Meditation und post-materialistische Wissenschaft

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Interview
Publiziert am:

February 2, 2021

Mit:
Marjorie Woolacott
Dr. Pim Van Lommel
Thomas Metzinger
Sam Harris
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 29 / 2021:
|
February 2021
Wissenschaft
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Dem Bewusstsein auf der Spur

Marjorie Woollacott arbeitet als Neurowissenschaftlerin an einem neuen Verständnis des Verhältnisses zwischen Gehirn und Bewusstsein. Meditationsforschung und Nahtoderfahrungen lassen sie an herkömmlichen neurowissenschaftlichen Modellen zweifeln. Wir sprachen mit ihr darüber, wie neue wissenschaftliche Ansätze das Verhältnis zwischen Gehirn und Bewusstsein neu verstehen.

evolve: Trotz der enormen Forschungserfolge in den Neurowissenschaften gibt es eine grundlegende Debatte über das »schwierige Problem des Bewusstseins«. Was denken Sie: Kann die Wissenschaft, so wie wir sie kennen, dem Phänomen des Bewusstseins, wie wir es alle erfahren, gerecht werden?

Marjorie Woollacott: Wenn wir das Wort Wissenschaft verwenden, tun wir das auf zwei unterschiedliche Weisen. Die Wissenschaft, wie ich sie als Neurowissenschaftlerin gelernt habe, ist eine materialistische Wissenschaft. Sie geht davon aus, dass Materie die grundlegende Substanz der Wirklichkeit ist. Das fängt bei den subatomaren Partikeln als Bausteinen des Universums an und geht bis zu komplexen Phänomenen wie dem Gehirn und dem Bewusstsein. Hier ist die grundlegende Annahme, dass alles Materielle, unser Gehirn und Bewusstsein eingeschlossen, aus materiellen Interaktionen entsteht. Man geht davon aus, dass die Zellen in unserem Gehirn unser Bewusstsein erschaffen und unsere Gedanken und unser Handeln kontrollieren. Nach dieser Sichtweise sind wir wie Maschinen, weil wir reflexartig oder automatisch auf Sinneseindrücke reagieren.

Aber es gibt auch Wissenschaftler mit einem anderen Verständnis von Wissenschaft. Ich bin die Präsidentin der »Academy for the Advancement of Post-Materialistic Science« (AAPS), die ich auch mit gegründet habe. Diese Wissenschaftler und ähnliche Gruppierungen wie das »Scientific and Medical Network« (SMN) gehen davon aus, dass das Universum und die Wirklichkeit mehr umfassen, als es die materialistische Vorstellung nahelegt. Das Bewusstsein wird von einigen als grundlegend gedacht und die Materie als sekundäres Phänomen. Das würde bedeuten, dass das Bewusstsein die Fähigkeit hat, unser Gehirn und die materielle Welt um uns herum zu verändern.

Ich erinnere mich immer daran, dass ich beide Perspektiven gleichzeitig wertschätzen kann. Ich möchte durch die materialistische Perspektive auf wissenschaftliche Belege schauen können und ich möchte neugierig auf die Hinweise bleiben, welche die Ansicht stützen, dass das Bewusstsein grundlegend sein könnte. Ich würde sogar sagen, dass jeder Wissenschaftler, der wirklich neugierig ist und auf das Datenmaterial schaut, das die grundlegende Natur von Bewusstsein nahelegt, zu dem Schluss kommen müsste, dass diese Hinweise sehr stark sind.

Ein Beispiel dafür ist die Arbeit von Dr. Pim Van Lommel aus den Niederlanden und Dr. Bruce Greyson aus den Vereinigten Staaten, die zu Nahtoderfahrungen geforscht haben. Dabei interviewt man Menschen, die einen Herzstillstand überlebten. Wenn Personen keine Herzaktivität und eine Nulllinie im EKG vorweisen, dann sollten sie wissenschaftlich gesehen keine sensorischen Erfahrungen mehr haben. Diese Studien zeigen, dass 25 Prozent dieser Personen Nahtoderfahrungen haben. 12 Prozent davon haben eine tiefe Nahtoderfahrung und wiederum 25 Prozent dieser Gruppe berichten, wie sie von oben auf das Krankenhauspersonal schauen, das versucht, sie zu reanimieren. Sie geben präzise Informationen zu allem, was geschieht. Aus einer materialistischen Perspektive ist das nicht erklärbar. Wenn man diese Daten Wissenschaftlern zeigt, die nicht neugierig sind, sagen sie einfach, dass es einen Fehler im System geben muss. Aber inzwischen gibt es so viele Studien, dass es schwierig ist, diese Daten so einfach zu leugnen. Sind wir bereit, unseren wissenschaftlichen Rahmen zu erweitern, um diese Daten einzubeziehen?

