Mein Weg durch den Schmerz

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

January 12, 2015

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AUSGABE:
Ausgabe 05 / 2015
|
January 2015
Vom Körper den wir haben zum Leib der wir sind
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Heilung aus Verbundenheit



Alternative Heilmethoden wie Ayurveda sind im Trend. Was ist hier anders als in unserer Schulmedizin? In einer bewegenden Geschichte schildert Katrin Karneth, wie sie in einem ganzheitlichen Verständnis von Körper, Geist und Welt Schritte zur Heilung gehen konnte.


Schmerz bringt uns wie kaum etwas anderes in den Körper „zurück“. Jeder weiß wie ein Zahnschmerz oder ein anderer starker Schmerz unser Sein auf den Körper konzentriert oder gar reduziert. Im Umgang mit körperlichem Schmerz zeigt sich vielleicht unsere Beziehung zum Körper so drastisch wie nirgend sonst, vor allem wenn der Schmerz die Grenze der „Erträglichen“ weit übersteigt. Nachdem ich vor etwa 15 Jahren erfuhr, dass die plötzlichen, stichartigen Schmerzen im Gesicht die Anzeichen einer „Trigeminusneuralgie“ waren, wurde mein Leben mit dem Schmerz zu einer Art spiritueller Feuerprobe. In den Nachschlagewerken heißt es über diese Erkrankung, über deren Ursache nur spekuliert wird, ziemlich lapidar, dass die damit verbundenen Symptome „zu den stärksten für den Menschen vorstellbaren Schmerzen“ gehören.
Diese Schmerzen und wie man sie empfindet, ist schwer, zu vermitteln: Alles ist normal, bis plötzlich bei der kleinsten Berührung oder Bewegung des Gesichts oder einem kühlen Luftzug ein sekundenlanger stechender, feuerstichartiger und alles lähmender Schmerz eine Gesichtshälfte durchfährt. Anfänglich waren die Attacken in der Schmerzintensität und der Häufigkeit des Auftretens geringer, aber mit der Zeit kamen sie öfter und heftiger. In den Sommermonaten ging es mir meist gut, ich vergaß den Schmerz und hoffte, es wäre vorbei. Für die Ursache gab es keine medizinische Erklärung, ich war sozusagen gesund – und wollte mich auch so sehen. Aber mit der Zeit wurde mein Körper schwächer und konnte die immer häufiger auftretenden Anfälle nicht mehr ausgleichen und ich ging ich zu verschiedenen Ärzten und probierte jahrelang diverse alternative Heilmethoden. Nichts konnte mir wirklich helfen.
Schließlich half nur die Schulmedizin mit starken Medikamenten zur Schmerzbehandlung. Mit zunehmenden Schmerz musste deren Dosierung erhöht werden und ich erfuhr, wie Medikamente den eigenen Geist und das Verhältnis zum Körper verändern. Die Antiepileptika, die ich bekam, dämpfen das Nervensystem – und das Bewusstsein. Bei mir ging es fast bis zur völligen Betäubung. Ich war kein lebensfähiger Mensch mehr und stand am Grat zwischen Lebenswillen und Depression. Mein Anker war meine langjährige Meditationspraxis. Ich wusste, dass meine Freiheit darin lag, mich nicht mit dem Schmerz und den damit verbundenen Gedanken der Resignation zu identifizieren. Ich konnte eine innere Stille im Chaos meiner Gefühle und Gedanken bewahren. Gleichzeitig spürte ich, dass ich in dieser inneren Freiheit meinen Körper immer noch als ein Hindernis und die Quelle der schrecklichen Schmerzen sah. Ich wollte frei sein, nicht aber mein Körper sein.

Ich lernte, dass nicht nur mein Geist durch Schulung in der Lage ist, die ursprüngliche Einheit des Lebens wahrzunehmen, sondern auch mein Körper.


