Liebe kann man nicht machen

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Interview
Publiziert am:

July 17, 2023

Mit:
Prof. Dr. Gernot Böhme
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AUSGABE:
Ausgabe 39 / 2023
|
July 2023
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Von der Offenheit für das Leben

Der Philosoph Gernot Böhme, der 2022 verstorben ist, setzte sich in seinen Schriften und seiner Lehrtätigkeit für das Wiederentdecken unserer leiblichen Erfahrung ein. Dies war für ihn auch der Weg zu einer »absteigenden Mystik«, die unser Anwesendsein in der Welt als Erfahrung des Heiligen ernstnimmt.

evolve: Leiblichkeit spielt in Ihrer Philosophie eine große Rolle. Lassen Sie mich mit einer allgemeinen Frage beginnen: Welche Bedeutung hat die Leiblichkeit für unser Menschsein?

Gernot Böhme: Vielleicht ist es dafür nützlich, zunächst den Unterschied zwischen Leib und Körper zu beschreiben, wie er sich inzwischen in der Phänomenologie eingebürgert hat. Der Körper ist unsere Natur, wie sie uns in Fremderfahrung gegeben ist, also in einer naturwissenschaftlichen Sicht, durch den Blick des Arztes oder auch durch den Blick in den Spiegel. Die Leiberfahrung ist hingegen die Erfahrung unserer Natur quasi von innen: Als Leib bezeichnen wir unsere Natur, wie sie uns in Selbsterfahrung gegeben ist. Das Wichtige hierbei ist, dass wir darin die Qualität des »Pathischen« erfahren, im Unterscheid zum Aktiven. Pathisch heißt allgemein: das, was uns widerfährt. Leibsein ist ein pathisches Phänomen, insofern wir uns als Leib selbst gegeben sind und insofern in uns leibliche Regungen aufsteigen.

Leben widerfährt uns

e: Diese innere Erfahrung des Leibes wird bei uns oft vernachlässigt. Wie finden wir wieder einen unmittelbaren Zugang zur leiblichen Erfahrung?

GB: In den westlichen Kulturen verstehen wir uns vom Ich her, also als eine Handlungsinstanz. So finden wir aber keinen Zugang zum Leib, denn der Leib ist, was uns gegeben ist – oder wie er uns selbst gegeben ist. Die Leiberfahrung ist in diesem Sinne eine pathische Erfahrung. Ich möchte damit nicht sagen, dass wir unsere eigene Existenz erleiden, aber sie widerfährt uns. In unserer Zivilisation ist im Gegensatz dazu ein Verstehen vom Ich her vorherrschend. Deshalb verstehen wir die einfachsten Dinge, die leiblich geschehen, als Handlung. Das zeigt sich schon in der Sprache. Wenn ich zum Beispiel sage »ich schlafe«, dann klingt es so, als wenn ich den Schlaf mache. Oder noch extremer in der Formulierung »ich mache Liebe«, »to make love«. Das alles sind ja eigentlich Erfahrungen, in die wir uns einschwingen, weil sie von unserem Leib und von unserer Natur her von selbst geschehen. Es ist nicht selbstverständlich, sich in Erfahrungsweisen einzuschwingen, wir müssen uns vielmehr darin üben.

»Meditation ist Ankommen in unserer Leiblichkeit.«

e: Dieses Ich-Verständnis, auf das wir so viel aufbauen und das – im Guten wie im Schlechten – eine Grundlage unserer westlich-europäischen Kultur und unseres Selbstverständnisses ist, beziehen wir auch auf unsere Körperlichkeit.

GB: Ja, wir leben dann aus einem Dualismus, oder besser: in einer Polarität mit einem Ich, das den Körper regiert. Das zeigt sich vor allem beim Leib, den man als Körper instrumentalisiert. Leider ist das unsere durchschnittliche Existenzform in der westlichen Zivilisation. Grund dafür ist die Philosophie des Descartes und die darauf aufbauende Pädagogik. Das eigentliche Menschsein bedeutet dann, dass man sich zum Vernunftmenschen stilisiert, ein herrschendes Ich in sich ausbildet, das den Körper instrumentalisiert und unserem Willen unterwirft. Dabei fällt das Rezeptive natürlich ganz und gar weg, das heißt, in dieser Haltung zu uns selbst sind wir nicht offen für das, was sich uns aus der leiblichen Existenz her zeigt.

