Im Wind des Lebens

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Interview
Publiziert am:

February 2, 2021

Mit:
Mirsad Herenda
Ingrid Gardill
Kategorien von Anfragen:
Tags
AUSGABE:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Ein Interview mit dem Bildhauer Mirsad Herenda

Vor einiger Zeit organisierte ich gemeinsam mit der Kunsthistorikern Ingrid Gardill für das Netzwerk des evolve Salons München einen Ausstellungsbesuch. In der Ausstellung »Phänomenal Floral«, die Ingrid mit kuratiert hatte, fielen mir besonders die Skulpturen von Mirsad Herenda auf. Im Sturm geneigte Bäume mit freiliegenden Wurzeln, zusammengeschweißt aus kleinen Eisenstäben. Sie strahlten eine geheimnisvolle Präsenz aus. Zugleich durchweht vom Sturm, aber auch mit den Winden gewachsen. Und darin kündend von Widerstandskraft und einzigartiger Gestalt. Gern wollte ich mehr über den Künstler hinter diesen Arbeiten erfahren. Mein Gespräch mit Mirsad Herenda über seine Erlebnisse im Bosnien-Krieg, seinen ehrlichen, suchenden Umgang mit Kunst und sein weites Herz, das in seinem Sprechen immer hindurchschien, wirkten noch lange in mir nach.

evolve: Um mit einer grundlegenden Frage anzufangen: Wie bist du zur Kunst gekommen?

Mirsad Herenda: Es war ein großer Zufall, dass ich mit meiner Kunst angefangen habe, obwohl ich mich immer mit dem Unbewussten und uns Übersteigenden beschäftigt habe. Ich bin ein Dorfmensch, wurde in einem kleinen Dorf in Jugoslawien, heute Bosnien, geboren. Meine Kindheit war nicht einfach. Ich musste zwölf Kilometer durch die Wälder bis zur Schule laufen und wieder zurück, später kam der Krieg. Schon als Kind habe ich kleine Skulpturen gefertigt, aber vor allem gezeichnet, weil es keine Mittel für mehr Material gab. Ich habe meine Umgebung genau beobachtet und Fragen gestellt. Schon damals dachte ich, dass jede Frage nur deshalb da ist, weil es schon eine Antwort gibt.

Im Krieg hat mich ein Professor für Kunstgeschichte eingeladen. Er sagte: »Mirsad, die Leute im Krieg brauchen auch Kunst.« Im sozialistischen Jugoslawien hatte jedes kleine Städtchen ein Kulturzentrum, wo die Leute etwas Kreatives machen und sich austauschen konnten. Deshalb lud mich der Professor dorthin ein und ich verbrachte einige Monate in einem solchen Kulturzentrum in einer eingekesselten Stadt in Nord-Bosnien. Irgendwann habe ich angefangen, Prothesen zu machen für die Menschen, die ein Bein verloren hatten. Das war in dieser Zeit wichtiger als die Kunst.

1995 endete der Krieg und viele Menschen verließen die Stadt. Ich kehrte zunächst in mein Dorf zurück, das größtenteils zerstört war. Es war eine schreckliche Situation; viele Leute haben am Ende des Krieges Selbstmord begangen, weil sie nicht mehr weiterwussten. Ich war fest entschlossen, nach Sarajevo zu gehen und Jura zu studieren, wahrscheinlich auch, weil ich so viel Ungerechtigkeiten erlebte. Bei einem Besuch in der Stadt traf ich zufällig den Professor, der mich in das Kulturzentrum geholt hatte. Er fragte mich nach meinen Plänen. Als ich ihm von dem geplanten Jurastudium erzählte, sagte er: »Nein, mach das nicht. Du solltest Kunst studieren.« Und ich antwortete: »Ich komme aus einer armen Familie. Kunst studieren nur reiche Leute und die Aufnahmeprüfungen sind schon lange vorbei.« Er aber ließ nicht locker: »Das ist egal, geh nach Sarajevo und informiere Dich. Dann kannst du im nächsten Jahr anfangen. Du solltest nichts machen, was du eigentlich nicht willst.«

ALLES, WAS NICHT GEPLANT IST, TRÄGT LEBEN IN SICH.

