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Buch/Filmbesprechung
Publiziert am:

July 12, 2021

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Ausgabe 31 / 2021:
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July 2021
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Über das Buch »Im Fluss« von Wolfgang Welsch

Kann man die heutigen sozialen, ökologischen, kulturellen, psychologischen und moralischen Krisen auf einen gemeinsamen Nenner zurückführen? Eine Kernverfassung des Menschen finden, aus der heraus wir die Welt nicht angemessen verstehen und dementsprechend sinnvoll und lebensdienlich handeln können? Der Philosoph Wolfgang Welsch ist einer solchen Grundkonstitution unseres Denkens auf der Spur. Er war lange Jahre Professor für Philosophie an der Universität Jena und tat sich vor allem mit Werken zur Ästhetik und Postmoderne hervor. Seit einigen Jahren beschäftigt er sich jedoch intensiv mit den Hintergründen und Folgen einer Denkform, die er als anthropisches Prinzip bezeichnet. Damit meint er die Überzeugung, dass der Mensch im Grunde von der Welt getrennt ist und ihr fremd gegenübersteht.

Die Formung dieser Weltwahrnehmung in der Moderne bildet auch den Ausgangspunkt seines neuen, knapp 150 Seiten umfassenden Buches, das in Kurzform Grundgedanken seiner Kritik an der Moderne erläutert und eine alternative Sicht auf den Menschen, die Natur, die Kultur und den Kosmos vorschlägt. Daran zeigt sich schon, dass es ihm ums Ganze geht. Er will aufzeigen, dass der Mensch eben nicht als geistbegabtes Wesen einer natürlichen Welt gegenübersteht und sie deshalb nutzen kann, wie er will. Oder selbst die Absicht, die Natur zu erhalten, nur daraus ableitet, dass sonst der Mensch Schaden nimmt. Der getrennten, abgesonderten Stellung des Menschen im Kosmos setzt Welsch eine Perspektive der kosmischen Kontinuität entgegen. Wir als Menschen sind ein Ausdruck des evolutionären Prozesses, der sich über die materielle, die biologische und kulturelle Entfaltung zieht, die in uns fortlebt. Wir sind nicht außenstehende BetrachterInnen dieses Prozesses, sondern selbst darin geworden und verwoben. Und dadurch ständig »Im Fluss«, sind »Leben in Bewegung«, wie es der Titel des Buches auf den Punkt bringt.

Aber wir sind nicht nur aus der natürlichen Evolution hervorgegangen, auch in unserer biologischen Existenz als Körper sind wir von anderem Leben durchdrungen, von Bakterien, Viren, Pilzen. Nur etwa 10 Prozent unseres Genoms haben humanen Ursprung. Wir sind Organismen, die in sich andere Organismen enthalten, und leben mit anderen Organismen zusammen. Hier greift Welsch Erkenntnisse der Naturwissenschaft auf, insbesondere der Biologie und Zoologie. Aber nicht nur im biologischen Bereich beschreibt er, wie sehr wir im Fluss sind, sondern auch auf kultureller Ebene.

DER ABGESONDERTEN STELLUNG DES MENSCHEN IM KOSMOS SETZT WELSCH EINE PERSPEKTIVE DER KOSMISCHEN KONTINUITÄT ENTGEGEN.

Welsch hat vor Jahren den Begriff der Transkulturalität geprägt und erweitert ihn in dieser Schrift. Denn nicht nur die bewegliche Natur unserer biologischen Existenz hinterfragt unsere Wahrnehmung einer festen Identität, auch im Raum der Kultur sind wir alle »Mischwesen«. Es gibt gar keine national abgesonderte Identität, weil die Kultur als Fortführung der Natur auf Durchmischung basiert. Welsch wirft dabei gar einen Blick auf eine Aussage der AfD über nationale Identität und entlarvt, dass es eine solche in Isolation gar nicht geben kann. Kulturen sind per Definition immer in einer sich wechselseitig durchdringenden Bewegung. Aber das Transkulturelle hat für ihn noch eine weitere Dimension: Die Perspektive über die Kultur als gesondert von der Natur hinaus. Für Welsch ist auch die menschliche Kultur aus der Natur entstanden bzw. es finden sich darin Vorläufer kultureller Formen in der Tierwelt. Er bezieht sich hier auf einen »Animal Turn« in den Kulturwissenschaften, in dem auch den Tieren kulturelle Formen zugesprochen werden, die natürlich im Menschen verfeinert wurden. Viele Künstler haben sich auf die Wahrnehmung der Natur bezogen wie zum Beispiel Leonardo da Vinci oder Paul Cézanne, die von einer Anverwandlung des Menschen sprachen, mit der wir der Natur nahekommen und sie gleichsam von innen verstehen können. Das ist aber nicht nur eine ästhetische oder philosophische Perspektive, sondern für Wolfgang Welsch auch eine Überlebensfrage. Er sieht uns Menschen als sehr überheblich in unseren kognitiven und technischen Fähigkeiten, aber in unseren moralisch-praktischen Konsequenzen des Erkannten geradezu »kümmerlich«. Seit Jahrzehnten wissen wir von der ökologischen Notlage, finden aber nicht in ein angemessenes Handeln. »Mehr Bescheidung im Kognitiv-Technischen, mehr Unbescheidenheit im Praktisch-Moralischen – das könnte ein Weg sein.«

Wolfgang Welsch stellt mit seiner Perspektive des weltnahen Menschen also keine philosophische Denkübung vor, sondern für ihn liegt in dieser Transformation unseres Selbstverständnisses ein Schlüssel zu einer humaneren und damit auch ökologischeren, lebensfreundlicheren Zivilisation. Dazu braucht es sozusagen einen cosmic turn, in dem wir verstehen, dass wir ein innewohnender Organismus in einem lebendigen Kosmos sind. Und auch dementsprechend handeln.

Author:
Mike Kauschke
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