Leben lernen

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Kolumne
Publiziert am:

July 21, 2016

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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Leben ist uns das Selbstverständlichste. Oder? Was bedeutet eigentlich Leben und Lebendigkeit für uns? Wo spüren wir es? Wenn überhaupt. Und was hat Lebendigkeit mit unserem sozialen Miteinander zu tun? All diese Fragen auf die Spitze getrieben, haben wir fünf Lebenskünstler gefragt:

Leben wir noch?

 

Melaine MacDonald

Durch die Frage bin ich angeregt worden, innezuhalten und darüber nachzudenken.Verschiedene Erlebnisse, Gefühle und Gedanken sind in mir aufgetaucht, wodurchich die Frage mit »ja« beantworte. Zumindest zum größeren Teil, da es immerwieder Durststrecken gibt, in denen ich mich nicht wirklich lebendig empfinde.Die Leere, die dadurch entsteht, muss ich hinnehmen, sie kann aber auch zueiner wiederholten »Selbstaktivierung« führen. Ruhig werden und innerlich sotief wie möglich hinhorchen auf »das, was werden will« ist dafür not-wendig.

Oftsind es dann auch kleine Dinge, die »Leben« erwecken. Es kann eine Erinnerungaus der Kindheit sein. Wir haben alle noch ein Gefühl und innerliche Resonanzvon bestimmten Augenblicken. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, als ich daserste Mal frühmorgens barfuß auf das tauige Gras getreten bin.

Und heute noch habe ich in kleinen Momenten bestimmte Eindrücke von Mitmenschen,sowohl beglückend als auch schmerzvoll, die eine Bewegung, einen »Shift«erzeugen. Auch sind es Erlebnisse von Kunst oder z. B. ein Wetterwechsel, die überraschend zu einem beeindruckenden Augenblick werden, der Lebensenergie erzeugt.

In allem, was ich erlebe, ist das Wesentliche die Bewegung. Eins zu werden mitetwas, sei es eine Qualität, ein Erlebnis, ein Wort oder ein Eindruck, ist fürmich der Schlüssel. Wenn es gelingt, dieses »Etwas« in mir aufzunehmen, damit zu leben und ihm Gestalt zu geben, wird es verwandelt und entsteht in neuer Weise. Die Praxis der eurythmisch/tänzerischen Bewegung fordert mich heraus unddurchstrahlt somit mein Leben.

Prof. Melaine MacDonald, Professorin für Eurythmie an der Alanus Hochschule.

 

Van Bo Le-Mentzel

Kürzlichstellten Forscher fest, dass in Deutschland Mütter und Väter pro Tagdurchschnittlich 80 Minuten Zeit mit ihren Kindern verbringen. Es soll Paaregeben, die es nicht aushalten, pro Tag mehr als 15 Minuten miteinander einenDialog zu führen. Wir leben in Stadtstrukturen, in denen die Wände und Fensterso gemacht sind, dass wir uns so stark abschotten von der Außenwelt, dass esimmer wieder passiert, dass tote Menschen in den Wohnungen gefunden werden.Unsere Kinder bekommen Tabletten, weil sie nicht still sitzen können, und wirErwachsene nehmen Tabletten, weil wir zu viel still sitzen. Wir zahlen Miete, auch auf dem Friedhof, wenn wir nicht mehr sind.

Und unser gesamtes wissenschaftliches Erbe hindert uns nicht daran, hilfesuchendeMenschen im Mittelmeer ertrinken zu lassen. Wir haben so viel Geld wie kaum einanderes Land und sind so unglücklich. Ärzte, Piloten und andere Wutbürgerprotestieren für mehr Lohn. Das, was sich Leben nennt, ist Maskerade, Germanys Next Topmodel und Dschungelcamp und Bausparvertrag. Wir leben nur als Steuernummer. Wir wären alle schon unter der Erde, wenn die Kreditinstitute nicht in uns Zinserbringer sehen würden. Und die Freundschaften, die wir pflegen,fühlen sich besser an, wenn sie geliked werden können. Nicht nur Tausende Geflüchtete sind tot. Europa ist tot. Wir sind tot.

Van Bo Le-Mentzel, Architekt, Designer, Schöpfer der »Hartz-IV-Möbel«.

