Lebensraum

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 12, 2015

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Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Nähe zu uns selbst

Unser Hiersein fängt mit dem Körper an, doch häufig fällt es uns schwer, ihn wirklich zu bewohnen. Das Idealbild, nach dem wir ihn zu formen versuchen, lässt ihn zur leeren Hülle werden. Vertrauen wir uns indes seiner Lebendigkeit an, ist das wie ein nach Hause Kommen. Doch nur, wenn wir den Mut haben, uns in all unserer Fragilität dem Leben voll und ganz zu zeigen, wird aus diesem Dasein auch Wirklichkeit. Selbst dann, wenn unser Körper schon nicht mehr ist.

Maggie De Block hat Format. Durchsetzungsstark als Staatssekretärin, wurde sie in den letzten Jahren zu einer der beliebtesten Politikerinnen Belgiens. Seit Oktober 2014 ist sie Gesundheits- und Sozialministerin – ein Posten, für den die viele Jahre als Hausärztin Praktizierende zweifelsohne die fachlichen Kompetenzen mitbringt. Wenn da nicht die Sache mit ihrem Körpergewicht wäre. Nach ihrer Ernennung setzte eine polarisierende Debatte darüber ein, ob eine stark übergewichtige Ministerin glaubwürdig eine Gesundheitspolitik verkörpern könne, zu deren wesentlichen Herausforderungen es zähle, die wachsende Fettleibigkeit der Belgier in den Griff zu bekommen. Bereits 14 Prozent der Bevölkerung sind von Adipositas betroffen. Maggie De Block gehört, daran lässt ihre Körperfülle keinen Zweifel, dazu. Und sie beweist Haltung. In einem Interview mit dem belgischen Magazin „Le Soir“ sagte sie einmal: „Mein Gewicht hat mich nicht davon abgehalten, meine Träume zu verwirklichen.“ Doch bekennt sie auch: „Wenn ich eine andere Silhouette wählen könnte, würde ich das natürlich tun. Wer möchte nicht einen perfekten Körper?“

Problemzone Körper

Diese Geschichte sagt viel darüber aus, wie komplex und kompliziert unser Verhältnis zur Körperlichkeit heute ist. Als Gegenstand öffentlicher Diskussionen wird der Körper zum Objekt, zu einem Ding, an das wir abstrakte Normen anlegen. Sein belebter Innenraum gerät dabei aus der Wahrnehmung. Maggie De Block dürfte all die inneren Kämpfe schon erlebt haben, die ein Körper auszufechten hat, wenn er den Maßstäben der Zeit nicht gerecht werden kann. Und sie weiß sicherlich auch, dass medizinischer Rat zum Schlag wird, wenn er diese widersprüchliche Realität verleugnet. Er trifft den Körper, aber er berührt ihn nicht. Vielleicht könnte gerade deshalb eine Frau wie sie, die in den Augen vieler das Problem verkörpert, das sie in ihrem Amt eigentlich lösen soll, zu einer Vorreiterin werden. Denn die Fragen, die der Körper in der Beschaffenheit, mit der er in der Welt ist, aufwirft, lassen sich wohl am besten in ihm beantworten.
Die körperliche Konfusion, ja Entfremdung unserer Gegenwart hat viel damit zu tun, dass unser Denk- und Abstraktionsvermögen über die Jahrtausende über seinen Heimatort hinausgewachsen ist, sich von ihm geradezu losgelöst hat. Die Venus von Willendorf, in der Altsteinzeit wahrscheinlich ein Sinnbild der Fruchtbarkeit, würde unter heutigen Gesichtspunkten bestenfalls als viel zu füllig angesehen. Die Kraft des Körpers als Raum des Gebärens wird verdeckt von einem Idealbild der Schönheit, das allein unsere Köpfe bewohnt. Marilyn Monroe, einst wegen ihres Sex-Appeals verehrt, fände sich mit ihrer Kleidergröße 40 heute wohl eher als Model für Übergrößen wieder.

