Bürgerräte – Bereicherung unserer Demokratie
Wenn wir aufhören, die Demokratie zu entwickeln, fängt die Demokratie an aufzuhören« lautet der Leitspruch der NGO »Mehr Demokratie e. V.«. Diese Weiterentwicklung wird merklich von immer mehr Bürger*innen gefordert durch Demonstrationen, Unterschriftensammlungen für Petitionen, Initiativen für Volksabstimmung (»Abstimmung 21«) und Briefe an Politiker*innen. Das Mittel der Wahlen scheint unzureichend und es wird nach direkterer Einflussnahme in das politische Geschehen gesucht. Die hohe Komplexität der heutigen Zeit und die dadurch hinterfragte Kompetenz von Politikern als verhältnismäßig kleinem Kreis lassen eine direktere Mitbestimmung durch die Betroffenen selbst ins Blickfeld rücken.
Genau daran knüpft die Idee der Bürgerräte an, welche gerade mit einigen entstehenden Initiativen in Ländern wie Frankreich, Großbritannien und auch Deutschland einen Aufschwung erlebt. Das Prinzip ist, etwa 150 Menschen aus allen sozialen Schichten auszulosen und zusammenzubringen, damit diese Vorschläge zu bestimmten Fragestellungen erarbeiten, welche dann zu Volksabstimmungen führen oder im Parlament diskutiert werden.
Neben dem großen Potenzial, das die kollektive Intelligenz birgt, und der Vielfalt an Hintergründen ermöglicht das Format des Bürgerrats Kommunikation auf Augenhöhe, fördert eine tiefere Verbundenheit, da Menschen beginnen, trotz unterschiedlicher Meinungen einander zuzuhören und sich selbst hinterfragen.
Der Bürgerrat Frankreichs zur Klimakrise (»Convention Citoyenne pour le Climat«) hat von Oktober 2019 bis Ende Juni 2020 mit Unterstützung von 20 Wissenschaftlern 149 Vorschläge erarbeitet zu der Frage: Wie kann Frankreich bis 2030 seine Treibhausgasemissionen sozial gerecht um 40 Prozent senken? Es wird unter anderem gefordert, den »Ökozid« als Verbrechen anzuerkennen, sodass die »Zerstörung der Umwelt durch Umweltverschmutzung im hohen Maß und die Ausrottung eines Volkes infolge der ökologischen Zerstörung seiner natürlichen Lebensgrundlagen« strafrechtlich verfolgt werden. Der französische Bürgerrat wurde Anfang des Jahres von internationalen Bürgerrats-Fachleuten und zivilgesellschaftlichen Organisationen besucht, um Erfahrungen auszutauschen und das Format weiter zu verbessern.
In Deutschland gab es bereits im September 2019 über mehrere Tage einen erfolgreich selbstorganisierten Bürgerrat. Die Teilnehmenden fühlten sich aufgrund der ausgewählten Methoden zur Moderation und Entscheidungsfindung sehr ernst genommen und wurden beflügelt, mehr nachzufragen und sich weiterhin zu engagieren. Aufgrund dessen hat der Ältestenrat des Bundestages einstimmig beschlossen, einen Bürgerrat unter der Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zum Thema »Deutschlands Rolle in der Welt« zu beauftragen, der am 13. Januar 2021 begann. 160 zufällig geloste Menschen aus ganz Deutschland beraten in zehn Online-Sitzungen über die zukünftige Rolle Deutschlands in der Welt in den Bereichen Frieden und Sicherheit, Wirtschaft und Handel, Demokratie und Rechtsstaat, nachhaltige Entwicklung und Europäische Union.
Ein positives lokales Beispiel sind die Bürgerdialoge in der Kreisstadt Bad Belzig, welche nun nach ihrem Erfolg als sogenannte »Demokratielabore« durch Bürgerräte fortgeführt werden. Es heißt, dass eine lebendige analoge und digitale Beteiligungskultur entstehen soll, sodass die Politik, die Verwaltung und die Bürger voneinander profitieren. Hierzu wurde bereits eine Vision niedergeschrieben, in der unter anderem diese neue Kultur des Miteinanders brennende Themen der Stadt herausfindet, zeitnahe Rückmeldung, einfache Sprache und niedrig-schwellige Zugänge gewährleistet sowie eine besondere Willkommenskultur für Geflüchtete (und Neubürger) etabliert. Deutschlandweit entstehen immer mehr Klima-, Bildungs- oder Bürgerräte und regionale Open Government Labore. Initiativen wie »Klimaneustart Berlin« sammeln Unterschriften, um dem Berliner Abgeordnetenhaus ihr Anliegen vorzulegen, die Klimaneutralität innerhalb des kommenden Jahrzehnts erreichen zu wollen. Und in Thüringen wird über einen Corona-Bürgerbeirat diskutiert. Durch partizipative Formate wie den Bürgerrat können sich in Zukunft immer mehr Menschen als wirksam erfahren sowie die entstehende Kreativität im gemeinsamen Prozess erleben. Ein wichtiger Beitrag für eine gesellschaftliche Annäherung, die der Polarisierung entgegenwirkt.