Lebendigsein als Auftrag

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 30, 2020

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Ausgabe 25 / 2020:
|
January 2020
Ende oder Wende
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Ich bin mit einer Freundin in der Therme. Wir – beide Tänzerinnen – aalen uns nach der Sauna genüsslich im warmen Wasser. Unsere Körper erinnern sich an den Ursprung allen Lebens im flüssigen Element. Wir lassen uns treiben, tauchen untereinander hindurch, gleiten aneinander entlang, genießen kugelnd und spiralend die Bewegungsfreiheit in alle Richtungen. Einige der Badegäste beobachten uns neugierig und leicht befremdet, andere gucken verschämt woanders hin. Immer und überall beobachte ich, wie sehr Scham Teil der Conditio Humana ist. Wir schämen uns unseres Daseins.

Nun schließt das Bad gleich, aber wir können uns nicht trennen. Wir zögern den Abschied noch hinaus, verharren noch einen Moment in diesem Schweben, das das Wasser uns schenkt.

Was hat wohl vor Abertausenden von Jahren Lebewesen dazu bewogen, das Wasser zu verlassen? Wie und warum hat sich Evolution damals genau so vollzogen? Wie und warum vollzieht sie sich heute?

Wie will sich das immer komplexer und vielfältiger werdende Leben zeigen, indem es ausgerechnet den Menschen hervorgebracht hat, dessen Vorherrschaft auf diesem Planeten eben diese Vielfalt und auch das Leben an sich ernsthaft bedroht? Es gibt heute wahrlich genug Anlass, uns ob unseres Daseins zu schämen – doch das wäre eine ganz andere Scham: Wie kann ich es aushalten, jenem Strang der Evolution anzugehören, der so viel Leben verletzt und zerstört? Wenn das Leben aus sich heraus so etwas wie den Verstand hervorgebracht hat, was könnte wohl unser Evolutionsauftrag als Menschheit sein?

Diverse Versuche, eine Zivilisationsgeschichte zu schreiben, legen nahe, was bereits die Bibel über die Vertreibung aus dem Paradies erzählt: Erkenntnis gibt es zunächst einmal nur im Kombipack mit Scham. Eva und Adam griffen nicht nur flugs zum Feigenblatt, sie und ihre Nachfahren versuchten auch fortan, möglichst überzeugend so zu tun, als wären sie keine Tiere. Wir entwickelten eine Kultur, deren soziale Normen uns nahelegen, so zu tun als hätten wir keinen Körper, wir seien vielmehr ein Gehirn auf zwei Beinen.

Vielleicht ist das ein Hinweis auf unsere Aufgabe: in das Bewusstsein hineinwachsen, beides zu sein. Die Herausforderung annehmen, Leben zu sein, das sich selber beobachten kann – und dabei nicht aufhören zu leben. Es geht um die Integration von Verstand und Kreatürlichkeit. Und das bedeutet, unsere Scham zu spüren und als Teil dieses Prozesses anzuerkennen, der letztendlich darauf hinauslaufen muss, diese Scham zu überwinden: Wir müssen uns eben nicht entscheiden, ob wir sinnliche Wesen sind oder denkende. Mit dem Verstand, dieser evolutionär ja noch sehr jungen Erscheinung, hat das Leben, das sich ständig weiterentwickeln möchte, uns ein Werkzeug geschenkt, dieses Leben zu betrachten, das sich ständig weiterentwickeln möchte. Eine dieser Entwicklungen ist der Verstand. Und mit ihm geht die Möglichkeit einher, zu manipulieren und zu kontrollieren. Können wir unser Lebendigsein bezeugen, uns der Fragilität hingeben, die wir dann unvermeidlich spüren – und nichts tun, um es vermeintlich sicherer zu machen?

Wir müssen uns eben nicht entscheiden, ob wir sinnliche Wesen sind oder denkende.

Das Anerkennen unserer Verletzlichkeit ist meinem Empfinden nach eine der großen Lektionen der Klimakrise, die sich ja umfassender betrachtet nicht auf das Klima beschränkt, sondern eine Lebenskrise ist. Dieser Krise können wir nur angemessen begegnen, indem wir dem Leben selbst wieder begegnen und der Trauer darüber, wie sehr wir uns davon entfremdet haben.

Wie können wir uns das Leben wieder aneignen? Zunächst einmal ist uns das Leben nirgends näher als in unserem eigenen Körper. Wenn ich mich darauf einlasse, liebevoll, staunend und neugierig zu lauschen, wie intelligent sich dieser Körper organisiert, dann erfahre ich etwas über die Prinzipien des Lebens selbst.

Und wie geht das ganz praktisch? Eine von vielen Möglichkeiten: genüsslich im warmen Wasser dümpeln und spielen. Mich darauf besinnen, dass hier alles Leben begann. Wahrnehmen, wie flüssig auch ich bin und mich dieser Lebendigkeit hingeben – durch alle Scham hindurch.

Dieses Empfinden nicht in der Umkleidekabine abstreifen, sondern als Anhaltspunkt und Ratgeber mit in meinen Alltag nehmen, als Inspiration wachhalten. Mit offenen Sinnen in Klimaschutzverhandlungen und auf Protestveranstaltungen gehen. Eine Politik betreiben, die das Leben selbst in den Mittelpunkt stellt: Sein Schutz sei uns Aufgabe, seine Prinzipien Maßstab und seine Weisheit die entscheidende Beraterin.

Author:
Heike Pourian
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