Wenn wir den Körper zur Problemzonemachen, werden wir selbst zu einer.


Indem wir den Körper zur Problemzone machen, werden wir selbst zu einer. Denn den objektiven Kategorien, die wir zu seiner Vermessung und Beurteilung entwickelt haben, genügen wir immer seltener. 67 Prozent der Männer und 53 Prozent der Frauen in Deutschland sind heute übergewichtig. Je genauer wir hinschauen, umso mehr geraten wir aus den Fugen. Und diese Diskrepanz zwischen Sein und Soll beherrscht längst unser Selbstbild. 39 Prozent der Frauen und 24 Prozent der Männer sind unzufrieden mit ihrem körperlichen Wohlbefinden. Sie finden ihr Gewicht und ihre Figur nicht in Ordnung und haben ein schlechtes Gewissen, weil sie sich nicht ausgewogen ernähren und zu wenig Sport treiben. Bezeichnenderweise fragen Studien wie diese nicht nach direkten körperlichen Empfindungen, sondern nach wissenschaftlichen Konstrukten. Die angenehmen Stunden auf der Couch verlieren ihren Wohlfühlfaktor in dem Moment, in dem der Marktforscher einem in Erinnerung ruft, dass man stattdessen besser Joggen gegangen wäre.

Nach Hause kommen

Diese Wahrnehmung des Ungenügens führt dazu, dass unser Körper zum Fremdkörper wird. Ihn aktiv zu bewohnen, uns seine Subjekthaftigkeit wieder zu eigen zu machen, fordert dann in höchstem Maße heraus. „In der Kultur der westlichen Welt ist es leider nach wie vor so, dass viele Personen die Körperarbeit im Bereich der ihnen peinlichen Esoterik ansiedeln und erst überzeugt werden müssen, warum sie sich auf dieses unbekannte Terrain vorwagen sollten“, sagt etwa die Psychologin Maja Storch. Die östliche Idee der Lebenspflege, die mit ganzheitlichen Systemen wie Yoga, Tai Chi und Qigong unser körperliches Dasein von innen wieder erlebbar macht, findet indes auch in Deutschland immer mehr Anhänger. Rund 15 Prozent der Bevölkerung haben zum Beispiel schon einmal Yoga geübt, und 2,6 Millionen praktizieren es regelmäßig.
Wenn ich Qigong übe, werden mir die unterschiedlichen Schichten meiner körperlichen Existenz immer in besonderer Weise bewusst. Die äußere Form der Übungen, das Ausführen der Bewegungsfolgen, fördert meine körperliche Beweglichkeit und ist sehr entspannend. Das weiß ich kognitiv, und ich kann es spüren. Gehe ich tiefer, kann ich wahrnehmen, wie auf der feinstofflichen Ebene die Lebensenergie entlang der Meridiane zirkuliert – und sie, wo sie zu stagnieren scheint, durch meine Aufmerksamkeit behutsam wieder in ihren natürlichen Fluss bringen. Das Erleben selbst lässt sich vielleicht als fließende Körperlichkeit beschreiben. Körper und Umgebung verschmelzen zu einer Bewegung, deren Beobachterin immer mehr in den Hintergrund rückt. Verselbstständigt sich diese Bewegung, kann etwas beinahe Magisches geschehen. Mein Körper wird zur unmittelbaren Erfahrung des Daseins, zu reiner Körperlichkeit, zur Lebensform selbst. Er ist dann nicht mehr der leibliche Ort, der meinem Bewusstsein ein Zuhause gibt, sondern pure Realität. Es ist beinahe unmöglich, diese Existenzialität in Worten zu fassen, denn ihre Essenz ist Körper und lässt sich nur im Körper erfahren.

