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Annette Kaiser auf dem Weg in eine universelle Spiritualität
Wenn wir die Erde mit dem Blick aus dem All betrachten, sehen wir sie als ein Ganzes. Mit diesem Blick erkennen wir die Unteilbarkeit allen Lebens und das gibt uns die Möglichkeit, anders wahrzunehmen, zu denken und auch zu handeln.« Mit diesem Blick der Ganzheit beschreibt Annette Kaiser in unserem Gespräch den Kern ihres Weges, den sie als Lehrerin einer universellen Spiritualität vermittelt. Ein Weg, den sie konsequent geht und dabei immer wieder durch ihr eigenes Leben und Lehren hinterfragt, was Spiritualität heute in unserer Welt bedeuten kann.
Universelle Spiritualität bedeutet, Himmel und Erde zu verbinden.
Annette Kaiser wurde in den Nachkriegsjahren in Zürich geboren und wuchs in einem mittelständischen katholischen Milieu auf. Als Jugendliche engagierte sie sich in der Kirche und erfuhr schon früh die Atmosphäre eines Klosters. Mit 14 Jahren begleitete sie ihre Schwester, die als Au-pair-Mädchen in das Kloster Saint Joseph de Cluny nach Paris fuhr, um Französisch zu lernen. Jeden Morgen ging sie in die Kirche des Klosters und hörte den Chor der Novizinnen. »Dieser Gesang berührte mich tief und rief existenzielle Fragen in mir wach: Was ist das Göttliche? Was ist mein Leben? Wo will ich eigentlich hin?« Sie las Mystikerinnen wie Therese von Lisieux und damit begann, wie sie heute sagt, ihr spiritueller Weg.
Als sie nach diesen Erfahrungen wieder zuhause war, nahm auch in der Schweiz die 68er-Bewegung Fahrt auf und Annette Kaiser fand sich zwischen ihrer christlichen Erziehung und den neuen revolutionären Gedanken wieder, ohne zu wissen, wie sie diese versöhnen könnte. Reisen nach Israel und Guatemala öffneten ihr den Blick für die größere Welt und ihre Konflikte. In Israel erlebte sie den Konflikt zwischen Juden und Palästinensern hautnah, sie lebte in einem ganz neu entstehenden Kibbuz auf den Golanhöhen, den sie als Teil des Wachdienstes mit dem Maschinengewehr nachts mitbewachte. Und in Guatemala kam sie in Kämpfe zwischen indigenen Rebellen und dem Militär. »Ich konnte nicht fassen, was ich da wahrnahm, ich konnte nicht verstehen, warum die Welt so ist wie sie ist.« Diese Sehnsucht nach einem tieferen Verstehen führte sie zum Studium der Wirtschaft und Soziologie. Sie ging nach Berlin und schrieb ihre Dissertation über Marx und seinen Begriff der Entfremdung – dies alles in der Zeit der aufsteigenden Frauenbewegung, der Studentenrevolte, der Mehrfachbeziehungen und neuen Therapieformen. Aber trotz all der politischen und psychologischen Experimente hatte sie den Eindruck, dass sich etwas nicht veränderte: »Egal wie viel Ur-Schrei-Therapie die Leute machten, eines blieb unverändert: Me first! Jeder dachte zuerst doch an sich. Das hat mich irritiert.« Bei einer jungen Mitstudentin aus China nahm sie eine andere Haltung wahr: eine innere Gelassenheit, die sie anzog. Sie erfuhr, dass sie Buddhistin war. Diesem Impuls folgend ging sie zu Vorträgen des tibetischen Lehrers Geshe Rabten, der im Kloster Rikon im zürcherischen Tösstal unterrichtete. »Ich hörte, dass es möglich war, die Geistesgifte in Weisheit zu verwandeln. Da horchte ich auf. Ich verstand, dass der Wandel in mir beginnt und dass damit eine spirituelle Praxis verbunden ist.« Sie begann, tibetischen Buddhismus zu praktizieren und traf verschiedene tibetische Lehrer, von denen sie zum Karmapa die tiefste Verbindung erfuhr, die sie bis heute begleitet. Mittlerweile war sie verheiratet und hatte kleine Kinder und suchte immer mehr nach einem Weg, der es ihr ermöglichte, mitten im Leben spirituell zu wachsen. Diese Verbindung schien ihr im tibetisch buddhistischen Ansatz zunehmend schwieriger.
