Kunst, Religion und Europa

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Interview
Publiziert am:

November 6, 2020

Mit:
Soundous Boualam
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AUSGABE:
Ausgabe 28 / 2020:
|
November 2020
Der Sinn des Lebens
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Gesichter der europäischen Vielfalt 

Soundous Boualam ging den Weg aus einer traditionell islamischen Erziehung in Marokko zum Studium in Schottland und zur politischen Arbeit für die Vielfalt Europas. Dabei schöpft sie aus ihrer künstlerischen Inspiration und ihrer persönlichen Beziehung zu Gott. Wir sprachen mit ihr über ihre Erfahrungen als progressive Muslima in Europa.

evolve: Was hat dich aus deiner islamischen Herkunft heraus dazu bewegt, in Schottland zu studieren und daraufhin für eine NGO zu arbeiten? Wie war dieser Neuanfang für dich?

Soundous Boualam: Meine islamische Bildung durchlief ich in einer französisch-­europäischen Schule in Marokko als einem liberal geprägten muslimischen Land. Bei meiner Ankunft in Europa empfand ich somit keinen kulturellen Konflikt, denn Gerechtigkeit und Freiheit sind internationale Werte, die viele von uns teilen. Es waren viel-mehr die ökonomischen und sozialen Möglichkeiten, die mich in Europa faszinierten.

Es war natürlich ein großes Privileg, dass ich meinen ersten Job ausgerechnet beim Europäischen Parlament fand. Zu dieser Zeit war ich viel in Clubs unterwegs und vernachlässigte das Beten oder das Fasten an Ramadan, wodurch meine islamische Erziehung in den Hintergrund rückte. In meiner Kunst empfinde ich eine viel tiefere Verbindung zu mir selbst und zu Gott. Kunst beruhigt meine Seele und erschließt mir meine Innenwelt. Ebenso verbinde ich mich mit der Schönheit der Welt, indem ich diese Schönheit ausdrücke – in einem Foto, einem Video, in einem Text oder im Klang. Durch diesen Selbstausdruck und die Verbindung zu meiner Seele näherte ich mich allmählich wieder dem Koran an und nahm auch das Beten wieder auf.

Ich empfinde Europa als sehr freiheitlich mit vielen Wahlmöglichkeiten, wodurch ich die Muslima sein kann, die ich sein möchte. Persönlich ist es immer noch eine Herausforderung, eine Balance zwischen meiner spirituellen Praxis und meinem politischen Engagement zu finden, diese Spannung wird wohl mein Leben lang anhalten.

e: Inwiefern hat dich deine islamische Erziehung in deinem Bezug zur Religion beeinflusst?

SB: Mit vier Jahren war der Koran meine erste tiefe Begegnung mit Religion beziehungsweise Spiritualität, ich rezitierte und sang die heiligen Texte. In dieser Hinsicht begann so meine künstlerische Verbindung zu Gott, welche bis heute den Kern meiner spirituellen Praxis bildet. Kunst wird für mich spirituell, wenn ich mich in meinem künstlerischen Ausdruck mit etwas Höherem verbinde. In jeder Religion spielen die Schönheit und die Interpretation von Texten, die bildende Kunst und die Vorstellungskraft eine große Rolle. Glaube lebt auch aus der Imagination und der Visualisierung von Metaphern. Religion nutzt die Kunst als Ausdruck durch Schönheit, Musik, religiöse Zeremonien oder wenn beispielsweise Sufi-Meister die Namen Gottes in Mosaike einarbeiten.

e: Fließt dieser künstlerische Ansatz auch in deine politischen Projekte ein?

SB: Die meiste Zeit in Brüssel, während ich nahezu vollkommen in die politische Sphäre eintauchte, habe ich diesen tieferen Lebenssinn vernachlässigt. Nach einer Phase der Neuorientierung rief ich das Projekt »Humans of the EU« ins Leben, in dem Menschen aus ganz Europa mittels Fotos und Reportagen vorgestellt werden. Hier fand mein künstlerisches Interesse mit dem Anliegen zusammen, die Vielfalt Europas zu zeigen. Dieses Projekt wird nun als interaktive künstlerische Plattform erneut aufleben, wodurch es Künstlern auch in Zukunft möglich sein wird, ihre Geschichten über Europa zu erzählen.

