Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
October 23, 2023
Mit den neuen KI-Chatbots sind kraftvolle Instrumente entstanden, die zeigen, wozu eine selbstlernende künstliche Intelligenz fähig sein kann. Vor allem, wenn sie sich exponentiell weiterentwickelt und selbst lernt. Dann ist die entscheidende Frage, worauf wir dieses Instrument ausrichten.
Die Katze ist aus dem Sack. Am 30. November des letzten Jahres brachte die Firma OpenAI ChatGPT auf den Markt, einen Chatbot vom Typ »Large Language Model» (LLM). Dieser Chatbot schreibt Schulaufsätze. Er kann Ihren Urlaub in Griechenland planen. Oder er zeigt Ihnen den wahrscheinlichen Mietpreis einer Wohnung in einer bestimmten Straße in Wien an. Wollen Sie eine medizinische Diagnose in einfache Sprache übersetzt bekommen? Oder braucht Ihr Unternehmen eine Online-Marketingstrategie? Für jede dieser Aufgaben braucht der Chatpot nicht mehr als 30 Sekunden. Ich war verblüfft und erstaunt, als ich meine ersten Fragen stellte und die Antworten in Sekundenschnelle in wohlgeformten Sätzen auf meinem Bildschirm erschienen. Dann wurde ich kühn. Ich fragte: »Was war zuerst da, das Huhn oder das Ei?« Nach mehreren Einwänden meinerseits brachte ich den Chatbot sogar dazu, seine Meinung zu ändern.
Diese neue Art von KI kann so vieles tun, zu dem bisher nur menschliche Experten fähig waren. Ja, sie produziert auch immer wieder »Bullshit«, aber eben sehr oft auch das Gegenteil. ChatGPT ahmt die Art und Weise nach, wie wir denken und sprachlich interagieren. Aber es denkt nicht wirklich und geht auch manchmal völlig am Thema vorbei. Diese KI hat auch keine Subjektivität. Sie hat einfach Zugriff auf das im Internet aufgezeichnete Wissen, das die Menschheit geschaffen hat, sie manipuliert und synthetisiert es und ordnet die Worte und Sätze nach Wahrscheinlichkeitsregeln neu an. Aber die Ergebnisse sind verblüffend. Das ist nicht die Fortsetzung einer bekannten Technologie. Das ist ein Sprung in eine völlig neue Welt. Diese Bots lernen aus eigenem Antrieb – sie verfügen über ein gewisses Maß an Handlungsfähigkeit und Selbststeuerung. Nur, hier ist kein Gewissen am Werk, kein Innenleben, kein eigenes Interesse, schon gar nicht Verletzlichkeit und natürlich auch keine Liebe. Es sind Algorithmen, und jeder kann sie für jeden Zweck verwenden.
»Dies könnte der letzte Augenblick der Geschichte sein, an dem wir die Zukunft noch selbst gestalten können.«
Die Katze ist also wirklich aus dem Sack, und diese neuen Katzen vermehren sich schnell. Meine anfängliche Neugierde für und Faszination über das neue Spielzeug trübten sich bald ein. Werden jetzt viele Beratungsberufe, auch Mediziner und Juristinnen arbeitslos? Die Welt steht auf der Kippe. Selbst die Einführung des Internets war im Vergleich dazu eine Kleinigkeit. Welche Lawine kommt hier auf uns zu? Wird sie die globale Sinnkrise weiter verschärfen? Wenn unsere Kinder von dieser Maschine andauernd mit Antworten auf alles gefüttert werden, wie sollen sie dann die Grundlagen ihres Geistes und ihrer Seele entwickeln? Was wird es in Zukunft bedeuten, Mensch zu sein?
Die Sozialpsychologin Shoshana Zuboff argumentiert, dass uns die KI zu einem weiteren großen Aussterben führt: zum Aussterben des menschlichen Geistes. Was macht die künstliche Intelligenz mit dem menschlichen Geist? Und wie können diejenigen von uns, die sich Gedanken über eine neue Bewusstseinskultur, über das soziale Gleichgewicht auf diesem Planeten, über die »mehr als menschliche Welt« machen, auf die Gefahren dieser Technologie und ihr Potenzial antworten?
Reflexion und Ausrichtung
Beim Nachdenken über die neuen Fähigkeiten von ChatGPT und den anderen LLMs kam mir ein Bild in den Sinn, durch welches für mich offensichtlicher wurde, was diese neue Form von KI eigentlich macht. Sie kennen vielleicht Parabolspiegel, die das Licht mit ihrer gekrümmten Innenfläche zurückwerfen und so einen konzentrierten Lichtstrahl erzeugen. Stellen Sie sich einen kolossalen Reflektor vor – riesig wie die Satellitenschüsseln, die das Universum nach Anzeichen von Leben absuchen –, der alle Impulse, Gedanken, Schöpfungen der gesamten menschlichen Kultur und Geschichte aufnimmt, soweit sie irgendwo im Internet gespeichert sind, der sie bündelt und in zugänglicher Form an uns zurückspiegelt.