Meine Kräfte waren am Ende und die Ärzte wussten keine andere Antwort, als die Dosis der Medikamente zu erhöhen. Es musste eine andere Lösung geben. Eine Freundin erzählte mir von einem Ayurveda „Healing Village“ in Südindien. Ich wusste nicht genau, was mich erwarten sollte, aber ich hatte nichts mehr zu verlieren.
Die Erleichterung, die ich bei der Ankunft dort erlebte, ist schwer zu beschreiben. In Vaidyagrama wurde ich nicht als Patientin betrachtet, sondern als Teil der Vaidyagrama-Familie. Heilung ist hier nicht etwas, das man „machen“ kann, sondern es wird ein liebevoller Beziehungsraum geboten, in dem man wieder in die innere Balance kommen kann. Bei Ayurveda denken wir oft nur an die Ölmassagen, hier lernte ich, dass Gesundheit im Ayurveda fünf Aspekte hat: körperliche, emotionale/mentale, spirituelle, soziale und ökologische Gesundheit. Dr. Ramkumar, der Leiter der Klinik erklärt, dass Gesundheit nur dann entsteht, wenn diese fünf Aspekte in einer Balance sind. Deshalb wird auf die Umgebung, das Essen, das Klima in den Räumen sehr viel wert gelegt. Alle diese Aspekte wurden in der Schmerztherapieklinik in Deutschland kaum beachtet. Ich spürte, dass ich hier an einem Ort der Heilung war, ein Ort der Menschlichkeit und Liebe. Das trug mehr zu meiner Heilung bei, als alle Medizin oder Massagen.
Jeden Morgen kam der mich behandelnde Arzt und allein diese Begegnung war so anders als ich es aus herkömmlichen Kliniken kenne. Egal was ich fragen wollte, was ich ihm sagen wollte, er nahm sich soviel Zeit, wie ich als Patientin brauchte. Die Ärzte sind nicht nur die Mediziner, sondern auch spirituelle und psychologische Begleiter. Zentraler Teil der Behandlung in Vaidyagrama ist die Entschlackung. Ich machte eine Reinigungskur mit Ghee, wobei man täglich eine bestimmte Menge an medizinisch abgestimmten Ghee trinkt und erst etwas essen kann, wenn man das Ghee verdaut hat. Es war eine große Überwindung, am sechsten Tag war ich kaum noch in der Lage, es zu schlucken. Aber gleichzeitig wurde ich auch mit jedem Tag meiner Verdauung bewusster. Ich spürte den Unterschied zwischen Hunger und Appetit, dem Reiz der Zunge oder dem Hungergefühl im Magen. Zudem wird eine Art inneres Fasten empfohlen: kein Internet, kein Lesen, keine Gespräche (außer mit den Ärzten), keine Spaziergänge, jeden Morgen Pujas und Meditation. Durch dieses innere und äußere Fasten fand ich eine neue Beziehung zum Loslassen, die ich heute mit dem Wort „annehmen“ beschreiben würde. Ich konnte auch die ständige Anspannung, etwas erreichen zu wollen, selbst die Heilung von den Schmerzen, loslassen.
Meine Zeit in Vaidyagrama war vor allem ein tieferes Ankommen bei mir selbst. Ein Ankommen in dem, was ist und wer ich bin. Ein Ankommen in der tiefen Einheit von Körper und Geist und in der grundlegenden Verbundenheit mit dem Leben. Im Ayurveda ist diese Eingebundensein des Menschen in das Ganze von Welt und Kosmos die Grundlage der Behandlung. Dr. Ramkumar betont in seiner Sicht des Ayurveda, dass es nicht um die Einhaltung bestimmter Regeln geht, sondern um die Entwicklung von Gewahrsein. Gewahrsein für den eigenen Körper, die Gedanken und Emotionen, aber auch für den Kontext, in dem wir uns befinden. Er bringt Ayurveda auf die kurze Formulierung, „durch das Gewahrsein auf den Kontext antworten“. Dieser Kontext umfasst unsere Beziehungen, aber auch unser kosmisches Eingebundensein.
In einem der nachmittäglichen Gesprächsrunden mit Dr. Ramkumar sagte dieser: „Wenn wir tief genug gehen, erkennen wir, dass wir in der ayurvedischen Behandlung nicht nur unseren Körper entgiften, sondern primär unseren Geist“. Dieser Satz traf meine Erfahrung. Ich lernte mit jedem Tag, dass nicht nur mein Geist durch Schulung in der Lage ist, die ursprüngliche Einheit des Lebens wahrzunehmen, sondern auch mein Körper. Ich lernte, das einfache Essen, das wir hier bekamen, zu schätzen. Ich konnte wieder den Geschmack der einzelnen Gemüse genießen. Mit jedem Tag, an dem mein Körper reiner wurde, wurde auch mein Geist klarer.
Eines Morgens, nach etwa zehn Tagen der Behandlung durchfuhr mich ein Gedanke, eine Einsicht – die fortwährende Angst vor dem Schmerz und die dadurch ausgelöste Hilflosigkeit waren verschwunden. Ich wusste, ich kann frei sein vom Schmerz. Und das bedeutete nicht, dass ich keinen Schmerz mehr haben werde, aber er hat mich nicht mehr im Griff. Jetzt wusste ich, was Dr. Ramkumar meinte, als er sagte, wir entgiften nicht nur den Körper, sondern primär den Geist.

Author:
Katrin Karneth
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