Ich folgte seinem Rat und ging nach Sarajevo, wo ich große Mühe hatte, die Kunsthochschule zu finden. Als ich sie schließlich fand, las ich an der Eingangstür, dass es für die Aufnahmeprüfung eine Neuausschreibung gab. Das war Schicksal. Nur wegen dieses Professors hatte ich den Mut, Kunst zu studieren. Und durch den Zufall dieser Neuausschreibung konnte ich mich noch anmelden und habe die Prüfung bestanden – jedes Jahr werden nur fünf Studenten angenommen. Dann musste ich mich ums Überleben kümmern, um Essen und ein Zimmer. Das war nicht einfach, aber ich habe gelernt, die Dinge so zu akzeptieren, wie sie sind.

Manchmal denke ich, jeder von uns hat eine innere Berufung, der er folgen muss. Und dann kommt, was kommen muss. Ich akzeptiere Schmerz, Hunger und alles, was im Weg steht, wie eine Lektion, aus der ich etwas lernen kann. Ich akzeptiere den Zustand und tue das, wovon ich denke, dass ich es tun muss. Dabei wirkt in mir das Unbewusste viel stärker als das Bewusste. Ich glaube, wir ignorieren oft diese unbewusste Ebene in uns und steuern zu viel.

Unverwechselbare Form

e: Was hat dich dazu bewegt, dich auf die Darstellung entwurzelter Bäume zu konzentrieren?

MH: Während meines zweiten Studiums an der Kunsthochschule Bremen spürte ich eine große Unsicherheit und Entwurzelung unter den Menschen. Es war zu der Zeit, als der Arabische Frühling die Gesellschaften des Nahen Ostens veränderte. Und irgendwie schien dadurch auch bei vielen Menschen eine Ungewissheit gegenüber der Zukunft spürbar zu werden. Aus diesem Gefühl, das ich auch in mir empfand, sind diese Bäume entstanden, diese entwurzelten Wesen. Ich wählte unbewusst die Symbolik des Baumes, erfuhr aber später mehr über die Rolle, die der Baum in den heiligen Schriften spielte, z. B. als Baum der Erkenntnis im Paradies. Ein Baum ist ein generationenübergreifendes Wesen, das über Hunderte Jahre Informationen speichert. Der Baum ist auch der beste Freund, denn neben einem geliebten Menschen ist er das einzige Wesen, welchem wir von Mund zu Mund begegnen. Wir geben den Bäumen unseren Atem und sie geben uns ihren Atem. Das ist ein unglaublich enger Austausch.

Am Anfang habe ich alle Bäume ohne Wurzeln gestaltet, als große, verbrannte Wesen, als Schatten. Sie warten auf den Frühling, aber ohne Wurzel können sie nicht wachsen. Später mischte ich Krone und Wurzel, diese Bäume suchen eine neue Erde, eine neue Umgebung, wo sie wieder wachsen können. Kürzlich habe ich eine Serie von Bäumen gestaltet, die im Wind stehen, nur eine kleine Verbindung hält sie, damit sie nicht abreißen und herumfliegen.

Jeder von uns ist ohne eigenen Willen irgendwo in einer Umgebung angepflanzt. Wir entscheiden nicht, wo wir geboren werden. Wenn ich in Deutschland geboren worden wäre, wäre mein Weg ein anderer gewesen. Aber das Leben hat mich vieles gelehrt, dafür bin ich dankbar. Dabei unterstützen mich die Edlen Wahrheiten des Buddhismus. Die erste Wahrheit besagt, dass der Mensch das Leiden akzeptieren muss. Diese Akzeptanz hat mir im Krieg sehr geholfen. Ich habe immer versucht, das Positive zu sehen. Für viele Leute war es seltsam, wenn ich sagte: »Gut, jetzt ist es so, wie es ist, und in der nächsten Sekunde sind wir vielleicht alle tot.« Aber schon der Augenblick, in dem wir eine Blume betrachten, ist das Leben wert. Daraus erwächst Liebe. Jesus sagte: Sie wissen nicht, was sie tun. In allem, was uns geschieht, können wir die Liebe als Möglichkeit präsent halten. Deswegen stehen die Bäume im Wind, sie sind dem Wind des Lebens ausgesetzt, akzeptieren ihn. Und wachsen zu ihrer unverwechselbaren Form.