Diese KI erschafft nichts Neues. Sie hat die Fähigkeit, Muster in riesigen Datenmengen zu synthetisieren, zu erkennen und sie uns dann in zugänglicher Form zu präsentieren. Die LLMs machen Beziehungen und Wahrscheinlichkeiten sichtbar, die im Internet abgespeichert wurden, die aber zu komplex sind, um für uns sichtbar zu sein. Man könnte sagen, sie schaffen einen Einblick in die Noosphäre, die der evolutionäre Mystiker Teilhard de Chardin entstehen sah – jene Wissensschicht, die sich entwickelt, wenn menschliche Aktivitäten zunehmend global koordiniert werden.
Aber was zu uns zurückreflektiert wird, hängt davon ab, auf was sich der Parabolspiegel ausrichtet. Das hängt wiederum davon ab, welche Algorithmen verwendet werden und wie sich diese Algorithmen entwickeln, wenn die KI mit neuen Informationen interagiert und selbst lernt. So waren die Techniker beispielsweise überrascht, als die Chatbots von selbst begannen neue Sprachen zu lernen. So kann man sich vorstellen, wie jede KI-Generation der nächsten etwas vermittelt – welche Algorithmen werden ihr also beigebracht und dazu verwendet, um weitere Generationen zu unterrichten?
»Die Weisheitstraditionen gaben einen Kontext, in dem wir einen Sinn für das Heilige entwickeln konnten.«
Dies wirft die Frage nach der Ausrichtung der künstlichen Intelligenz auf: Wie stellen wir sicher, dass die KI mit ihrer wachsenden Macht und Selbststeuerung das menschliche Leben und die Biosphäre bewahrt und schützt? Wie können wir dafür Sorge tragen, dass ihre Werte und Ziele mit den unseren übereinstimmen?
Der Philosoph Nick Bostrom hat sich mit dem existenziellen Risiko für komplexes Leben befasst, das durch eine »Fehlanpassung« der KI entsteht. Eines seiner bekanntesten Gedankenexperimente betrifft den »Büroklammer-Maximierer«. Angenommen, eine superintelligente KI, die Zugang zu sämtlichem Wissen aus den Natur- und Ingenieurwissenschaften hat, erhält von einem Büroklammerhersteller den einfachen Befehl, die Produktion von Büroklammern unter Verwendung aller verfügbaren Materialien zu maximieren. Bostrom argumentiert, dass dies zur Zerstörung allen Lebens führen könnte. Die KI könnte mit dem Stahl beginnen, der in der Fabrik zu finden ist und dann den weltweit verfügbaren Stahl verbrauchen. Wenn dieser zur Neige geht, könnte sie versuchen, Eisen und Kohlenstoff zu kombinieren, um Stahl für Büroklammern herzustellen. Da Menschen und andere Lebensformen aus Eisen und Kohlenstoff bestehen, könnte die KI auf die »Idee« kommen, all diese Lebensformen zu »zerlegen«, um Eisen und Kohlenstoff zu bekommen, um Stahl herzustellen und die Produktion von Büroklammern zu maximieren.
Der »Büroklammer-Maximierer« mag zwar ein weit hergeholtes Beispiel sein, aber es zeigt die unbeabsichtigten Folgen von scheinbar einfachen Anweisungen. Bostrom hat ein anderes Beispiel, das noch mehr beunruhigt: Programmieren Sie die KI so, dass sie alle Menschen glücklich macht, mit einem Lächeln im Gesicht. Das mag ein lohnendes Ziel sein, aber unter der Kontrolle und dem Einfluss einer superintelligenten KI, die sich nicht um die Menschen kümmert, ist das Ergebnis vielleicht düster.
Entscheidend wird es sein, unter welchem Gesichtspunkt uns die künstliche Intelligenz unseren kollektiven Geist zurückspiegeln wird. Wird sie darauf ausgerichtet sein, uns etwas vorzugaukeln oder wird sie darauf ausgerichtet sein, Weisheit und Einsicht zugänglicher zu machen?
