Tod mit Wiedergeburt
Das Schumacher College wird »ausgewildert«
July 12, 2021
Die zerklüfteten Skulpturen von Andreas Kuhnlein lassen wohl niemanden kalt. Manche erschreckt die Radikalität, mit der er seine Figuren mit der Motorsäge aus dem Holz schneidet. Für andere zeigt sich darin besonders eindrücklich unsere menschliche Verletzlichkeit. Oder beides. Kompromisslos geht der Autodidakt seinen künstlerischen Weg, tief verwurzelt in den Chiemgauer Alpen und gleichzeitig mit Ausstellungen und einer Professur in China international unterwegs. Die Kunst kommt für ihn aus dem Leben und mit seinen Skulpturen will er dazu anregen und durchaus auch provozieren, sich tiefer mit Licht und Schatten des Menschseins auseinanderzusetzen. Dabei reagiert er auch auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, reflektiert philosophische Fragen oder nimmt historische Bezüge auf.
evolve: Ihre Kunst ist eng mit Ihrer Biografie verwoben. Sie sind im Dorf Unterwössen im Chiemgau aufgewachsen, haben Schreiner gelernt und waren einige Jahre beim Bundesgrenzschutz, um dann den Hof der Familie zu übernehmen. Langsam sind sie dann zum Schnitzen und zur freien Bildhauerei gekommen. Gab es da einen Moment, wo Sie gespürt haben, jetzt bin ich Künstler?
Andreas Kuhnlein: Das ging schleichend. 1990 hatte ich meine erste Ausstellung außerhalb von Unterwössen, im Nachbardorf, im »Haus des Gastes«. Dort habe ich die erste Skulptur verkauft, was ein sehr erhebendes Gefühl war. Während der Ausstellung traf ich den Dekan der Hochschulde Rosenheim. Er lud mich ein zu einem viersemestrigen Kunststudium, was ich dankbar in Anspruch nahm. Ganz besonders interessiert mich bis heute die griechische Antike. Für mich ist ein dorischer Tempel mit seiner »Einfachheit« und Klarheit ein Ausdruck der ästhetischen Vollkommenheit. Bei der Ausstellung »Zerklüftete Antike« in der Glyptothek München hatte ich dann viele Jahre später die Gelegenheit, mit meinen Arbeiten auf die Antike zu antworten.
Im Laufe der Zeit wurde für mich der Mensch zum zentralen Thema: sein Streben und Scheitern, sein Hoffen und Zweifeln, was ihn antreibt. Er kann Dinge schaffen, bei denen es dir vor Rührung die Tränen in die Augen treibt, und auf der anderen Seite hat er eine zerstörerische Kraft, die einen erschaudern lässt. Dieser Zwiespalt prägt seit 30 Jahren meine künstlerische Arbeit.
e: Wie sind Sie dann zu der Arbeit an den zerklüfteten Skulpturen gekommen?
AK: Alle zwei bis drei Jahre suchte ich ein neues Thema, einen neuen Stil. Das waren Porträts, abstrakte Figuren oder Tischbildnisse, mit denen ich mich einige Jahre beschäftigt habe. Dabei ging es mir um eine Art Bildersprache, bei der man bestimmte Begriffe in Form eines Tisches sichtbar macht.
Dann gab es dieses Interview mit Kardinal Ratzinger, der viele Jahre hier in Unterwössen Urlaub machte. In dem Gespräch wurde er zur Inquisition befragt, die er als einen Fortschritt bezeichnete, weil es Untersuchungen, folglich eine Rechtsprechung gab. Eine moralische Bewertung zu den menschenverachtenden Handlungen unterließ er, was mich sehr enttäuschte und auch wütend machte. Mit der Motorsäge schuf ich den »Großinquisitor« und zerklüftete zum ersten Mal die Skulptur sehr stark. Seitdem arbeite ich in diesem Stil. Es war genau das, was ich fast 14 Jahre lang gesucht hatte, es war die Befreiung meines Lebens. Es bringt zum Ausdruck, was mich bewegt: die Brutalität des Menschen dem Mitmenschen und der Natur gegenüber, seine Verletzbarkeit und Zerbrechlichkeit und als Drittes die zentrale Wahrheit menschlicher Existenz, nämlich die Vergänglichkeit.