Dieses Projekt vereint Aspekte der Anthro­pologie, der Soziologie und der bildenden Künste, um eine europäische Zivilgesellschaft zu stärken. Hier verbindet sich meine Karriere mit meinem spirituellen Weg, denn als Muslima möchte ich den Wert der Universalität und der Einheit als Grundlage des Menschseins weitertragen. Diese künstlerische Arbeit möchte die Ähnlichkeiten zwischen den Menschen aufzeigen, die innewohnende Einheit der menschlichen Natur. Dies ist auch der ursprüngliche Sinn der Religion: die Menschen zu vereinen und einen gemeinsamen Boden zu finden in dem großen Universum, in das wir alle hineingeboren sind.

Zurzeit arbeite ich für »Alliance4Europe«, indem ich ein Netzwerk von Künstlern und Kreativen aufbaue, um die Geschichte Europas zu erzählen. Mit der ständigen Weiterentwicklung meiner Arbeit schließt sich für mich die Lücke zwischen meinem künstlerischen Ausdruck und meiner politischen Tätigkeit. Aus meiner Sicht gibt es nicht genügend Künstler, die sich in die Politik einbringen, da es an Kooperation mangelt. Mit »Alliance4Europe« möchte ich die Verbindung zwischen den Künstlern stärken. In meiner täglichen Arbeit versuche ich, diesen künstlerischen Faktor einzuflechten, während ich mich mit Themen rund um den Islam, Antidiskriminierung und Rassismus befasse. Es ist wichtig, dass wir aufhören, in Kategorien zu denken, damit sich Menschen, die sich künstlerisch ausdrücken wollen, nicht vom politischen Geschehen ausgeschlossen fühlen.

e: Inwieweit wirkt sich deine innere künstlerisch-spirituelle Haltung auf dein politisches Wirken aus?

SB: In Europa fand ich zu meiner Bestimmung, welche stark mit Spiritualität verknüpft ist. Ich glaube, wie im Koran beschrieben, an zwei Leben, das gegenwärtige und das Leben danach, das durch dieses Leben beeinflusst wird. Wenn ich einer sinnvollen Arbeit nachgehe, bei der ich zu einem positiven Wandel in der Welt beitragen kann, während ich nach universellen Werten lebe, hat es eine positive Wirkung auf das Leben danach. Deshalb richtet sich all mein Handeln nach dieser spirituellen Orientierung und nach der Führung Gottes.

ALS MUSLIMA MÖCHTE ICH DEN WERT DER UNIVERSALITÄT UND DER EINHEIT ALS GRUNDLAGE DES MENSCHSEINS WEITERTRAGEN.

Während des Studiums wollte ich den Umgang mit dem Islam erforschen und darüber sprechen. Ich wollte herausfinden, warum politische Bewegungen während des Arabischen Frühlings in Nordafrika, die sich auf den Islam berufen, erfolgreich waren oder gescheitert sind.

In meiner Arbeit für »Alliance4Europe« beschäftige ich mich viel mit Problemen wie der »Islamophobie« und Falschinformationen über den Islam – wie zum Beispiel, dass dessen Werte nicht mit denen Europas vereinbar seien. Wenn ich meine religiöse Praxis im Alltag leben möchte, muss ich Wege finden, durch meine Arbeit das Ansehen des Islam in der Gesellschaft zu verbessern. Ein Beitrag könnte eine Fotoserie über muslimische Migranten sein, die ich positiv portraitieren möchte und die ich schon seit einiger Zeit plane.

e: Wie siehst du die Beziehung zwischen der Demokratie mit ihrem offenen Diskurs und der höheren Absicht oder letzten Wahrheit in der Religion?

SB: Es werden viele falsche Auffassungen über das Konzept der Religion verbreitet. Aus meiner Sicht sind Dogmatismus und eine höhere Absicht nicht miteinander vereinbar. Auch meine Mutter hat mir stets gesagt, Religion sei eine individuelle Angelegenheit. Tatsächlich lehrt der Koran das Prinzip der eigenen Gewissensprüfung und die einzige Wahrheit, an die wir alle glauben, ist die des einen Gottes. Daneben gibt es einen Prozess des Beratens oder der Diskussion, indem wir als Menschen miteinander interagieren, um die besten Lösungen zu finden.

Im Koran finden wir viele Hinweise auf das Prinzip der Offenheit, welches Religion als eine universelle Angelegenheit und jeden Menschen als möglichen Gläubigen sieht. Wenn es nach Gott ginge, würden die Menschen als eine große Gemeinschaft im Miteinander leben. Unglücklicherweise haben wir uns dazu entschlossen, uns voneinander zu trennen. Ich persönlich glaube an die individuelle erfüllende Verbindung zu Gott sowie an die Freiheit und die Ermächtigung aller.

Author:
Gerriet Schwen
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