Im Spektrum: Eine Zeit, die uns fordert

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

November 6, 2020

Mit:
Dr. Anna Gamma
Dr. Elke Fein
Sylvia Kolk
Dr. Jens Heisterkamp
Prof. Dr. Claus Eurich
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AUSGABE:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
Diese Ausgabe erkunden

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Unsere Zeit ist geprägt von Unsicherheit, Komplexität und widersprüchlichen Erklärungen über die gesellschaftlichen Dynamiken. Da scheint Orientierung schwer. Wir haben fünf Menschen, die sich auf unterschiedliche Weise mit Sinn, Bedeutung und Orientierung beschäftigen, gefragt:

Worin sehen Sie den Sinn in dem, was zurzeit geschieht?

Es ist jetzt keine Zeit, sich von Angst leiten zu lassen. Ich werde für die zukünftigen Generationen meine Stimme weiter erheben, auch auf die Gefahr hin, dass ich umgebracht werde.« Das war die Antwort einer befreundeten Menschenrechtsaktivistin in Manila, nachdem das Parlament das Antiterrorismus-Gesetz des Präsidenten im Sommer verabschiedet hatte. Mit ihrer mutigen Haltung riskiert sie, ohne Haftbefehl festgenommen oder sogar im schlimmsten Fall außergerichtlich getötet zu werden.

Die großen Herausforderungen der heutigen Zeit verstehe ich als Weckruf, das Beste, was in uns Menschen angelegt ist, zu aktivieren und zu verkörpern. Das macht es zunächst einmal notwendig, aus der Opfer-Täter-Dynamik auszusteigen, wie die philippinische Freundin beispielhaft zeigt. Die Werte, die uns dabei unterstützen, sind nicht neu, vielleicht sogar so alt wie die Menschheit selbst. Solidarität, Gewaltfreiheit, Würde und Liebe geben uns die not-wendende Kraft hinzusehen und einzustehen, wo Unrecht geschieht. Bloß müssen wir heute lernen, die ganze Welt im Blick zu haben.

COVID-19 legt nicht nur vorbewusste Schattenanteile frei, die Gewalt schüren, ja gar verherrlichen. Auch aufbauende Kräfte tauchen aus den Tiefen der menschlichen Seele auf. In immer mehr Menschen wird der Archetyp der Priesterin/des Priesters lebendig, der uns befähigt, Gemeinschaft zu stiften, zu segnen, zu heilen und zu versöhnen.

Dr. Anna Gamma ist Psychologin, Zen-Meisterin und war langjährige Leiterin des Lassalle-Instituts.

Was wir – neben den multiplen System-Krisen und öko-sozialen Auswirkungen der Pandemie – zweifelsfrei beobachten können, sind kleine und größere Revolutionen im Bereich kollektiver Verhaltensmuster und des »Sensemaking«, also des Nachdenkens über die Ereignisse der letzten Monate. Unsere modernen Systeme (Gesundheits-, Wirtschafts-, Bildungssysteme etc.) wurden durch Covid-19 nachhaltig irritiert und sind kontinuierlich herausgefordert, über ihren bisherigen Business as usual hinauszuwachsen. Und siehe da, quasi über Nacht wurden selbst eingefahrene Verhaltens- und Organisationsroutinen beiseitegestellt und neue Praktiken entwickelt – über alle Sektoren und Milieus hinweg.

Während so manches innere System, manche Familie, soziale Bindung und Identität auf eine harte Probe gestellt wird, florieren plötzlich vielbeschworene Skills wie Ambiguität­stoleranz und innere Flexibilität in ungeahntem Ausmaß. Inte­gral betrachtet nicht überraschend, führen doch außergewöhnliche Umstände beim einen zu Regression oder gar Kollaps, bei anderen zu außerordentlichen Entwicklungsschüben.

So gesehen wirkt die Pandemie wie ein großer Beschleuniger. Sie hat uns aus Komfortzonen geworfen, Akupunkturpunkte gedrückt, Möglichkeitsfenster eröffnet und Kreativität freigesetzt – und uns unmissverständlich vor Augen geführt, was wir kollektiv alles (ändern) können, wenn wir nur wollen.

Dr. Elke Fein ist Politik- und Sozialwissenschaftlerin sowie Mitgründern und Geschäftsführerin des Instituts für inte­grale Studien (IFIS).

Krisenzeiten und Sinn – wie gehen diese beiden zusammen? Kann ich einen Sinn trotz oder wegen der Klimakatastrophe finden? Wie ist das mit leidvollen Lebensphasen? Viktor Frankl schrieb, der Mensch werde von seinen Trieben geschoben und von seinen Werten gezogen. Also was zieht uns? Siddharta Gotama hatte eine Frage, die ihn zog: »Wie können Leiden, Druck und Angst überwunden werden?« Er suchte keinen Sinn im Leiden. Es war diese Frage, die alles Weitere bei ihm kreierte: seine Suche und Spiritualität, sein Erwachen und Lehren. Parzivals Initiation gipfelte am Ende seiner Reise ebenso in einer Frage. Bei ihm ging es ums Mitgefühl.