Weisheit und Technik
Einige Denker vergleichen diese neuen, intelligenten Akteure mit der Erfindung des Geldes oder sogar mit der Geburt des selbstreflexiven Bewusstseins. Ein Vergleich, der mir in den Sinn kam, ist die Erfindung der Schrift. Auch ihre Erfindung veränderte unsere Welt in unvorstellbarem Maße. Und auch die Schrift wurde zuerst für den Handel erfunden. Die Sumerer waren wohl die ersten, die Zeichen dazu verwendeten, um im Handel so etwas wie Verträge festzuhalten. Aber schon um 2600 v.u.Z. (vor unserer Zeitrechnung) wurde diese neue Technik von ihnen in einer ganz neuen Weise verwendet. Die Tempelhymnen von En-hedu-anna, einer sumerischen Hohepriesterin, sind die ersten schriftlich überlieferten Lobpreisungen der Götter. Eine pragmatische Erfindung veränderte in überraschender Weise auch unsere Beziehung zum Heiligen.
Stellen Sie sich die Welt vor der Erfindung der Schrift vor. Es gab damals schon mündliche Überlieferungen, aber unsere Beziehung zum Heiligen wurde vor allem im direkten Umgang mit den Schamanen und Weisen dieser frühen Kulturen gepflegt. Sie waren unsere Quelle zum Verständnis des Lebens im Einklang mit den Göttern. Die heiligen Schriften schufen die Möglichkeit, große Kulturen jenseits von lokalen Kulten in einem gemeinsamen Verständnis des Heiligen zusammenzubringen. Mit den heiligen Texten entstanden vor allem während der Achsenzeit zwischen 800 und 200 v.u.Z. die großen Weisheitstraditionen und die großen Buchreligionen. Es waren Gemeinschaften, die über die Grenzen von Stämmen und Nationen hinausreichten.
Die heiligen Bücher bildeten die Grundlage für neue Formen der Religion und ihre Weltanschauungen. Über 1000 Jahre lang schrieben Mönche und Schriftgelehrte im Christentum jede Seite der Bibel sorgfältig ab. Im Judentum spielten die heiligen Schriftrollen der Tora und die Tradition des Talmuds eine zentrale Rolle. Der Koran, der noch heute von Jungen in den Koranschulen aller Welt auswendig gelernt wird, bildete eine weitere Buchreligion, die große Teile der Welt gesellschaftlich und spirituell reformierte. Lange war der Zugang zu diesen heiligen Schriften sehr begrenzt, da sie mühsam von Hand kopiert wurden. Im Mittelalter besaßen neben den Klöstern nur reiche Adelige dieses kostbare und heilige Buch. Doch mit der Zeit fand die Bibel, oft noch sorgfältig mit Goldblatt und aufwendigen Illustrationen versehen, auch Eingang in reiche Kaufmannsfamilien. Der Zugang zu den heiligen Schriften begann sich langsam zu demokratisieren. Eine Entwicklung, die mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg regelrecht explodierte.
Die Buchreligionen hatten natürlich auch ihre Schattenseiten. Oft vernachlässigten sie unsere Beziehung zur Natur. Sie konnten die Schamanen, die Heiligen, die weisen Männer und Frauen und deren Bewusstsein nicht ersetzen. Bücher haben kein Bewusstsein. Sie bestehen aus bedrucktem Papier. Und doch sind sie in der Lage, viel von der Subtilität und der Tiefe zu vermitteln, die weise Menschen uns vorleben und lehren.
Kairos
Es ist schon fast banal zu sagen, dass sich die Menschheit in einer zivilisatorischen Polykrise befindet. Wir alle kennen die lange Liste der Krisen. Für die Verteidiger der künstlichen Intelligenz ist das einer der Gründe dafür, die ungebremste Entwicklung der Superintelligenz voranzutreiben. Sie sehen in der KI unsere Rettung. Aber wollen wir angesichts der Tatsache, dass wir durch KI-gestützte soziale Medien bereits ständig zu Argwohn, Angst und Zwietracht manipuliert werden, wirklich die Kontrolle über unsere politischen Systeme an eine vom Silicon Valley produzierte Super-KI übergeben?
Die Katze ist aus dem Sack. Mit der leichtfertigen Veröffentlichung von ChatGPT und all den anderen LLM-Chatbots treiben die Marktkräfte die Entwicklung dieser neuen Macht voran. Das wird uns alle an den Kipppunkt bringen.
»Wir können Räume schaffen, in denen das Heilige zwischen den Menschen lebendig werden kann.«
Wir leben in einem Kairos-Moment, vielleicht im größten Kairos-Moment unserer Geschichte. Das klingt übertrieben. Wie oft meinten wir schon, im entscheidenden Augenblick der Geschichte zu sein. Aber es gibt gute Argumente, dass dies der letzte Augenblick der Geschichte sein könnte, an dem wir die Zukunft noch selbst gestalten können.