Absolute Meditation

e: Wie bist du auf das Material Eisen gekommen? Dieses Material und die Technik, kleine Teile zusammenzuschweißen, scheinen körperlich und handwerklich sehr aufwendig und anstrengend zu sein.

MH: Diese Technik habe ich zufällig entdeckt, ich habe das Schweißen nicht gelernt. Aber ich finde diesen Prozess so spannend, weil ich nie meine ganze Skulptur sehe, sie erwächst nach und nach tief aus mir. Manchmal schweiße ich bestimmte Teile viele Male neu, weil ich die richtige Spur finden möchte. Dabei vergesse ich manchmal alles und greife mit der Hand an das heiße Eisen. Das Schweißen ist giftig und gefährlich, aber mich macht es glücklich, wenn ich Stück für Stück diese kleinen Teile zusammenfüge und dann eine Gestalt entsteht. Diese Form entsteht oft unbewusst, ich habe nur den ersten Impuls und dann lasse ich mich führen. Es kann passieren, dass ich zwei Tage nur schaue und zu spüren versuche, in welche Form sich ein Werk entwickeln will. Dann wieder arbeite ich tagelang ohne Pause. Dieser Zustand ist für mich absolute Meditation. Hunderte Male muss ich Punkt für Punkt setzen, aber es fällt mir nicht schwer, weil es aus meinem Inneren kommt. Meine Kunst kommt aus einer unkontrollierbaren, unbewussten Ebene. Alles, was nicht geplant ist, trägt Leben in sich. Aus diesem Unbewussten entstehen die wirklich kreativen Dinge. Man tut und denkt dabei nicht, was der nächste Schritt ist.

WIR KOMMEN ZUSAMMEN, UM GEMEINSAM FREI ZU SEIN.

e: Du gestaltest auch Tiere, die etwas Fliegendes, Dynamisches haben. Wie kamst du darauf, mit solchen Tierdarstellungen zu arbeiten?

MH: Tiere symbolisieren oft unsere unbewussten Impulse. Sie sind schnell und unkontrollierbar. Auch wir Menschen laufen häufig wie diese Tiere durch die Gegend. Zudem haben einige Tiere für mich eine besondere Bedeutung. Die Ziege zum Beispiel steht symbolisch für meine Heimat. Bei uns im Dorf war sie so etwas wie die zweite Mama, weil sie uns überleben half. Deshalb ist es für mich immer wieder wichtig, über unser Miteinander mit den Tieren nachzudenken und es auch bildnerisch auszudrücken.

Sich selbst treu bleiben

e: Gibt es etwas, was du in den Menschen, die deine Kunst sehen, bewirken möchtest?

MH: Natürlich kann man über das Motiv des Baumes viel sagen, aber manchmal ist es besser, den Leuten nicht zu viel zu erklären. Ich wähle meine Motive aus dem Unbewussten – oder besser gesagt, sie wählen mich.

Ich beschäftige mich mit vielen Philosophen und Zugängen zur Wahrheit. Dabei habe ich verstanden, dass das Wichtigste ist, mit mir selber ehrlich zu sein. Wenn sich ein Mensch mit Kunst beschäftigt, dann muss er sich selbst treu bleiben. Das merkt dann auch der Betrachter, weil es im Energiefeld des Werkes spürbar ist.

e: Siehst du deine Kunst als einen Weg, mit den schweren Erfahrungen im Krieg umzugehen oder sie vielleicht auch in etwas Positives, Konstruktives zu wenden?