Wie kann man gleichzeitig diese bei­den philosophischen Standpunkte einnehmen? Ich verwerfe den wissenschaftlich-materialistischen Standpunkt nicht, sondern erweitere ihn um die Tatsache, dass das Bewusstsein grundlegend und damit in der Lage sein könnte, mit meinen Hirnzellen zu interagieren, ebenso wie meine Hirnzellen meine bewussten Handlungen beeinflussen könnten. Wenn wir diese gegenseitige Wechselwirkung zulassen und beides als wichtig ansehen, dann verwerfen wir nicht die Wissenschaft an sich, sondern wir erweitern ihre Perspektive und erhalten so ein besseres Verständnis der Wirklichkeit.

Meditative Wissenschaft

e: Wenn ich Sie richtig verstehe, war Ihr Weg sehr stark beeinflusst von Ihrer eigenen Erfahrung einer anderen Form von Wissenschaft, die man meditative Wissenschaft nennen könnte. Wie sind Sie zu dieser erweiterten Betrachtungsweise gekommen?

MW: Vor meiner ersten Meditationserfahrung bin ich wie wahrscheinlich jeder meiner materialistisch orientierten Kollegen davon ausgegangen, dass jeder, der an Spiritualität oder ein Leben nach dem Tod glaubt, einem Denkfehler unterliegt. In einer meditativen Erfahrung habe ich plötzlich ein erweitertes Verständnis der Wirklichkeit erhalten, im Sinne einer Verbundenheit mit anderen Menschen, Wesen und dem Planeten. Diese erste meditative Erfahrung mit einem Gefühl von Einheit, Liebe und tiefem Mitgefühl für andere hat mich angeregt, mehr zu meditieren. Damals wusste ich noch nicht, wie ich das mit meiner materialistischen Weltsicht als Wissenschaftlerin zusammenbringen sollte.

ES GIBT EIN GRENZENLOSES BEWUSSTSEIN IM UNIVERSUM, DAS FÜR UNS ZUGÄNGLICH IST.

Viele Jahre habe ich eine Art schizophrenes Leben geführt. Ich lebte zwei voneinander getrennte Leben. Ich sprach auf eine Weise mit meinen Freunden an der Universität über wissenschaftliche Themen und wenn ich im Meditationszentrum oder bei einem Retreat war, redete ich plötzlich in einer völlig anderen Weise. Das war sehr schwierig, weil ich mich nicht wirklich integer fühlte. Schließlich sagte ich mir, dass ich über Meditation forschen und neugieriger darauf sein sollte, wie ich diese beiden Welten zusammenbringen könnte – das heißt, eine Sichtweise zu finden, die meinem objektiven Geist, der Daten will, Genüge tut und meine subjektiven Erfahrungen von Einheit und ganzheitlicher Wahrnehmung der Wirklichkeit integriert. Als ich dann anfing, meine eigene Forschung im Labor zu betreiben und die Forschungsarbeiten anderer Wissenschaftler studierte, war ich erstaunt, wie viel auf diesem Gebiet schon geforscht worden war.

In diesen Forschungsberichten werden verifizierte Erfahrungen darüber beschrieben, dass Informationen auf andere Weise geteilt und aufgenommen werden, als man es über die normalen fünf Sinne könnte. Mit der Entdeckung dieser Art von Forschung erweiterte sich deshalb mein Blick auf die materielle Wirklichkeit und ich begann zu verstehen, dass das Bewusstsein nicht nur aus der Bottom-up-Perspektive erklärt werden kann, nach der Neuronen im Gehirn unser Bewusstsein hervorbringen. Ich fand heraus, dass es ein grundlegendes Bewusstsein geben könnte, das viel umfassender ist als wir denken. In dieser Top-down-Perspektive wird das Bewusstsein durch die neuronalen Netze in unserem Gehirn gefiltert und in sensorische Informationen übertragen, die nützlich sind für unsere täglichen Aktivitäten. Es werden aber auch riesige Mengen von Informationen herausgefiltert, die Menschen in Nahtoderfahrungen, in der Meditation oder anderen Momenten im Leben haben können.

e: Wie sind Sie bei dieser Forschung vor­-gegangen?

MW: Zuerst habe ich versucht, meine Medi­tationserfahrung durch die Forschungsergebnisse über Meditation zu verstehen. Wenn mein Geist in der Meditation ruhig wurde, machte ich Erfahrungen jenseits der normalen fünf Sinne. Wenn wir die Meditationserfahrung mit Neugier analysieren, erkennen wir ein faszinierendes Phänomen. Oft fokussieren wir uns in der Meditation auf den Atem, damit der Geist ruhig wird. Mit einem fMRT-Scanner (Funktionelle Magnetresonanztomographie) haben Wissenschaftler herausgefunden, dass bestimmte Bereiche im Gehirn aktiv sind, wenn man sich auf den Atem fokussiert. Das sind die exekutiven Funktionen in den dorsolateralen, frontalen Arealen des Gehirns.