Bei einer Tagung traf sie die russisch-englische Sufi-Lehrerin Irina Tweedie. Zuvor hatte sie ihr Buch »Der Weg durchs Feuer« gelesen und war berührt von dieser Schilderung eines radikalen Transformationsweges mitten in der Welt. Nach drei Jahren der Annäherung wurde sie Irina Tweedies Schülerin und ging 17 Jahre lang durch eine tiefgreifende Schulung. »Es war eine 24-stündige Praxis, eine halbe Stunde Meditation und den Rest des Tages Mantra-Praxis, die man mitten im Leben üben kann, zudem eine intensive spirituelle Traumarbeit. Frau Tweedie gab uns den Hinweis: Wenn du mehr als drei Minuten von irgendeinem inneren oder äußeren Ereignis erschüttert, verunsichert, gestört oder wütend wirst, dann liegt die Ursache in dir. Schau es dir an!«
1991 erhielt Annette Kaiser die Erlaubnis, den Sufi-Weg der Naqshbandiyya-Mujaddidiyya-Linie zu lehren. Nach dem Tod Irina Tweedies 1999 war sie autorisiert, diesen Sufi-Pfad weiter zu führen. Interne Konflikte aufgrund dieser Nachfolge brachten sie dazu, auch über die Schattenseiten spiritueller Systeme zu reflektieren, die unter dem Druck von Machtansprüchen auch leicht das Wesentliche aus dem Blick verlieren können. Dieser Wunsch nach Vertiefung dieses Wesentlichen führte sie zu Texten von Sri Aurobindo und Ramana Maharshi. Sie besuchte Auroville und Tiruvannamalai und fand eine tiefe Verbundenheit mit beiden Lehrern. »Langsam wuchs ich in das nächste Holon meiner Entwicklung hinein. Ich nannte mich nicht mehr Sufi-Lehrerin, sondern sah meine Aufgabe darin, eine universelle Spiritualität zu entwickeln und zu lehren. Darin geht es einfach gesagt darum, bewusst Mensch zu sein und aus der Liebe für das, was ist, in Worten, Taten und dem ganzen Sein zum Wohl des Ganzen beizutragen.« Durch ihre jahrelange Arbeit in der Entwicklungszusammenarbeit in verschiedenen Ländern der Erde war ihr ein globaler Blick zur Heimat geworden. Nun sah sie aus dieser Perspektive auch die Zukunft einer Spiritualität, die das je Eigene der Traditionen bewahrt, sie aber in der Essenz gründet, die alle in der Tiefe verbindet. »Frau Tweedie sagte uns, ›Dieser Pfad der Liebe ist so alt wie die Menschheit selbst.‹ Für mich ist es so, dass sich alle Pfade aus diesem Urgrund speisen. Das ist der universelle Geschmack aller Wege, die uns lehren, großzügig zu sein, Respekt vor unserer Verschiedenheit zu haben, und uns der EINEN Quelle gewahr zu werden.«
Heute ist es ihr Anliegen, spirituelle Praktizierende und Lehrende verschiedener Traditionen im Rahmen einer solchen universellen Spiritualität in den Dialog zu bringen. Denn »universelle Spiritualität entfaltet sich in einem Wir-Feld. Ich stelle mir vor, dass Menschen im Kreis sitzen, die diese Einheit innerlich erfahren und verstehen und vielleicht sogar eine universelle Sprache hervorbringen, die alle mit dem Herzen verstehen können.« Aus dieser universellen Erfahrung des Eins-Seins und der Präsenz des Gewahr-Seins ist es ihrer Ansicht nach möglich, »die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sei es in der Politik, in der Wissenschaft, der Wirtschaft, Bildung oder Kultur in einem Miteinander ko-kreativ zu gestalten«.
Ein Herzensanliegen in dieser Wandlung unserer Kultur ist für sie das Engagement für Europa als ein Projekt der »Einheit in Verschiedenheit«. Darüber hinaus setzt sie große Hoffnungen in die junge Generation, die ihrer Erfahrung nach leichter in diese Einheitsperspektive hineinwächst. Deshalb möchte sie in ihrem Zentrum Villa Unspunnen einen »Campus of Spirit« einrichten, um junge Menschen in diesem universellen Blick auf die Welt zu stärken: »Universelle Spiritualität bedeutet, Himmel und Erde zu verbinden in einem heiligen Zusammenspiel von Mensch, Erde, Kosmos und der EINEN Quelle allen Lebens.«
Author:
Mike Kauschke
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