Geschichten erzählen
e: Gab es in der Arbeit mit den zerklüfteten Skulpturen eine bestimmte Entwicklung?
AK: Die Zerklüftung ist als Grundmethode gleich geblieben. An der Oberfläche kann ich erkennen, in welcher Verfassung ich bei der Entstehung war. Wenn es aus einer heftigen Emotion kommt, dann sind die Schnitte sparsam und radikal. Wenn der Kopf sich zu stark einmischt, dann werden es immer mehr Schnitte und ich finde nur schwer ein Ende. Auch das Aufräumen des Arbeitsplatzes gehört dazu. Wenn ich die Abfälle Scheit für Scheit aufschichte, hat das schon etwas Meditatives.
In den letzten Jahren wurde es für mich immer wichtiger, mit mehrteiligen Arbeiten Geschichten zu erzählen. Der Mensch lebt von Bildern und darin lässt sich etwas vermitteln, was uns alle zum Denken anregt. Ein Beispiel ist die Skulpturengruppe »Troika«: Drei Männer ziehen ein Schiff, eine Metapher für unsere Welt, die nach wie vor männlich geprägt und stark malträtiert ist. Das Schiff ist nicht mehr seetauglich. Darin sitzt ein Hund, er steht für unsere Mitgeschöpfe, und dahinter steht eine schwangere Frau, die zur Schärfung des Blicks die Hand erhoben hat. Sie beobachtet, ob das Menschheitskollektiv auf dem richtigen Weg ist. Sie trägt die Zukunft in sich, was Hoffnung symbolisiert.
Es sind zunehmend umfangreiche Arbeiten entstanden, wie das 140-teilige »Narrenschiff«, bei dem ich mich auf den mittelalterlichen Text von Sebastian Brant beziehe, der darin menschliche Laster thematisiert. Die Arbeit ist in zwei Bereiche gegliedert. In einem rot-braun eingefärbten Hackschnitzel-Feld werden Menschen gezeigt, die nur an dem für sie selbst Bedeutsamen festhalten und den drohenden Untergang ignorieren. Sie halten die Attribute ihrer Unvernunft höher als ihren Kopf, sei es ein Kamm für die Eitelkeit oder ein Goldbarren für die Habgier oder eigentlich positive Attribute, die auch zu Götzen werden können, wie ein Zeichenstift, eine Gitarre oder ein Glaubenssymbol. Im zweiten, anschließenden Bereich sieht man Verhaltensweisen mit offenem Ausgang. Hier sind die Menschen noch in der Lage, ihr Handeln zu ändern und den Untergang abzuwenden. Ein Hoffnungsträger ist der Vater mit seinem Kind auf den Schultern, der zum rettenden Ufer strebt.
Solche mehrteiligen Arbeiten erfordern vom Betrachter und auch von mir selbst einen intensiven Prozess des Einlassens, durch den sich etwas im Denken und Fühlen bewegen kann. Das ist auch ein Grund dafür, dass ich gern Schulklassen einlade oder Projekte mit Schülern mache. Ich finde es faszinierend, bei den jungen Menschen eine Haltung des Hinterfragens anzuregen.
ICH BIN KEIN DEKORATEUR, DER IRGENDETWAS MACHT, WAS MAN SICH ÜBERS KANAPEE HÄNGT, UM SICH WOHLZUFÜHLEN.
Für mich war immer selbstverständlich, dass Kunst auch eine gesellschaftspolitische Aufgabe hat. Durch meine Professur in China und Ausstellungen in Ungarn und Serbien wurde mir klar, dass es nicht selbstverständlich ist, sich als Künstler frei äußern zu können. Ich sehe mich in der Verantwortung, mit meinen Möglichkeiten einen Beitrag zu leisten, dass dies in Zukunft erhalten bleibt.
Zarte Radikalität
e: Haben Sie schon ein Bild im Kopf, wenn Sie an eine Arbeit gehen?