Wirklich wirklich

Dieses Einssein ist letztlich die Wurzel unserer Authentizität und unserer Wirksamkeit im Leben. Die Neurowissenschaften zeigen uns, wie sehr unsere Handlungsabsichten, unser Denken, unser Gefühlsleben und unser Körperausdruck miteinander verwoben sind. Ist einer dieser Fäden gerissen, wirkt das gesamte Netz löcherig. Menschen, die etwas anderes sagen als sie tun, nehmen wir als inkonsequent wahr. Unsere Gedanken und Gefühle, und mögen sie uns noch so bedeutsam erscheinen, entfalten sich erst dann, wenn wir sie durch unseren Körper ausdrücken, wenn wir sie in der Welt manifestieren. Ohne das wirkliche Dasein unseres Körpers sind wir nicht anwesend.

Erst wenn wir in unsererkörperlichen Existenz wirklich ankommen, können wir als Subjekt in der Weltstehen.


Im aufrichtigen Versuch, dies zu tun, lassen wir uns ein auf unsere existenzielle Verletzlichkeit, denn wir lehnen uns dann mit allem, was wir sind, ins Ungewisse. Und es ist diese Rückhaltlosigkeit, die dem, was wir ausdrücken, Bedeutung verleiht. Als Willi Brandt 1970 bei der Kranzniederlegung am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghetto-Aufstandes auf die Knie sank, öffnete er sich für den Schrecken des Terrors, für die Trauer um die Millionen von Menschen, die der Zweite Weltkrieg das Leben gekostet hatte, für das Unfassbare und nicht Wiedergutzumachende. Ein, wie Brandt später betonte, spontaner Akt, in dem der Körper sich ohne vorgefassten Plan der Macht der Realität hingab und in diesem Bezeugen zur Gestalt gewordenen Bitte um Vergebung wurde. Das Elementare des historischen Augenblicks fällt zusammen mit dem Elementaren des Lebens selbst.

Nacktes Dasein

Die subtile Schwingung unserer Endlichkeit lässt uns im Alltag oft davor zurückschrecken, uns wirklich zu zeigen, weil wir glauben, unseren Körper in seiner Fragilität schützen zu können. Doch im unbewussten Zurückweichen vor unserer Vergänglichkeit scheuen wir auch vor unserer Lebendigkeit zurück. Unser Körper mag schön sein oder hässlich, dünn oder dick, vital oder gebrechlich. Er ist der Resonanzraum, durch den die Melodie unseres Lebens erklingt. Mit seiner herzzerreißenden Autobiografie „Schmetterling und Taucherglocke“ zeigt der Journalist Jean-Dominique Bauby, dass selbst die zartesten Töne, die für das Ohr kaum noch vernehmbar sind, und die melancholischsten Weisen gehört werden möchten.

Unser Körper ist der Resonanzraum, durch den die Melodie unseres Lebens erklingt.


Als der einstige Chefredakteur der französischen „Elle“ nach einem Schlaganfall aus dem Koma erwacht, ist sein Körper äußerlich beinahe unversehrt, doch die verzweifelten Signale, die inständigen Bitten um Bewegung, die Baubys Gehirn sendet, verebben im Nirgendwo. Locked-in-Syndrom lautet die nüchterne medizinische Diagnose für diese menschliche Total-Katastrophe.
Kaum ist der Tag angebrochen, da wird Zimmer 119 von einem Unglück heimgesucht. Seit einer halben Stunde ertönt der Alarm des Apparats, der meine Ernährung reguliert, ins Leere hinein. Ich kenne nichts Dümmeres und Abscheulicheres als dieses schrille „piep, piep“, das am Gehirn nagt. Obendrein ist durch meine Transpiration das Pflaster abgegangen, das mein rechtes Augenlid verschließt, und die verklebten Wimpern kitzeln schmerzhaft meine Pupille. Und um das Ganze zu krönen, ist auch noch mein Blasenkatheter herausgerutscht. Ich liege in einer Überschwemmung. Während ich auf Hilfe warte, summe ich im Stillen einen alten Schlager: „Ach komm, Baby, das alles ist doch nicht so schlimm.“
Ihren Weg in die Außenwelt erkämpfen sich diese Innenansichten eines gefangenen Bewusstseins, weil Bauby über Monate mit seiner Lektorin unter Zuhilfenahme einer Buchstabentafel durch Zwinkern mit seinem linken Augenlid Zeichen für Zeichen dem Eingekerkertsein entringt. Und paradoxerweise ist es gerade die vermeintliche Leblosigkeit seines Körpers, die uns für einen Augenblick erahnen lässt, was nacktes Dasein wirklich bedeuten kann – und wie sehr es uns zu berühren vermag.
Céleste [Baubys achtjährige Tochter] legt ihre nackten Arme um meinen Kopf, bedeckt meine Stirn mit schallenden Küssen und sagt wieder und wieder: „Das ist mein Papa, das ist mein Papa“, wie einen Zauberspruch. Wir feiern Vatertag. Wir verbringen diesen symbolischen Tag zusammen, wahrscheinlich um zu bezeugen, dass eine Andeutung, ein Schatten, ein Stückchen Papa immer noch ein Papa ist.

