Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
January 21, 2016
Wir leben in einem sich entwickelnden Universum. Was bedeutet das für unsere Verbundenheit mit der Erde und dem Kosmos? Darüber haben wir mit der Ökologin und Religionswissenschaftlerin Mary Evelyn Tucker gesprochen.
evolve: Was inspiriert uns heute dazu, neu über die Geschichte des Universums und unseren Platz darin nachzudenken?
Mary Evelyn Tucker: Aufgrund der Entdeckungen der modernen Wissenschaft ist unsere Generation die erste, die die realen Dimensionen des Universums erahnen kann: seine unvorstellbare Unermesslichkeit, seine Ursprünge, die Herrlichkeit seiner Entfaltung. Dieses ahnende Wissen verändert alles.
Wenn wir diese Geschichte auf unterschiedliche Weise vermitteln, je nach Alter und kulturellem Hintergrund, kann sie uns eine radikale Perspektive eröffnen. Es ist die Erkenntnis, dass wir Teil einer lebendigen Erde mit all ihrer Komplexität und Schönheit sind. Das ist ein Erwachen zur Ganzheit und Heiligkeit des Lebens.
Wir erleben in unserer Weltsicht einen Wandel von gewaltiger Bedeutung. Wir Menschen verstehen langsam, dass wir Teil eines sich entwickelnden Universums sind. Wenn wir erkennen, dass wir aus diesem dynamischen, sich ewig wandelnden, evolutionären Prozess entstanden und von ihm geboren sind – angefangen vom kosmischen Ursprung, über die Erde und das Leben bis hin zu uns Menschen –, dann erleben wir eine tief greifende Wandlung unseres Bewusstseins und unserer Identität. Die Bedeutung dieses Prozesses ist sicherlich mit der Kopernikanischen Wende zu vergleichen.
Wir Menschen sind Teil dieser ungeheuren kosmischen Reise. Die entscheidende neue Idee ist die Kosmogenese, das heißt, die Evolution ist ein fortschreitender Prozess, der sich von seinen Ursprüngen bis hin zum gegenwärtigen Augenblick kontinuierlich entfaltet: ein ganzheitlicher Prozess, in dem die Sterne, Elemente und Supernovae mit allen Lebensformen – auch ich beim Schreiben dieser Zeilen und Sie beim Lesen – miteinander verbunden sind. Es ist eine Einheit des Lebens, vom ersten Einzeller bis hin zu allen künftigen Lebensformen. Diesen dynamischen, immer komplexer werdenden Prozess versuchen wir zu verstehen.
Wir sind mit den Sternen verwandt, mit den ersten Einzellern, den kleinen Säugetieren, die den Asteroideneinschlag überlebt haben, der die Dinosaurier ausgelöscht hat. Wir sind mit den Menschenaffen verwandt, den Pavianen, den Orang-Utans – wie Ehrfurcht gebietend ist der Weg, den wir zurückgelegt haben! Und die Naturwissenschaften geben uns einen kleinen Einblick, wie etwas Komplexeres aus etwas weniger Komplexem entsteht.
¬ DAS STAUNEN IST EINE DER WERTVOLLSTEN ORIENTIERUNGEN AUF DEM WEG IN UNSERE ZUKUNFT. ¬
e: Was sagt diese Geschichte über unser Menschsein aus?
MET: Die Sterne machen uns sprachlos mit ihrer Schönheit, sie erwecken unser Staunen. Dieses Staunen ist eine der wertvollsten Orientierungen auf dem Weg in unsere Zukunft eines voll entfalteten Menschseins. Die Kreativität evolutionärer Prozesse und ihre selbstorganisierende Dynamik spiegelt sich in unserer eigenen Kreativität, die ihrerseits aus diesen Milliarden Jahre währenden Prozessen geboren ist. Unsere Kreativität wird belebt, wenn wir in Resonanz mit unserem lebendigen Planeten kommen – mit den Blumen, dem Laub, dem wogenden Gras, den Sonnenuntergängen, dem Wind.
Mehr als alles andere wünscht sich der Mensch, schöpferisch zu sein. Wir wollen Anteil haben an dem schöpferischen Prozess, an der Gestaltung der Zukunft, an der Lebendigkeit – ein Ausdruck davon ist unser Wunsch, Kinder zu haben. Wir können aber auch auf ganz andere Weise Leben schaffen: durch Kreativität, durch Teilhabe, indem wir uns auf etwas ausrichten, das größer ist als wir selbst. Was ist dieses Größere, das uns wirklich am Herzen liegt? Soweit ich sehe, ist es das Leben.
