eine solche Endzeit?

CL: Dieses Buch wendet sich letzten Grenzen zu. Es besteht aus zwei Strängen. Da ist ein Ich-Erzähler, der in einem einsamen halb zerfallenen Gehöft im Osterzgebirge versucht, einen Ort für sich zu finden. Er unternimmt Naturgänge und denkt darüber nach, was Wohnen oder Heimat eigentlich sein sollen. Dann – das ist der zweite Strang – liest und reflektiert er die Johannesapokalypse als einen Text, der alle Beheimatung verunmöglicht. Er denkt über das Wesen der Geschichte nach: Hat sie eine Richtung? Einen Sinn? Er fragt, woher das Böse kommt und was der Tod bedeutet. Er fragt nach dem Sinn des Leidens, und er sucht Antworten in einem religiösen Grundtext unserer Kultur, der wie kein anderer geprägt hat, was wir als Zeit und Zeitläufe verstehen. Er lässt vor allem die Bilderwelt dieser großen antiken Dichtung auf sich wirken.

e: Sehen Sie die poetische und religiöse Schulung der Aufmerksamkeit als eine Zuflucht angesichts heutiger Krisennarrative?

CL: Die Johannesapokalypse entsteht in einem Augenblick tiefster Verstörung, dem Einbruch einer Vision. Johannes versucht, das Unsagbare in Bilder zu bringen und blättert einen Bilderbogen von Geschichtserzählungen auf. Darin mischt sich höchste Dramatik der Geschehnisse mit einer zeitlosen Ewigkeit, die darunter liegt. Johannes führt uns immer wieder in eine Bewegung und gleichzeitig in ein zeitloses, ewiges Jetzt eines jenseitigen Augenblicks, in dem er Ende und Anfang sieht.

Krisennarrative konstruieren immer einen Kipppunkt, wo das Alte vergehen muss, damit das Neue kommt. Krisennarrative bestimmen das moderne westliche Selbstverständnis, das alles von der Zukunft erhofft und auf Fortschritt setzt. Diese Narrative werden dann gefährlich, wenn Zukunftsbilder sich verselbständigen und mit quasi-religiösen Hoffnungen verbinden, wie etwa im Marxismus oder in einer unkritischen Wissenschaftsgläubigkeit.

Johannes lässt das Ende offen, deutet es nur in Bildern an – betörenden Bildern, aber es sind Bilder. Der Text bewegt sich hin auf eine offene Stelle, die er selbst nicht besetzen kann.

Author:
Mike Kauschke
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