Aber während der Meditation wird unser Geist unweigerlich abschweifen. Eine Ablenkung taucht in unserer Umgebung oder unseren Erinnerungen auf und plötzlich sind wir irgendwo anders. Durch das fMRT fanden Wissenschaftler Aktivitäten in einem hochinteressanten Netzwerk, dem »Mind-Wandering Network« oder Ruhezustandsnetzwerk (engl. Default Mode Network, DMN). Man könnte sagen, dieses Netzwerk ist die Basis unseres Egos und der Geschichten darüber, wer wir sind und wie wir uns in Beziehung setzen mit der Welt. Forscher haben einen weiteren Teil im Gehirn entdeckt, den anterioren cingulären Cortex, der diese umherwandernden Aktivitäten des Geistes bemerkt und uns wieder zurück zur Fokussierung auf den Atem bringt. Wenn Menschen eine bestimmte Zeit lang meditieren, geht die Aktivität im Ruhezustandsnetzwerk zurück, weil das Geplapper im Gehirn leiser ist. Und das wiederum scheint stark mit erweiterten Bewusstseinszuständen zu korrelieren. In dieser Forschung konnte ich schließlich das, was ich in der Meditation erfuhr, mit Daten aus verschiedenen Laboren in einen Zusammenhang bringen.

Mangel an Neugier

e: Es scheint, dass einige Ihrer Kollegen einen ähnlichen Weg gegangen sind, manche aber zu anderen Schlussfolgerungen gelangten. Thomas Metzinger aus Deutschland und Sam Harris aus den USA gehören zu den bekanntesten Vertretern. Sie sind Meditierende und haben tiefe, spirituelle Erfahrungen. Aber ihre Ergebnisse oder Interpretationen basieren auf den üblichen, materialistischen Anschauungen von Bewusstsein und Wirklichkeit. Was würden Sie ihnen antworten?

MW: Einige meiner Kollegen denken in dieser Weise. Ich glaube, das hat mit der Schwierigkeit zu tun, eine Theorie der Wirklichkeit loszulassen, die man seit den Studententagen vertreten hat. Durch die ganze Studienzeit war diese Theorie das, was ihre Welt zusammengehalten hat. Ihre Überzeugung, dass die Realität materiell erklärbar ist, und ihre materialistische Vorstellung von der Welt sind so stark, dass sie sich nicht vorstellen können, dass sie durch ihre eigenen phänomenologischen Erfahrungen erschüttert werden könnten. Und falls ein Wissenschaftler dennoch von dieser Sichtweise abweicht, kann es sein, dass man unter wissenschaftlichen Kollegen nicht mehr ernstgenommen wird. Es gibt ein Tabu über so etwas auch nur zu sprechen, weil man sofort als »New Ager« angesehen wird.

DIE MEDITATIONSFORSCHUNG ZEIGT, DASS MEDITATION UNSER EMPFINDEN VON VERBUNDENHEIT STEIGERT.

e: Erkennen Sie im Festhalten am traditionellen, modernen Verständnis von Bewusstsein ein Anzeichen einer begrenzten Denkweise?

MW: Ich glaube, dass jede begrenzte Denkweise von einem Mangel an Neugier herrührt. Die meisten Wissenschaftler und Materialisten, denen ich diese Studien zeige, sagen: »Nein, ich brauche sie nicht zu lesen, weil ich weiß, dass sie unzutreffend sind. Sie können nicht wahr sein, wenn sie nicht mit unserer materialistischen Auffassung übereinstimmen.« Wir sollten jedoch so viel Neugier aufbringen, uns diese von Experten überprüften Studien und das darin enthaltene Datenmaterial anzusehen. Und dann überlegen, wie wir Theorien so weit verändern können, dass sie diesen Daten gerecht werden.

Grenzenloses Bewusstsein

e: Sie haben von zwei Perspektiven gesprochen, die Sie zusammenbringen möchten. Die Bottom-up-Perspektive scheint der üblichen materialistischen Auffassung zu entsprechen. Was ist die Top-down-Perspektive und wie würden Sie diese beschreiben?