MH: Meine Kunst ist ganz sicher beeinflusst von dieser Erfahrung, aber auch von dem, was ich daraus gelernt habe. Es gab lebensbedrohliche Situationen, die für mich sehr prägend waren. Einmal wurden wir von einem Panzer beschossen. Ich warf mich auf den Boden. Dann dachte ich: Was ist jetzt hier etwas Schönes? Oder: Was habe ich Schönes erlebt?

Schon als Kind verstand ich: Das Leben ist ein Weg und wir sind in Bewegung. Welchen Weg du gehst, bleibt deine Entscheidung. Manchmal unterrichte ich Zeichnen und sage meinen Schülern: »Es gibt viele Wege zum Ziel. Entscheidest du dich für den schnellen Weg und lernst dabei weniger? Oder entscheidest du dich, den Weg ohne vorgegebene Straße mit vielen Widerständen und Umwegen zu gehen, auf denen du vielen Menschen begegnest und viel lernst?« Aber dafür muss man frei und offen sein und alles, was auf einen zukommt, annehmen.

Ich bin ein Mensch, gleichzeitig schwach und stark. Und auf meinem Weg begegne ich jemandem, weil ich ihm begegnen muss. Damit nimmt dieser Weg schon eine andere Richtung.

Tiefe Verbundenheit

e: Gibt es eine Richtung, in die du mit deiner Kunst weitergehen möchtest?

MH: Das Unbewusste wird entscheiden, wohin das alles geht. Ich hatte in letzter Zeit schon mehrfach das Gefühl, dass sich etwas Neues ergibt. Ich praktiziere eine Meditation, in der ich versuche, nichts zu spüren und Platz zu lassen für Neues, und immer wieder hat sich etwas Neues gezeigt. Bis dahin werde ich bei meiner Technik bleiben. Diese Technik ist perfekt, um etwas Unbewusstes auszudrücken. Kannst du dir vorstellen, die Augen zu schließen und etwas mit den Händen zu berühren, und du spürst es, als würdest du es sehen? Das ist unglaublich erfüllend und ich bin jedes Mal selbst überrascht von dem, was sich da zeigt.

Noch erfüllender ist, wenn wir diese Dimension miteinander teilen. In meinem Atelier möchte ich auch einen Raum schaffen, um Menschen mit Liebe zu begegnen. Manchmal lade ich Menschen ein, um Musik, Poesie und Gespräche miteinander zu teilen. Im Atelier gibt es einen Raum mit einem Kamin, zwölf Stühlen und einem langen Tisch. In der Ecke steht ein Klavier und überall sind Kunstwerke. Hier begegne ich Menschen, die wissen, dass ich materialistisch gesehen nichts von ihnen will. Wir kommen zusammen, um gemeinsam frei zu sein. Ich bitte sie auch, einander nicht vorzustellen, sondern sich im Gespräch kennenzulernen. Wir sind alle auf dem Weg, uns selbst kennenzulernen, und oft helfen uns die anderen, einen Teil von uns zu verstehen, den wir wahrscheinlich selbst nie verstehen würden. Das ganze Leben ist im Prozess. Sobald der Mensch sich selbst etwas besser versteht, kommt schon wieder eine Veränderung und stellt ihn vor neue Aufgaben.

Bei solchen Treffen spüre ich manchmal die Gegenwart einer anderen Dimension. Ich spiele Klavier, vergesse in diesem Moment, dass ich Gäste habe, und gehe ganz im Spielen auf. Manchmal habe ich das Gefühl, wir schweben alle in der Luft. Einmal las eine Frau Texte und ich habe sie begleitet. Jeder saß auf seinem Platz und hörte zu, aber es entstand eine sehr tiefe Verbindung zwischen uns. Und die Menschen baten mich, das möglichst bald zu wiederholen. Es hat sich für sie offensichtlich etwas ganz anderes, etwas Kostbares gezeigt. Was in solchen gemeinsamen Erfahrungen möglich ist, möchte ich künftig noch weiter ausloten.

Author:
Mike Kauschke
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