Selbst im Moment seines Versagens bleibt der Körper der Ort, an dem das Licht unserer Seele aufscheint.


„Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare“, umschrieb einst Christian Morgenstern die Mystik unserer Existenz. Selbst im Moment seines beinahe völligen Versagens bleibt er der Ort, an dem das Licht unserer Seele aufscheint, der Ort, von dem aus es die Herzen anderer streifen kann. Wie lange dieses Licht scheint, liegt nicht in unserer Macht. Wie hell es leuchtet, lebt hingegen allein von unserer Hingabe, wirklich hier sein zu wollen.
Je weniger wir unseren Körper für wahr nehmen, umso schwerer fällt es uns, seiner Enteignung durch das Anlegen äußerer Maßstäbe zu widerstehen. Vielleicht ist es seine Sterblichkeit, die uns mitten im Leben zurückschrecken und unser Dasein zur Abwesenheit werden lässt. Und oft ist es das Leben selbst, das uns, wenn wir uns von ihm wirklich berührt fühlen, den Weg zurück in diese oft unbewohnte Hülle ebnet, weil wir dann nicht anders können, als mit unserem Körper zu antworten. Vor einiger Zeit arbeitete ich bei der Vorbereitung einer Veranstaltung mit einer Zen-Meisterin zusammen, die mich als Mensch und in ihrem Wirken sehr inspiriert. Dabei wurde ich zur Zeugin von zwei tiefgehenden Begebenheiten, die ihr widerfuhren. Ich zögerte zunächst, meiner Bewegtheit darüber Worte zu verleihen, da ich mir nicht sicher war, ob dieser Grad der Intimität unserer Beziehung angemessen sei. Das, was ausgedrückt werden wollte, ließ sich jedoch nicht zurückhalten. Und so wurden meine Mails an sie nicht allein zu einem artikulierten Mitfühlen, sondern auch zum Spiegel der Verletzlichkeit, die wir in unserem In-der-Welt-Sein teilen. Als wir uns bei der Veranstaltung schließlich trafen, kam sie auf das Besondere, das zwischen uns möglich geworden war, noch einmal zu sprechen. In diesem Moment, als wir uns so in unserer Leiblichkeit gegenüberstanden, uns in die Augen sahen, unsere Körper, den Raum dazwischen und die Welt darum spürten, konnten wir beide erleben, wie sich in dieser geteilten Verkörperung des Bedeutsamen eine Gestalt vollendete, wie Virtuelles zu Realität wurde, zu etwas, das wirklich wirklich ist, einfach dadurch, dass wir wirklich da waren. In der unprätentiösen Alltäglichkeit unserer Begegnung offenbarte sich die subtile Poesie des Körperlichen. Seine Lebendigkeit, die keinen Schutz braucht, sondern allein unsere Anwesenheit.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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