AK: Ja, die Figur steht mir schon ganz klar vor Augen. Es gibt keine Skizze, weder auf dem Papier noch am Stamm. Aber ich zeichne zu Beginn gewissermaßen mit der Motorsäge die Konturen und bekomme so die richtigen Proportionen. Es gibt aber keine Nachbearbeitung, das würde den Skulpturen die Radikalität nehmen. Wichtig sind für mich Thema und Inhalt, nicht das Zeigen von spektakulären Schnitttechniken. Viele vermuten ein Spektakel bei der Arbeit mit der Motorsäge. Für mich ist sie ein sensibles Werkzeug und Mittel zum Zweck. Es gibt mir die Möglichkeit, unterschiedliche Gemütslagen relativ schnell umzusetzen, und zwingt mich zudem, mich auf Wesentliches zu beschränken. Bei thematischen Arbeiten wie den Figuren für die Europarat-Ausstellungen »Otto der Große« und »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation« arbeite ich mit Historikern zusammen. Hier habe ich zwar gestalterische Freiheit, aber es muss auch mit den historischen Tatsachen übereinstimmen.
Ob freie Arbeiten oder solche mit historischem Bezug, ich bin kein Dekorateur, der irgendetwas macht, was man sich übers Kanapee hängt, um sich wohlzufühlen. Aber ich möchte auch nicht abschreckend wirken. Ich sehe meine Zerklüftungen als Zeichen des gelebten Lebens, wie bei einem alten Menschen. Zudem faszinieren mich die Parallelen von menschlichem Gesicht und den Jahresringen eines Baumes. In beiden erkennen wir gespeichertes Leben, können daraus lesen, wie aus einem Tagebuch.
e: In der Zerklüftung liegt ja auch eine Zartheit. Ich spüre darin auch ein Mitgefühl für die Zerbrechlichkeit des Menschen und der Schöpfung.
AK: Die zerklüfteten Figuren sind für mich ein Gleichnis für das Leben. Wenn ich eine Wochenendbeziehung habe, dann zeige ich nur meine beste Seite. Wenn man einander näher kennenlernt, dann schaut man auch hinter die Fassade. Man sieht vielleicht etwas Zerbrochenes oder aber eine verborgene Schönheit. Ich möchte wissen, was hinter der glatten Oberfläche ist. Durch die Zerklüftung, durch das Aufreißen versuche ich Einblick in das Innere des Menschen zu gewähren, sozusagen den symbolischen Blick hinter die Fassade.
Eine eindrückliche Erfahrung dazu war eine Ausstellung in einer psychiatrischen Klinik. Ein Freund, der Psychiater ist, hatte mich dazu eingeladen und ich durfte ihn zu Patientengesprächen in die geschlossene Abteilung begleiten. Er beschrieb mir anschließend 15 Krankheitsbilder, zu denen ich jeweils eine meiner Meinung nach passende Skulptur gestaltete. Diese wurden auf die betreffenden Stationen verteilt und in die Patientengespräche mit einbezogen. Die Reaktionen darauf waren sehr bewegend. Die Menschen haben sich darin wiedererkannt. Einer schrieb mir, dass er gerne so wäre wie die Skulpturen von Michelangelo, aber er wüsste, dass er so ist wie die Skulpturen von Kuhnlein.
Solche Reaktionen kann dir nicht der Kunstmarkt bieten, das muss aus dem Leben kommen. Ich erhalte fast täglich E-Mails mit Reaktionen auf meine Skulpturen, darunter auch kritische, die mich anregen, über meine Kunst nachzudenken, aber auch darüber zu sprechen. Diesen Austausch mag ich sehr. Ich bin nicht der Typ, der hochintellektuelle, kunsttheoretische Gespräche führt. Oft habe ich die tiefsten Gespräche über Kunst mit einfachen Menschen, die dem Kunstbetrieb fern sind, und auch mit den Kindern der Schulklassen, die zu mir kommen. Kunst sollte nicht den Anspruch des Elitären in sich tragen und sich schon gar nicht dem Kommerz unterordnen.
Die Öffnung im Herzen
e: Bestimmt das Material, die Beschaffenheit der Baumstämme auch, wie sich die Figuren entwickeln? Ich habe gesehen, dass es manchmal regelrechte Löcher in den Skulpturen gibt.