Setzen wir also darauf, eine existenzielle Frage zu finden – gerade in Umbruchs- oder Krisenzeiten. In der Folge lassen wir uns von zahllosen Antworten finden. Die eine oder andere macht vielleicht Sinn. Zu viel Sinn wird schnell zur Ideologie. Also den Sinn wieder sausen lassen und weiter in die Tiefe gehen.

Eine existenzielle und gleichzeitig sehr persönliche Frage kann uns jahrelang begleiten und inspirieren. Fragen regen zur Selbsterkenntnis an, geben Orientierung im Dschungel der eigenen Innenwelt und dem zunehmend komplexer werdenden Weltgeschehen. Und da sind auch Fragen, die uns kollektiv angehen. Neugier, Geduld und Offenheit führen uns zu solchen Leitfragen. Sie müssen uns ganz und gar ergreifen. Das setzt uns dann in Bewegung, bringt uns in Kontakt mit anderen. Ja, und dann fühlen wir uns lebendig und können es auch mit einer Krise aufnehmen.

Dr. phil. Sylvia Kolk ist buddhistische Meditationslehrerin. Sie verbindet Bewusstseinsarbeit mit politischen Themen und gesellschaftlicher Teilhabe.

Eine evolutionäre Chance liegt darin, dass uns Corona so unvermutet überrascht hat; und dass es uns wie das Artensterben und der Klimawandel radikal verändern wird. Denn beide sind nicht mehr zu stoppen. Es ist ein dramatischer Weckruf der Evolution, ein evolutionäres Entwicklungssignal. Es trifft wie bei Corona unser Selbstverständnis ins Mark – festgemacht etwa an den betroffenen Todesindustrien: Flug-/Fernreisebranche, Kreuzfahrtbranche, Automobilindustrie, Fleischindustrie …

Vieles bricht auf. Und wir beginnen zu erahnen, wie dünn unsere zivilisatorische Haut ist, denn wenig wird so bleiben, wie es war. Durch diese menschheitsgeschichtliche Phase des HINDURCH werden wir nur kommen, wenn wir wissen, wohin wir wollen.

Die entscheidenden Fragen dabei sind: Wo will ich hin in meinem Leben? Was ist das wahrhaft Bedeutende? Wie kann ich mich mit dem Strom des ganzen Lebens verbinden und so wirklich neu Mensch werden? Wenn ich in zehn Jahren zurückblicke auf 2020 – was wünsche ich mir dann aus dieser Perspektive an Konsequenzen? Und was bin ich bereit, jetzt dafür bedingungslos loszulassen und in Neues zu investieren?

Das Jetzt lädt ein für solche inneren Entdeckungsreisen. Sie sind ein Wagnis und zugleich ein spirituelles Abenteuer. Aber billiger ist die ersehnte neue Welt nicht zu haben. Es beginnt bei mir!

Prof. Dr. Claus Eurich ist Philosoph, Kontemplationslehrer und Professor für Kommunikation und Ethik i. R.

Einen Sinn sehe ich darin, dass die Coronakrise mir eine permanente innere Gleichgewichtsübung abfordert. Ich muss seit Wochen und Monaten immer wieder neu beurteilen, was auf der einen Seite die realen Gefahren durch die virologische Situation sind, welche Gefahren aber auf der anderen Seite für Wirtschaft, Kultur und eine freiheitliche Gesellschaft durch die getroffenen Maßnahmen selbst entstehen. Wie gefährlich ist Sars Cov2 im Verhältnis zu früheren Corona-Viren wirklich? War die Schließung von Geschäften, Theatern oder Opernhäusern zwingend notwendig? Welche Folgen haben zum Beispiel die Eingriffe in das Schulsystem und eine Maskenpflicht für Kinder? Die Situation einer (bis auf wenige Staaten) global homogenen gesundheitspolitischen Agenda und die Tatsache, dass wenige große Pharma-Konzerne auf eine Impfung der gesamten Weltbevölkerung hinarbeiten, ist historisch ebenso einzigartig wie beunruhigend. Hier innerlich ein Gleichgewicht zu halten bedeutet für mich, nicht in Verschwörungstheorien abzudriften, aber doch kritisch auf die Tatsachen zu schauen; es bedeutet, keine neuen Ängste im Sinne unterstellter Herrschaftsabsichten dunkler Mächte zu verbreiten, aber doch die realen gesundheitsautoritären Tendenzen wach zu beobachten und auch zurückzuweisen. Eine Mitte zwischen Anpassung einerseits und Alarmismus andererseits zu finden, wäre für mich ein sinnhafter Zugewinn an Zeitgenossenschaft.

Dr. Jens Heisterkamp ist Philosoph und Chefredakteur der Zeitschrift »info3«.

Author:
evolve
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