Wir sind dabei zu entdecken, wie wir umfassende Dankbarkeit ausdrücken können, indem wir anerkennen, dass wir in einem lebendigen System leben. Dadurch kann ein Gespür für eine Resonanz mit allen Lebensformen aufkommen, die die Menschen früherer Zeiten noch verstanden haben und indigene Völker heute noch verstehen. Dies ist ein Moment, in dem uns die Augen aufgehen können für die Schönheit des Lebens, das jetzt in unseren Händen liegt. Weil wir Leben gebende Menschen sind und uns um unsere Kinder, um deren Kinder und um künftige Generationen aller Spezies sorgen, kann uns die Geschichte des Universums meiner Meinung nach auf unterschiedlichste Weise Kraft und Inspiration geben. Vieles davon werden wir erst noch entdecken.
e: Wozu inspiriert uns diese Geschichte? Was ist unsere Aufgabe als Teil des sich entfaltenden Universums?
MET: Unsere Aufgabe besteht darin, uns mit den evolutionären Prozessen zu verbinden, statt ihnen im Weg zu stehen oder sie entgleisen zu lassen. Unsere Rolle als Menschen ist es, unsere Bewusstheit zu vertiefen, in Resonanz mit dem 14 Milliarden Jahre währenden schöpferischen Ereignis, dessen Teil wir sind. Wir stehen vor der Herausforderung, lebensfördernde Städte zu bauen und gesunde Lebensmittel zu erzeugen, die mit den Mustern der lebendigen Erde vereinbar sind. Ökologie, Permakultur, Biolandbau untersuchen diese Fragen: Wie funktionieren Böden? Welche Wirkung haben Bakterien? Welche Rolle spielen Nährstoffe? Wir müssen unser Verständnis ökologischer Zusammenhänge erweitern, sodass wir uns mit den schöpferischen Kräften des Universums verbinden können.
e: Ich finde an unserer Gegenwart so aufregend, dass Naturwissenschaft, Ökologie, Ethik, indigene Traditionen und die alten asiatischen Religionen eine Geschichte dynamischer, sich entwickelnder Systeme erzählen, eine Geschichte wechselseitiger Verbundenheit, zu der die Menschen unmittelbar dazugehören.
MET: Die Geschichte des Universums kann uns helfen, die vielen unterschiedlichen Arten von Wissen wieder wertzuschätzen. Die Gaben der Wissenschaft sind immens – durch Forschung, Modellbildung und Versuchsreihen gewinnen wir ein Verständnis für die große Kette der Evolution. Was wir aber weiter ausarbeiten müssen, ist die Antwort auf die Frage, was andere Arten des Wissens zu diesen Erkenntnissen beitragen können. Die reinen Fakten der Evolution müssen mit Werten integriert werden und mit der Erforschung dessen, was es heißt, Mensch zu sein. Das ist die Aufgabe der Humanisten – Historiker, Schriftsteller, Philosophen, Künstler und Dichter.
e: Worauf setzen Sie Ihre Hoffnung? Glauben Sie daran, dass die Menschheit den Weg zu dieser schöpferischen Teilhabe am sich entfaltenden Universum schaffen wird?
MET: Es liegt in der Natur des Universums, sich durch große Spannungen, durch dynamische, gegensätzliche Kräfte fortzuentwickeln. Thomas Berry schreibt in seinem Artikel »Die neue Geschichte«: »Wenn sich die schöpferischen Energien im Herzen des Universums in der Vergangenheit durchsetzen konnten, haben wir Anlass zur Hoffnung, dass eine solche Schöpferkraft auch uns Inspiration geben und uns in die Zukunft leiten wird.« Meine größte Hoffnung wäre, dass diese lebendigen Systeme so machtvoll und in sich so resilient sind, dass wir uns von der Natur und ihrer grandiosen, faszinierenden, geheimnisvollen Komplexität inspirieren lassen. So kann sich unsere eigene Schöpferkraft mit den pulsierenden Gemeinschaften aller Lebensformen verweben, die die ungeheure Symphonie des Universums bilden.