Die wissenschaftliche Weltsicht hat uns nie gekannten Wohlstand ermöglicht und die Welt in Vielem erklärbarer gemacht. Sie hat aber auch zur Gefährdung unserer Lebensgrundlagen geführt. Es scheint notwendig, die Grenzen der Wissenschaft zu erweitern. Aber wie? Wir haben fünf Menschen, die sich in ihrer Arbeit mit der Wissenschaft auseinandersetzen, gefragt:
Wie sollte sich die Wissenschaft weiterentwickeln?
Die Wissenschaft muss wissenschaftlicher sein! Das heißt, weniger dogmatisch, offener in der Entscheidung darüber, was es wert ist, erforscht zu werden. Das geht Hand in Hand mit der Tugend der Bescheidenheit – sowohl in Bezug darauf, was wir wissen, als auch darauf, was wir jemals sicher wissen können. Die Physik umfasst ein Universum, in welchem Materie und Bewusstsein nicht voneinander zu trennen sind; in welchem nicht-materielle Kräfte auf Entfernung auf Materie einwirken; in welchem das Ganze genauso wichtig ist wie die Teile; in welchem nichts aus seinem Zusammenhang gerissen werden kann, ohne dadurch tiefgreifend verändert zu werden; in welchem Systeme intrinsisch, nicht zufällig als komplex und unvorhersehbar erfahren werden, und in welchem lineare Mechanismen nur eine geringe Rolle auf lokaler Ebene spielen.
Warum hinken die sogenannten »Biowissenschaften« mindestens 100 Jahre hinterher? Nahezu alle großen Entdeckungen der Naturwissenschaften, wie zum Beispiel in der Mathematik, sind abhängig von der Vorstellungskraft. Das wiederum bedeutet, dass Wissenschaftler von einer breiter gefächerten Ausbildung profitieren würden. Spezialisten werden zwar gebraucht, aber nicht jeder sollte ein Spezialist mit engem Forschungsbereich sein. Und wir brauchen eine Trendwende weg von immer größeren Forschungsgruppen, die von enormen finanziellen Mitteln abhängig sind. Denn in einer solchen Umgebung wird weniger innovativ und experimentierfreudig geforscht, und die Notwendigkeit, sich anzupassen und einzufügen, verhindert kreatives Denken.
Dr. Ian McGilchrist, Psychiater und Autor.
Die Wissenschaft sollte institutionell unabhängiger werden: von der Wirtschaft in den Naturwissenschaften, von Kirchen und Konkordatsverhältnissen in Philosophie und Religionswissenschaft (keine Glaubensverkündigung an den Universitäten!), von der Politik allgemein. Dies erfordert Fortschritte der Demokratie in Richtung Eigenständigkeit der kulturellen Ebene des Staates (Wertstufendemokratie).
Zudem sollten angehende Wissenschaftler der Wahrheitssuche strenger verpflichtet werden (statt einem Pfründen- und Statusdenken). Diesbezüglich müsste eine charakterliche Schulung und Selbst-Auslese stattfinden.
Integrale Offenheit für die ganze Wahrheit ist mit jedem fachlichen Zugang vereinbar, jedoch nicht mit Fachidiotie. Ein transdisziplinärer, kooperativer und insofern philosophischer Geist ist wieder fächerübergreifend zu pflegen. »Integrales Denken« darf jedoch keinesfalls zu schwammigem Denken führen! Wissenschaft ist selbst streng diskursiv, doch dabei um die Grenzen des Diskurses wissend, also nicht rationalistisch-eng, z. B. Gefühl und Intuition verkennend.
Geisteswissenschaften müssen begriffsschärfer werden, sich nirgends mit bloßem Jagen und Sammeln historischer Einzelkenntnisse begnügen. Interkulturelle Offenheit ist nicht mit Relativismus aller Begriffe zu verwechseln. Naturwissenschaften dürfen nicht länger tendenziell mit dogmatischem Materialismus gleichgesetzt werden. Im Sinne einer Gemeinwohlverpflichtung sollte sich die Wissenschaft auf die Bedürfnisse der Allgemeinheit beziehen, aber nicht opportunistisch sein. Verständliche Begriffsbildung ist nötig, kein Prestigejargon. Und die Wissenschaft sollte weltweit vernetzt agieren – ohne Tagungstourismus profitierender »Insider« einer »Scientific Community«.