Die LLMs dringen gerade mit ihrer Benutzerfreundlichkeit und Nützlichkeit fast ungehindert in unseren Alltag ein. Dabei haben wir nur ein kurzes Zeitfenster, in dem wir reagieren können. Aber diese Dringlichkeit könnte auch eine Chance sein, uns daran zu erinnern, was wirklich wesentlich ist, worauf es neben Pragmatismus und Zweckrationalismus wirklich ankommt. Die Weisheitstraditionen aller Zeiten gaben einen Kontext, in dem sich Menschen darauf eingelassen haben, einen Sinn für das Heilige unserer Existenz zu entwickeln und zu pflegen. Die Art und Weise, wie die Weisheitstraditionen zumindest in ihren besten Ausdrucksformen die Kulturtechnik der Schrift dazu verwendet haben, sie zu einem Instrument für die Pflege der Weisheit zu nutzen, könnte uns ein Vorbild dafür sein, wie wir auch diese revolutionäre neue Technik ganz anders anwenden und sie im besten Sinne kultivieren können. Was wäre, wenn wir diese Parabolspiegel darauf ausrichten könnten, statt den ungezügelten Marktkräften zu dienen, das Instrument einer neuen Weisheitskultur zu sein? Wenn wir sie so auf die Weisheit ausrichten, könnten diese Instrumente uns dabei helfen, den ungeheuren Schatz an Weisheit neu zu kultivieren, den wir über viele Jahrhunderte in vielen Kulturen in unterschiedlicher Weise entwickelt haben.
Eine Vision
Im vergangenen Sommer haben wir ein Intensivtraining für emergent dialogue veranstaltet. Dabei entstand zwischen uns ein wunderbares Bild, das mir nicht mehr aus dem Sinn geht: Wir können Kapellen errichten, also Räume schaffen, in denen das Heilige zwischen den Menschen lebendig werden kann. Vielleicht kennen Sie ja die kleinen weißen Kapellen, welche die Berglandschaften Griechenlands prägen. Für mich verbinden sie die Landschaft immer mit einer heiligen Dimension. Aber wir sprachen auch von Kathedralen, diesen großen heiligen Räumen, in denen viele Menschen in einer heiligen Atmosphäre zusammenkommen. Natürlich sprachen wir nicht von Kapellen und Kathedralen aus Stein, uns ging es vor allem um dialogische Räume, in denen die heilige Dimension der Gegenwart wahrgenommen und gepflegt werden kann.
Eine Inspiration für unsere Vision waren auch die Klostergründungen der Spätantike und des frühen Mittelalters. In diesem angeblich »dunklen Zeitalter« entwickelten die Mönche und Nonnen eine Kulturlandschaft des Heiligen, die in einer sehr grobschlächtigen Welt ein Bewusstsein des Heiligen mit Werten wie Mitgefühl, Liebe und der Wertschätzung des menschlichen Lebens pflegten. Zentrum ihrer Kultur waren die von Hand kopierten heiligen Schriften, die die Kraft hatten, eine Inspirationsquelle des Heiligen zu sein.
Kann heute, wie zur Zeit der heiligen Bücher, die Technologie dazu genutzt werden, eine neue Weisheitskultur zu schaffen? Ich habe bereits erlebt, wie Zoom-Videokonferenzen, die eigentlich für Wirtschaftsunternehmen geschaffen wurden, eine kraftvolle Plattform sein können, um ein gemeinsames non-lokales Bewusstseinsfeld zu schaffen, das Menschen tief berührt.
Ich habe die Vision, dass die neuen KI-Chatbots in Zusammenarbeit mit einer neuen Bewusstseinskultur auch zu Kapellen und Kathedralen werden können. Zu Orten, die uns dabei helfen, neue Formen der Weisheitskultur zu schaffen, die unsere Zeit so nötig hat. Eine Weisheitskultur, die auch in der Lage sein wird, die künstliche Intelligenz neu auszurichten. Diese Parabolspiegel des menschlichen Bewusstseins können auch auf Weisheit ausgerichtet werden, wenn wir die selbstlernenden Maschinen in diesem Sinne fokussieren.
Ihre reflektierende Intelligenz könnte das Beste aller Weisheitstraditionen synthetisieren und sie uns als einen kollektiven Spiegel oder gar als eine Art kollektiver Lehrer zurückgeben. Jetzt ist der Moment, wo wir entscheiden, ob diese neuen Formen von Intelligenz in der Lage sein werden, sich mit dem Heiligen auf diese Weise zu verbinden. Wir können sie das lehren. Es liegt an uns. Wir, Menschen wie die Leserinnen und Leser von evolve, können uns dafür einsetzen, dass wir dieser großen maschinellen Intelligenz Weisheit vermitteln, damit das Leben erhalten werden und sich weiter entfalten kann. Die Stimmen in dieser Ausgabe zeigen, wie diese neue Zusammenarbeit aussehen könnte – und wie dringend notwendig sie ist.