In den Schuhen des Anderen

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Essay
Publiziert am:

July 19, 2018

Mit:
Hans Bartosch
Joseph Beuys
Martin Farkas
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AUSGABE:
Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Annäherung an ein gemeinsames Erbe

Auch viele Jahre nach der Wiedervereinigung stehen sich Menschen aus dem Osten und Westen Deutschlands oft verständnislos gegenüber. Das hängt auch mit dem unterschiedlichen Umgang mit der Geschichte des Nationalsozialismus zusammen. Wie können wir vor diesem Hintergrund heute zu einem neuen Gespräch finden?

Im Jahr 29 nach dem Mauerfall fühlt sich für mich der Unterschied zwischen dem Osten und dem Westen Deutschlands immer noch so an wie zwei unverbundene tektonische Platten eines immerhin gemeinsamen Kontinents. Das gegenseitige Fremdeln ist größer, als ich es nach so langer Zeit erwartet hätte. Inzwischen ist zudem eine ganze Generation nachgewachsen, die nicht mehr erfahren hat, wie »Hüben« und »Drüben« sich eigentlich angefühlt haben und welche Erleichterung zu spüren war, als sich die Grenze zwischen beiden in Luft auflöste. Vergessen oder unbekannt sind deshalb inzwischen oft die Freude und Euphorie der Wiedervereinigung. Mit mir hatten auch viele andere damals das unwahrscheinliche Glück zu erleben, dass endlich einmal etwas besser wurde in der Welt. Größtenteils verdampft sind Hoffnungen und Erwartungen und haben dem Alltags-Klein-Klein zwischen zwei Geschwistern Platz gemacht, die anscheinend immer noch nicht richtig miteinander können.

Die gemeinsame Erfolgsgeschichte scheint mir auf den ersten Blick vor allem die zu sein, dass wir nach den Maßstäben der Marktwirtschaft gut miteinander ins Funktionieren gefunden haben. Für den Westen hatte sich mit der Öffnung der Grenze ein neuer Absatzmarkt eröffnet. Kapital und Technologie haben nicht ganz uneigennützig die Muskeln spielen lassen und gezeigt, wozu sie in der Lage sind. Dem Osten ist dadurch letztendlich der vollständige ökonomische und ökologische Kollaps erspart geblieben.

Kulturell gesehen hat mit der Wende jedoch vor allem das letzte autoritäre politische System auf deutschem Boden sein verdientes und gottlob friedliches Ende gefunden, was wir dem Mut von zunächst Einzelnen und dann Vielen verdanken, die nicht bereit waren, sich weiter einschüchtern zu lassen.

Blauäugig haben wir hier wie dort die Vorstellung gehabt, dass sich nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren in Folge der Lebensverhältnissen auch Mentalität, Selbstverständnis und Charakter verwandtschaftlich anpassen würden. Danach sieht es aber im Moment so gar nicht aus. Der Westen staunt über die fröhlichen Urstände, die Pegida und AfD zwischen Elbe und Neiße feiern und empfindet es als naiv und undankbar, so wie wir uns vor ein paar Jahren schon einmal über die DDR-Nostalgie und die Wiedergeburt der Linken wunderten. Der Osten sieht sich nach der Übernahme durch den Westen und den Demütigungen durch Treuhand und Konsorten immer noch als Deutschland zweiter Klasse, beklagt die Verödung ganzer Landstriche und fühlt sich diffus durch die politische Obrigkeit von der Entwicklung abgehängt, die ihn jetzt auch noch der Gefahr aussetzt, durch einen unkontrollierten Zuzug von Flüchtlingen wieder zu verlieren, was gerade erst gewonnen wurde.

Meine These: Wie bei allen Beziehungen, in denen Partner in ihren Positionen verharren, muss man meiner Meinung nach davon ausgehen, dass das Gespräch und der gegenseitige Perspektivwechsel deshalb stagnieren, weil die zwei Seiten vor allem die Erfüllung ihrer Wünsche von der jeweils anderen erwarten, und nachdem wir in Deutschland seit fast dreißig Jahren nichts anderes geübt haben, hat sich der Diskurs an wichtigen Stellen genau deswegen erschöpft und seine Perspektive verloren.