Prof. Dr. Johannes Heinrichs, Professor für Philosophie u. Sozialökologie a. D.
Was ist problematisch an unserem gegenwärtigen Wissenssystem? Wie alle gesellschaftlichen Bereiche leidet auch unser Tun in den Wissensräumen unter einem radikalen Fokus auf das moralische Primärhandlungssubjekt: »der« Mensch – im – oder explizit als weiß, männlich, westlich, heterosexuell, un-»behindert« und monogam definiert. Alle (nicht-)menschlichen Abweichungen von diesem Norm(al)verständnis erhalten einen schlechteren Status im moralischen Universum oder werden als moralisch irrelevant daraus ausgeschlossen. Mit ihnen darf also entweder anders umgegangen werden oder es darf gleich alles mit ihnen gemacht werden, was das moralische Primärhandlungssubjekt will. Unser Wissenssystem ist exklusiv/exkludierend.
Ein praktischer Vorschlag für ein inklusives/inkludierendes Wissenssystem: Wissenserschaffung statt Autor*innenschaft. Nicht mehr ein Mensch bzw. eine Reihe einzelner Menschen schreibt einen Text (entwickelt eine Theorie, führt einen Laborversuch durch etc.), sondern der Text entsteht aus dem Zusammenwirken unterschiedlichster (nicht-)menschlicher Entitäten. Der Prozess der Textentstehung ist im Mittelpunkt, nicht die Frage, wer ihn geschrieben hat. Gehörten z. B. schöpferische Kraft/Liebe, Autokoinonie (Sarah Hoaglands relational in der Gemeinschaft entstehende Version von Autonomie), Diversität, Differenz und Solidarität zu den Textentstehungskriterien? Dann ist es ein (guter) Text. Es würde unser Wissenssystem auf den Kopf stellen, wenn die Frage danach, was (gute) Wissenschaft ist, nicht mehr an das Wer des Wissen Schaffens gebunden ist, sondern von dem Schaffensprozess selbst abhängt.
Dr. Janina Loh, Universitätsassistentin (Post-Doc) im Bereich Technik- und Medienphilosophie an der Universität Wien.
Stets versuchten die Naturwissenschaften, sowohl Phänomene zu hinterfragen und Gesetzmäßigkeiten zu formulieren als auch ihr Forschen in den Dienst der Menschheit zu stellen. So war und ist die Wissenschaft ein treibender Motor für unsere hoch technologisierte Welt, in der das früher so mühsame Leben für einen Teil der Bevölkerung deutlich angenehmer und materiell reicher geworden ist.
Doch diese »künstliche Welt« hat uns zunehmend von der Natur entfremdet und uns mehr und mehr der Verbundenheit beraubt. Zahlreiche wissenschaftliche Entwicklungen haben zu einer Bandbreite von digitalen Medien geführt und viele neue Formen der Kommunikation und Verbundenheit ermöglicht. Unser Bewusstsein erstreckt sich nun in eine virtuelle Welt hinein. Gerade dabei merken wir mehr denn je, dass die Grundlage unserer menschlichen Existenz immer noch jene reichhaltige Natur ist, die nun aufs Höchste bedroht ist. Wir erkennen, dass unser Lebensstil innerhalb weniger Jahrzehnte zahlreiche Lebensformen auslöscht, die über Jahrmillionen entstanden sind.
Immer deutlicher treten die Möglichkeiten, aber auch Grenzen der Wissenschaft zutage. Aus dieser Erkenntnis heraus sollte nun ein neuer Impuls die Wissenschaft dominieren, um neue Lösungen zu finden; Lösungen, die unsere Lebensweisen verändern, um nicht unumkehrbar aus dem Paradies der wundersamen Balance der Naturvorgänge vertrieben zu werden. Auch die Bewusstseinswissenschaften sind hier zu ihrem Beitrag aufgefordert. Möglicherweise wird sich auch das Wissenschaftsparadigma weiten, ähnlich einem Paradigmenwechsel, wie er sich in der Physik bereits mehrmals vollzog. Vielleicht wird die zukünftige Wissenschaft dann eine beseeltere Wissenschaft werden, die sich primär in den Dienst der Rückverbindung der Menschen mit ihren Lebensgrundlagen stellt – einem fast religiösen Ziel.
Prof. Dr. Thilo Hinterberger, Leiter des Forschungsbereichs für Angewandte Bewusstseinswissenschaften am Universitätsklinikum Regensburg.