Heidemarie Wünsche-Piètzka

ImRückblick: Berlin, Frühjahr 1990 – Ich spüre eine vorher nicht gekannteLebendigkeit im Innen und im Außen, ich »er-lebe« die Möglichkeiten derVeränderung, die für mich, meine Familie, meine Umwelt neue Dimensionen vonEntwicklung eröffnen. Es ist die ersehnte Möglichkeit, aus dem inneren Dialogin den Dialog mit anderen zu gehen, mich meines Selbst und anderer zuvergewissern. Es ist die Zeit, in der die Lernerfahrung einesSystemzusammenbruchs verbunden wird mit der Erfahrung des kritischen Einlebensin ein unbekanntes System, dem Bemühen um verstehen und verstanden werden ineiner fremden Kultur. Es ist die Zeit, in der meine Lebendigkeit, meine Neugierauf das neue Leben, auf dessen Bedingungen – in denen mein Kind aufwachsen wird– bei aller Aufgeschlossenheit auch das kritische rationale, mentale wie auchemotionale Hinterfragen einschließt, um mich nicht korrumpieren zu lassen vonLifestyle, Konsumismus, Technikgläubigkeit, dem »höher – schneller – weiter«des ökonomischen Systems, der Degradierung von Menschen (und ihrerArbeitskraft) zur »Ressource«, von fragwürdigen wissenschaftlichen und auchpolitischen Konzepten. Ich spüre eine tiefe Verantwortung für mein und das mir in der Person meines Kindes anvertraute Lebendige, für lebendigeZukunftsfähigkeit in den gesellschaftlichen Kontexten, an denen ich mitwirkenkann.

Im Hier und Jetzt: Ich nehme diese Verantwortung so gut es mir möglich ist wahr,aus dem immer tieferen Bewusstsein der Verbundenheit im Ermöglichen undEntwickeln eines erweiterten Bewusst-Seins – mit Lernenden in Gruppen, inOrganisationen und dadurch hoffentlich auch in größeren Systemen. Es ist meineArt, aus den Ressourcen biografischer Lernerfahrung Kulturveränderungmitzugestalten.

Dr. Heidemarie Wünsche-Piètzka, Dialog-Ausbilderin, Direktorin des »institut dialog transnational«.

 Bodo von Plato

Leben ist wie ein Auftreffen.
Ich erwachte im Auftreffen auf die Welt.
Und fand mich – lebendig.
Und jetzt immer wieder.
Ich wurde jemand; jemand, der lebt, der so lebt wie kein anderer im Auftreffen aufdie Welt.
Ein Jemand ist, wer im Auftreffen sich selbst
lebendig und einmalig weiß?

Ich bin nicht die Welt. Und doch. Ohne sie bin ich nicht. –
Und sie ohne mich?
Wir haben eine Beziehung. Eine lebendige. – Eine wechselseitige?
Eine auftreffende, wir treffen aufeinander, die Welt und ich, der ich vorher wedervon mir noch von ihr wusste. – Was wusste sie?
Solange ich mich und die Welt in unserem Auftreffen aufeinander bemerke, lebe ich. –Lebt sie?

Leben ist In-der-Welt-Sein.
Leben ist Rätsel. Das große.
Ich lebe in der Welt. Und bin selbst das Rätsel?
Ich staune.
Lebe ich, solange ich staune?
Staune ich, solange ich lebe?
Und die Welt?
Ist das stumme Staunen der Welt das Lebendige?

Staunend beginne ich die Welt zu lieben.
Dort, wo ich ahnte, wie sie lebendig ist, wie lebendig sie ist.
Das Andere, das Fremde beginne ich zu lieben und will es nicht mehr mir gleichhaben.
Ich werde selbst ein anderer, ein Fremder, gastfreundlich zur Welt.
Sie nahm mich immer schon gastfreundlich auf, mich,
den Auftreffenden – den Gast.
Jetzt trifft sie auf mich – mein Leben, meine Gastfreundschaft wird ihr Schicksal.

Bodo von Plato, Vorstandsmitgliedder Allgemeinen Anthroposophischen Gesellschaft am Goetheanum.

 

Matthias Schenk

Eine meiner Lebensquellen ist die Barfüßigkeit. Unvermittelt mit dem Boden inBerührung sein. Jeden Grund über meine Hautsinne, den Wärmesinn, den Bewegungssinn und den Gleichgewichtssinn wahrzunehmen. Dadurch entwickelt sich,entwickle ich unmittelbar Lebendigkeit.

Matthias Schenk, künstlerischer Leiter Schloss Freudenberg – Erfahrungsfeld der Sinne und des Denkens.

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Prof. Melaine MacDonald
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Van Bo Le-Mentzel
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Dr. Heidemarie Wünsche-Piètzka
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Bodo von Plato
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Matthias Schenk
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