Möglicherweise gibt es verschiedene Wege, wie das Gespräch zwischen Ost und West wieder in Bewegung kommen könnte. Einen sehr glücklichen Moment habe ich in dieser Hinsicht im Rahmen einer Tagung im Frühjahr in der Akademie Loccum bei Hannover erlebt. Veranstaltet wurde sie unter dem Titel »In den Schuhen des Anderen – Annäherung an ein gemeinsames Erbe« durch den Kriegsenkel e.V., der sich mit den traumatischen Folgen von Kriegs- und Nazivergangenheit und deren transgenerationalen Weitergaben an die Nichterlebnisgeneration der deutschen Babyboomer befasst. Zwei Tage lang haben Akteure unterschiedlicher Provenienz aus dem Osten und dem Westen zusammen über das »gemeinsame Erbe« gesprochen. Dabei wurde nicht nur mir deutlich, wie unterschiedlich der Umgang der beiden Gesellschaften mit der Vergangenheit aussah, wie krass sich die gesetzten Erinnerungsrahmen und Narrative voneinander unterschieden und wie sehr das die jeweilige Sozialisation in den beiden deutschen Staaten geprägt hat. Im Osten schloss sich an das untergegangene totalitäre System schließlich gleich das nächste an, mit zum Teil haarsträubenden und erschreckenden Kontinuitäten zum Nationalsozialismus, wie verschiedene Referenten auf der Tagung in Loccum zu berichten wussten. Das staatlich verordnete Verschweigen oder Umdeuten des Leides, das den Osten infolge des Krieges schon aus geografischen Gründen härter getroffen hat als den Westen, hat jede Form der Trauerarbeit und Gedenkkultur unterbunden, die nicht gleichzeitig ideologisch eingefärbt gewesen wäre. Die Tatsache, dass der Zweite Weltkrieg erst mit der Wiedervereinigung zu Ende gegangen ist, bedeutete für die zum Schweigen Verurteilten auch, dass erst seit der Wende die Möglichkeit besteht, die Aufarbeitung nach innen, also die konkrete Bewusstseinsarbeit der Menschen zu beginnen.

Ganz besonders markant zeigte das Martin Farkas’ Film »Über Leben in Demmin«, der auf der Tagung in Loccum seine Vorpremiere erlebte. Erzählt wird darin die Geschichte der mecklenburgischen Kleinstadt Demmin, in der es bei Kriegsende und nach Besetzung durch die Rote Armee zu einer Selbstmordwelle schrecklichen Ausmaßes kam. In der späteren DDR war es nicht opportun, dieser Katastrophe zu gedenken.

Das Gespräch zwischen Ost und West stagniert, weil die zwei Seiten vor allem die Erfüllung ihrer Wünsche von der jeweils anderen erwarten.

Das unverarbeitete Entsetzen der Überlebenden, das nie den nötigen Raum bekam, um ausheilen zu können, führte nach der Wende dazu, dass stattdessen rechte Ideologen diese Tragödie für sich vereinnahmten und nun jährliche Trauermärsche dort inszenieren.

Es gibt noch viel Leid, das wie in Demmin zu seiner Heilung nach einer nachgeholten Würdigung verlangt. Martin Farkas ist dies mit seinem Film vorbildlich gelungen, und der Pfarrer und Schriftsteller Hans Bartosch setzte das mit seinen sehr persönlichen Geschichten aus der Seelsorgeund Hospizarbeit in den Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg fort.

Viele der Teilnehmer aus dem Westen räumten ein, an diesen beiden Tagen mehr vom Osten verstanden zu haben, als in den Jahrzehnten zuvor.

»Zeige deine Wunde« heißt eine bekannte Installation von Joseph Beuys, die bildnerisch ausdrückt, was in Loccum versucht wurde: sich mit seinen Verletzungen sich selbst und dem anderen zuzumuten. Das rüttelt an der Härtesubstanz festgefahrener Wertungen und Selbstzuschreibungen. Von dort sind es nur noch wenige Schritte in den offenen Raum, in dem eine neue Sprache und Sprachfähigkeit entsteht, über die wir uns im Dialog miteinander verbinden können. Die Begegnungen in der Evangelischen Akademie standen, was das angeht, unter einem guten Stern. Ich glaube, es ist für Deutschland eine große Chance, diesen Umweg über den Umgang mit dem gemeinsam Ererbten zu nehmen, um im Hier und Jetzt in die Beziehung zueinander zu finden. Im Herbst 2019, dann 30 Jahre nach dem Mauerfall, soll es eine Fortsetzung dieses Experiments geben, im Osten der Republik, in Thüringen.

Text zum Thema: Link zu einem Blogbeitrag zur Tagung »In den Schuhen des Anderen – Annäherung an ein gemeinsames Erbe«:
www.kriegsenkel.de/2018/04/30/chronik-zur-jahrestagung-2018-von-sven-rohde

Author:
Michael Schneider
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