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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 19, 2018

Mit:
Charles Baudelaire
Edgar Allen Poe
Francois Villon
Gottfried Benn
Helmut Lethen
Dr. Wolfgang-Andreas Schultz
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 19 / 2018:
|
July 2018
Stadt & Land
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Zur spirituellen Musikphilosophie von Wolfgang-Andreas Schultz’ neuem Buch »Die Heilung des verlorenen Ichs«

Das neue Buch des Komponisten und Musikologen Wolfgang-Andreas Schultz »Die Heilung des verlorenen Ichs« stellt radikale Fragen, die vor allem den etablierten Kunst- und Musikerkritikern nicht sonderlich gefallen werden. Es versucht spannende philosophische Begründungen für ein Unbehagen zu finden, das Schultz schon lange z. B. beim Hören von sogenannter »Neuer Musik« empfindet und das ich oft teilen kann. Ein Unbehagen darüber, wie ähnlich avantgardistische Werke der letzten 50 Jahre klingen, als ob ein geheimes Idiom im Hintergrund wirkt, verborgene Vorschriften und Tabus, die kaum gebrochen oder erweitert werden dürfen. Bei vielen KomponistInnen spürt man schon nach wenigen Takten eine ähnliche Diktion, die sich durch bestimmte Merkmale auszeichnet: eine strenge Absage an Tonalität und Melodik, den Rückgriff auf Zwölftonstrukturen, die der Musik schnell etwas Kühles, Elitäres, Intellektuelles geben, das fast verzweifelte Bemühen, nur ja »avantgardistisch« und »auf der Höhe der Zeit« zu sein. Was auch bedeutet, vertrautere und ältere musikalische Erzählformen über Bord zu werfen und notfalls den Hörer vor den Kopf zu stoßen.

Während die »Neue Musik« bis auf wenige Ausnahmen distanziert, asketisch, kopflastig, ja sogar abweisend wirkt, tritt einem in den Kompositionen von Wolfgang-Andreas Schultz ein reicheres Angebot entgegen, ohne beliebig oder konservativ zu sein: meditative Passagen, die tiefe Glücksgefühle bewirken können, außereuropäische Klänge, die einen in mythische Welten entführen, Erlebnisse von Entgrenzung und Transzendenz, bei aller Spannung und Dunkelheit durchaus auch Wohlfühlelemente, die zum Träumen einladen und nicht ständig krampfhaft ihre »Modernität« demonstrieren müssen. Bei der Lektüre von Schultz’ Buch spürte ich, dass er damit auch ein musikästhetisches Traktat verfasst hatte, um über seinen Außenseiterstatus in Deutschland nachzudenken und neue Wege für einen erweiterten Kunst- und Musikbegriff des 21. Jahrhunderts aufzuzeigen.

Das Buch enthält spannende Reflexionen zur Entwicklung des »Ichs« im Laufe der Jahrhunderte, das sich immer mehr von kosmischen Bezügen, von der Natur und den »Anderen« abgrenzte, um Autonomie zu erlangen. Dabei entstanden aber auch dogmatische Verfestigungen und Verarmungen, die wir heute bei der Rezeption moderner Kunst mitempfinden. Schultz zitiert dazu Gottfried Benns Gedicht »Verlorenes Ich«, das ein metaphysisch heimatloses, im unendlichen Kosmos herumirrendes Subjekt beschreibt, ohne »Woher, wohin«, ohne den Halt einstiger Mythen, die nur noch als »Lügen« durchschaut werden. Diese Abspaltungstendenzen begannen schon bei Descartes und wurden durch den Aufstieg der modernen Naturwissenschaften bekräftigt, für die der einst belebte Kosmos nur noch ein toter Objektbereich ist.

Das Verschmelzungsgefühl mit einer beseelten Natur, das einst Mystiker und Romantiker besangen, ging immer mehr verloren und damit nahm auch die Entfernung der Kunst von aller Spiritualität zu, die in früheren Zeiten noch ein Fundament vieler ästhetischer Ausdrucksformen gewesen war. Um 1900 erreichte diese Verlustgeschichte einen Höhepunkt, der dann durch Traumatisierungserlebnisse infolge zweier Weltkriege noch verstärkt wurde. Schon um 1920 nahm der Literaturwissenschaftler Helmut Lethen innerhalb der Kunstszene eine »kalte Persona« wahr, die Schultz etwa im kühl-distanzierten Ton von neoklassizistischen und 12-Ton-Kompositionen verortet. Übrig blieb nur noch ein heroisches Ich, das nichts mehr mit mystischen Vereinigungserfahrungen zu tun haben wollte, sondern vor allem die Traumen und Ängste der Gegenwart in schonungslosen und auch verstörenden Formen protokollierte. Der »Poète maudit« nahm überhand, wie er schon bei Francois Villon, Charles Baudelaire und Edgar Allen Poe vorbereitet worden war: der desillusionierte Außenseiter und verrufene Provokateur, dessen poetische Funken nur noch vergehende Leucht - ränder am Abgrund eines nihilistischen Kosmos sind.