MW: Wenn ich von der Top-down-Perspektive spreche, dann meine ich, dass das Bewusstsein oder unsere Bewusstheit grundlegend ist. Das heißt, dass es ein grenzenloses Bewusstsein im Universum gibt, das für uns zugänglich ist. In anderen Worten: Ich kann verbunden sein. Ich kann verbunden sein mit anderen Menschen. Ich kann jenseits meiner fünf Sinne mit anderen Teilen des Universums verbunden sein. Diese unendliche, expansive Bewusstheit wird gefiltert, wenn sie unser Gehirn mit seinen Filtern wie dem Ruhezustandsnetzwerk erreicht.

Diese Top-down-Perspektive besagt, dass wir Zugang zu einem erweiterten Bewusstsein erhalten können, wenn wir diese Filter im Gehirn beruhigen. Das geschieht beispielsweise, wenn Menschen eine Nahtoderfahrung machen. Das Gehirn ist komplett heruntergefahren und sie haben Zugang zu einem viel weiteren Bewusstsein. Deshalb können sie von außerhalb ihres Körpers sehen, was im Operationssaal vor sich geht, und gleichzeitig Einheitserfahrungen mit allem um sie herum erleben, mit einem Gefühl der bedingungslosen Liebe.

e: Die materialistische, naturalistisch-wissenschaftliche Perspektive steht in vielerlei Hinsicht auf dem Prüfstand. Beispielsweise hat die Zerstörung unserer Umwelt auch mit der Art und Weise zu tun, wie wir die Wirklichkeit wahrnehmen. Wie sehen Sie die Situation, in der wir uns als Kultur befinden?

MW: Ich denke, wir brauchen einen grundlegenden Wandel in unserem Bewusstsein vom Individualismus zur Verbundenheit. Die Gesundheit des Planeten verschlechtert sich mit der globalen Erwärmung und anderen Problemen, die COVID-Krise eingeschlossen. Die Meditationsforschung, basierend auf eindeutigen Daten, zeigt, dass Meditation unser Empfinden von Verbundenheit mit anderen Menschen und mit dem Planeten steigert.

Ich möchte hier eine Studie erwähnen, weil ich mich als Wissenschaftlerin auch gern auf Daten beziehe: Claudia Orellana-Rios und ihre Kollegen an der Universität Freiburg haben medizinisches Personal aus Hospizen und palliativ-medizinischen Einrichtungen in Meditation geschult. Die Wissenschaftler fanden heraus, dass die Burnout-Raten in der Belegschaft sanken und die Versorgung der Patienten verbessert wurde. Ein Mitarbeiter sagte: »Ich mache mir häufig viele Sorgen, aber jetzt bin ich in der Lage, das früher zu unterbrechen. Ich denke mir: Sieh zu, was du Gutes in diesem Moment tun kannst und wie du die Situation zu etwas Positivem wandeln kannst.« Das ist die Art von Veränderung, die wir brauchen, nicht nur in unserem Gesundheitswesen, sondern auch in unserer ganzen Gesellschaft.

Eine ganzheitliche Betrachtung

e: Wenn wir über die wissenschaftliche Per­spektive und die Entwicklung der Gesellschaft und Kultur sprechen, können wir erkennen, wie wir eine vorherrschende wissenschaftliche Denkweise geschaffen haben. Als Präsidentin einer Gesellschaft, die sich mit post-materialistischer Wissenschaft auseinandersetzt, möchten Sie diese Denkweise erweitern. Können Sie sagen, an welcher Erweiterung Sie hier arbeiten?

MW: Es handelt sich um eine ganzheitliche Betrachtung, die die Forschungsdaten aus unserer naturwissenschaftlichen Perspektive ernstnimmt und sie mit der Forschung aus unserer post-materialistischen Perspektive zusammenbringt. Das bedeutet zum Beispiel die Forschung darüber, wie das Bewusstsein unserer Verbundenheit unser Verhalten verändern kann, indem wir unser Verständnis und unsere Erfahrung von Verbundenheit mit anderen Menschen und dem Planeten verändern. In solchen Erfahrungen haben wir Zugang zu Informationen über das Universum, die wir nicht durch unsere fünf Sinne gewinnen können. In dieser grenzenlosen oder erweiterten Bewusstheit erhalten wir Zugang zur Informationsstruktur des Universums.

Ich denke, wir können alle Menschen, sogar Kinder ab einem frühen Alter darin schulen, das mentale Geplapper zu beruhigen und – damit einhergehend – ein Empfinden von Mitgefühl und Verbundenheit nähren. Und das können wir in einem vollkommen säkularen Setting tun, das nicht mit irgendeiner Form von Ideologie assoziiert sein muss. Wenn wir das tun und damit bereits in jungen Jahren beginnen, können junge Menschen in einer Haltung aufwachsen, die beide Seiten dieses Verständnisses, das materialistische und das post-materialistische, auf eine wunderbare Weise integriert.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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