AK: Nein, eigentlich nicht. Ich nutze nur Windwurf und kranke Bäume oder gefällte Bäume vom Straßenbau oder ähnlichem, wegen mir muss also kein Baum gefällt werden. Das Loch in der Herzgegend finden Sie bei jeder meiner Figuren. Das fing beim Großinquisitor an, weil ich mir damals dachte: ›Ein Herz hast du nicht gehabt.‹ Deshalb habe ich es ihm herausgeschnitten. Heute geschieht es einfach von selbst. Ich habe mich immer wieder gefragt, warum das so ist. Kunst entsteht im Auge des Betrachters, deshalb will ich anregen, darüber nachzudenken, ob dort an dieser Stelle, bei einem selbst oder beim Partner, sich das liebende Herz befindet oder eine gewisse Leere. Kunst soll Bewegung in die Köpfe bringen, natürlich auch in meinen.
Es gibt Menschen, die darüber verstört sind, dass ich die Figuren »so zurichte«, wie eine Ausstellungsbesucherin zu mir sagte. Andere erkennen darin ihre eigene Befindlichkeit wieder. Mit einer Schulklasse hatte ich da ein schönes Erlebnis. Da kam ein Bub aus der 5. Klasse zu mir und fragte: »Hast du dem das Herz reingeschnitten oder rausgeschnitten?« So eine Frage hat mir noch kein Erwachsener gestellt.
e: Sie sind sehr verwurzelt an diesem Ort hier. Hat diese Verwurzelung auch eine Wirkung auf Ihre Arbeit?
AK: Ja, davon bin ich zutiefst überzeugt. In den letzten 30 Jahren hatte ich zahlreiche Ausstellungen in 16 Ländern, fühle mich aber hier sehr verwurzelt. Mit dem Begriff Heimat gehe ich sehr vorsichtig um, weil er oftmals missbraucht wird. Aber wenn ich zwei Wochen von daheim fort bin, spüre ich das körperlich. Das kommt sicher auch daher, dass ich in der Landwirtschaft groß geworden bin. Die Verbindung zum Boden, zu den Wiesen und zum Wald ist bei mir einfach da. Dazu brauche ich Heimat nicht zu verklären, aber ich fühle mich verantwortlich. Wenn irgendwo hier ums Haus der Wildwuchs gedeiht, dann mähe ich. Kulturlandschaft gibt es nicht umsonst. Auch im Dorf engagiere ich mich, wenn mich etwas beschäftigt. Vor einigen Jahren habe ich z. B. die Heimatvertriebenen-Gedenkstätte auf unserem Friedhof, die zu verfallen drohte, in Eigenregie restauriert. Ich konnte nicht mit ansehen, wie dieses Mahnmal verrottet, das, ganz abgesehen von den Betroffenen, nicht zuletzt für das Geschichtsbewusstsein eines Dorfes von erheblicher Bedeutung ist.
e: Mit dem Großinquisitor haben Sie ein religiöses Thema aufgegriffen und thematisieren solche Fragen auch immer wieder in Ihren Arbeiten. Wie ist Ihr Bezug zum Religiösen und Spirituellen?
AK: Ich bin hier in einer sehr konservativen Gegend aufgewachsen, war Ministrant. Sicher wirkt dadurch auch etwas im Unterbewusstsein, was die barocken Kirchen mit ihren zahlreichen Figuren betrifft. Kirche war über Jahrhunderte Nährboden für Kunst und Kultur. Obwohl ich der Institution Kirche kritisch gegenüberstehe, bin ich nicht ausgetreten. Etwas von außen kritisieren ist immer leicht, einen konstruktiven Beitrag für eine positive Veränderung zu leisten, erfordert Engagement und auch die Bereitschaft zur Auseinandersetzung. Außerdem begegne ich häufig Pfarrern, die sehr engagiert sind und neue Impulse einbringen, die ich, am besten mit den Mitteln der Kunst, unterstützen möchte.
Was das Religiöse bzw. die Spiritualität anbelangt, glaube ich schon, dass es etwas gibt, das unsere Vorstellungskraft übersteigt. Ich denke auch, dass irgendwann der Zeitpunkt kommt, wo man Rechenschaft ablegen muss. Wer der Richter ist, weiß ich nicht – vielleicht sind wir es selbst. Ich glaube jedenfalls nicht, dass man im Leben tun und lassen kann, was man will, ohne die Konsequenzen dafür zu tragen. Wenn ich einmal die Augen schließe, dann hoffe ich, dass der Bereich, in dem ich wirken konnte, nach meiner Zeit nicht schlechter geworden ist, vielleicht sogar ein wenig besser.