Nach dem Zweiten Weltkrieg setzte sich diese Attitüde des »verlorenen Ichs« laut Schultz in der »Neuen Musik« fort: serielle Kompositionsformen und die »Zufallsmusik« eines John Cage, elektronische Materialexperimente und das Beibehalten atonaler Techniken bildeten eine neue, durch Theoretiker wie Theodor W. Adorno befestigte dogmatische Musikästhetik, die streng darüber wachte, ob ihre Tabus auch eingehalten werden. Auch ich habe während meines Studiums der Musikwissenschaften solche Restriktionen mitbekommen. Etwa durch Doktoranden, die sich mit Komponisten nach 1945 beschäftigten und infrage stellten, ob Musik überhaupt etwas mit dem Ausdruck von Gefühlen zu tun habe oder nur »reines Spiel mit abstrakten Formen« sei. Als wir Stockhausens »Gesang der Jünglinge im Feuerofen« durchnahmen, schaute mich der nur auf formale Fragen fokussierte Dozent entgeistert an, als ich in den verfremdeten Stimmen auch die verzweifelten Halleluja-Gesänge der von König Nebukadnezar in den Ofen geworfenen jüdischen Jünglinge zu hören glaubte. Seelische Inhalte, gar spirituelle Empfindungen sollten hier keine Rolle spielen.

Schultz will das Dogma einer entseelten Musik durchbrechen, indem er für eine neue Ästhetik der Vielfalt plädiert.

Wir bekamen gute Zensuren, wenn wir die Finessen der Kompositionsweise erkannten, alles andere war Privatsache. Insofern kann ich viele Fragen von Schultz aus persönlichem Erleben heraus verstehen und war auch nicht überrascht von seiner Bemerkung, dass viele Kritiker heute Angst haben, kritisch über die »Neue Musik« zu schreiben, weil sie sonst keine Aufträge mehr bekommen.

Schultz will dieses Dogma einer entspiritualisierten, ja entseelten Musik durchbrechen, indem er für eine neue Ästhetik der Vielfalt plädiert, für die die Normen der »Neuen Musik« nur eine mögliche Variante darstellen. Er erinnert etwa an Komponisten wie Claude Debussy, die von fernöstlicher Musik inspiriert wurden und dem Element des Klanges eine ganz besondere Beachtung geschenkt haben. Für sein Modell einer zukünftigen Musikästhetik nimmt Schultz auch Bezug auf integrale Denker wie Jean Gebser und Ken Wilber, deren integrale Weltsicht die Einbettung älterer »magischer« und »mythischer« Bewusstseinsstufen zulässt. Das erlaubt dem Komponisten Rückerinnerungen an mythologische Themen sowie die Integration von Entgrenzungserfahrungen, die an den »Kosmotheismus« eines Giordano Bruno, Goethe oder Novalis anknüpfen. Hellsichtig weist Schultz auch auf die Verdrängung europäisch-spiritueller Traditionen aus moderner Kunst und Musik hin: eine schmerzliche Erfahrung, die auch ich als Filmemacher seit Jahren mache.

Schultz’ persönliche Lösung dieser Probleme besteht u. a. daraus, Instrumentalfarben, Tonleitern und Klangstrukturen aus außereuropäischen Musiktraditionen in seine Kompositionen einzubeziehen, die dann auch poetische Titel tragen können wie: »Mythische Landschaft«, »Krishnas Verwandlungen«, »Eurydike«, »Was mir die Äolsharfe erzählt«, »Die Nachtfahrt der Sonne«, »Die Stimmen von Chartres« oder »Indras Netz«. Seine Vision einer »integralen Musik«, die vor seichter Esoterik und Kitsch gefeit ist, beinhaltet ein Ich, das die Errungenschaften der Freiheit beibehält, aber sich mehr als relationales Gewebe denn als autonome Kapsel versteht. Als Teil in einer Ich-Du-Beziehung, die nach Martin Buber nicht nur den Dialog mit dem anderen Menschen enthält, sondern auch das »Leben mit der Natur« und das »Leben mit den geistigen Wesenheiten«. In einer solchen Ästhetik, die nicht nur auf den Ausdruck der Schattenkräfte fokussiert ist, geht es nicht darum, z. B. fernöstliche Muster zu kopieren, sondern – wie Karlheinz Stockhausen sagte – »den Inder in uns zu erkennen«, also eigene spirituelle Erfahrungen zu verbinden mit Errungenschaften westlicher Kompositionstechniken.

Für dieses Zusammenspiel ohne Dogmen und Tabus, das auch dem spielerischen Charakter jeder Kunst entspricht, prägt der Autor ein schönes, aus der buddhistischen Mythologie entlehntes Bild: das mit edlen Perlen bestickte Netz der Gottheit Indra, »die einander reflektieren, sodass in jeder Perle alle übrigen aufscheinen.« Schultz skizziert – im Buch wie in seinen Kompositionen – eine neue Vielfalt von musikalischen Perspektiven, Klangformen und Kompositionstechniken, in der Persönliches und Überpersönliches, Ich-Behauptung und Ich-Entgrenzung, Vergangenheit und Gegenwart, europäische und außereuropäische Traditionen zusammen eine neue »Signatur des 21. Jahrhunderts« bilden können. Mit ihr, so hofft er, wird sich vieles ändern, »und diese Änderungen werden sich auch auf die Musik und die anderen Künste auswirken.«

Author:
Ruediger Suenner
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