Wir behandeln uns also oft wie eine große steuerbare Maschine. Und werden es dadurch ja auch. Diese Praxis des Umgangs mit sich selbst ist gewissermaßen eine Art Bildungsprozess: Wir bilden uns selbst durch die Art und Weise, wie wir mit uns umgehen.

Absteigende Mystik

e: In Ihrem Buch »Bewusstseinsformen« sprechen Sie über Meditation in einer ungewöhnlichen Art und Weise. Sie sprechen hier auch vom Gegensatz einer aufsteigenden Mystik und einer absteigenden Mystik. Sehen Sie die meditative Übung in diesem Sinne auch als ein Ankommen in unserer Leiblichkeit?

GB: Meditation ist Ankommen in unserer Leiblichkeit, beziehungsweise auch in der Situation, in der wir gerade sind. Zu diesem Thema fällt mir immer eine Begebenheit mit meinem Lehrer Carl Friedrich von Weizsäcker ein. Wir gingen in Hinterzarten durch die Wiesen des Schwarzwalds spazieren. Plötzliche riss er ruckartig seinen Regenschirm hoch und sagte: »Das ist Buddha!« In einer europäischen Mystik ist das eher ungewöhnlich, weil man hier von der leiblichen Existenz absieht und sich ins Geistige erhebt. Dabei möchte man die Erfahrung des Unendlichen oder Gottes machen. Während in östlicher Meditation die Erfahrung dieser Blume hier vor mir die entscheidende Sache sein kann. Das heißt, die Erfahrung einer Meditation kommt auch bei der eigenen Leiblichkeit an, bei der eigenen Anwesenheit, aber auch bei dem, worin man sich gerade befindet – beim Ephemeren (Flüchtigen).

Die Zazen-Meditation, die ich kennengelernt habe, geschieht mit offenen Ohren, was man hört, gehört immer dazu. Der Mönch, bei dem ich gelernt habe, hat, wenn es nur irgend ging, die Tempeltüren geöffnet! Eine absteigende Mystik kommt also bei dem, was leiblich da ist, an. Es gibt dafür auch ein Beispiel aus der europäischen Mystik: Jakob Böhme erfuhr seine Erleuchtung im jähen Anblick eines zinnernen Gefäßes. Er ist nicht irgendwohin abgehoben, sondern dieser Anblick hat »in Centro« der Natur geführt, das man auch Gott nennen kann.

Ansonsten dominiert in Europa der Weg, der sich von der sinnlichen Präsenz abwendet und versucht, sich zum Unendlichen, zum Ewigen zu erheben. Vielleicht ist es so, dass man von einer höheren Einsicht her sagen kann: Das sind verschiedene Seiten desselben. Aber ich finde, im Moment ist es notwendig, dass man diese absteigende Seite betont, weil wir in unserer Lebensform unsere Leiblichkeit, unsere leibliche Anwesenheit und die Bedeutung des »gemeinsam Anwesend-Seins« verloren haben.

e: In der Meditationserfahrung gibt es einen Kipppunkt, wo man nicht mehr einen Atem hat, sondern wo man in dem Atmen aufgeht.

GB: Unser Mentalitätshintergrund verleitet uns, alles als Tun zu verstehen, auch das Atmen als Tun: »Ich atme«. Wenn man sich aber wirklich auf das Atmen einlässt, dann ist dieses »Es atmet« eine beglückende Erfahrung, weil wir spüren, dass die eigene Natur uns trägt. Unser Subjektsein, unser Ich, kann seiner eigenen Natur eingedenk werden – auch dem, was uns trägt und wem wir uns verdanken. ■

Das Gespräch führte Thomas ­Steininger für die Ausgabe 5/2015 – das gesamte Interview finden Sie auf evolve-world.org

Author:
Dr. Thomas Steininger
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