January 24, 2018
Ein Grundanliegen der Postmoderne war, dass jeder Mensch sein Leben frei gestalten solle, in einer Pluralität der Lebensentwürfe. Diese Befreiung hat aber auch zu Isolation und Orientierungslosigkeit geführt, deren Folgen wir gesellschaftlich zunehmend spüren. Denn was verbindet uns noch, wenn jeder eine Insel ist? Mike Kauschke
In den Wochen vor der Bundestagswahl erhielt ich eine E-Mail, die mir zu denken gab. Darin rief ein scheinbar spirituell orientierter Mensch dazu auf, die AfD zu wählen. Begründet wurde der Aufruf mit Ideen, die seit geraumer Zeit recht lebendig auch durch alternative Kreise geistern: Wir leben in einer Schein-Demokratie. Und werden von einer Allianz (oder Verschwörung) von Politik, Justiz, Medien, Bildungseinrichtungen, Unterhaltungsindustrie, Gesundheitswesen und Großkonzernen regiert, kontrolliert und manipuliert. Danach folgte eine Lobeshymne auf die AfD und ihrem Spitzenpersonal aus »anständigen und sympathischen« Leuten. Die E-Mail endete mit einem Aufruf, alles für Deutschland zu tun und die schlafende Menschheit aufzuwecken. Und einem Hinweis auf einen »Bewusst-Treff«, einem losen Netzwerk von Gruppen um das Portal »BewusstTV«. Dieser YouTube-Kanal gehört zu den alternativen Medien wie »Stein-ZeitTV« oder »Rubicon«, wo sich selbst ernannte »Wahrheitssucher« treffen, um die Informationen zu bekommen, die angeblich vom »System« verheimlicht werden.
Wenn jeder eine Insel ist, wie können wir uns dann auf verbindliche Werte und Wahrheiten einigen?
Natürlich ist die Haltung dieses E-Mail-Schreibers extrem und sicher eine Ausnahme, aber Teile der darin beschriebenen vermeintlichen Verschwörung höre ich doch recht oft. Vor allem die Mutmaßung, dass die Medien »gesteuert« sind, findet vielerorts Zustimmung. Was ist es, das Menschen im alternativen Umfeld dazu bringt, sich leichten oder alles erklärenden Verschwörungstheorien zuzuwenden? Dass Menschen auf die Idee kommen, dass hinter den eigenen oder gesellschaftlichen Problemen Verschwörungen stecken, ist erst mal nicht so abwegig. Immerhin gab es in der jüngeren Geschichte oft genug tatsächliche Verschwörungen, man denke nur an die Lüge über Massenvernichtungswaffen, um den Irak-Krieg zu beginnen. Oder auch die Verflechtung von Lobbyisten und der Politik oder den Dieselskandal. Man könnte denken: Es gibt allen Grund, misstrauisch zu sein.
Zudem verheißen Verschwörungstheorien in einer immer komplexer werdenden Welt die Aussicht auf einfache Antworten. Das war wohl schon immer das Anziehende an diesen Theorien, die darauf hinauslaufen, einen Schuldigen oder Sündenbock für die eigene Misere zu finden. Dass Verschwörungsideen gerade heute, und auch insbesondere in alternativen Kreisen eine Renaissance erleben, hängt vielleicht auch mit der Vereinzelung und Orientierungslosigkeit zusammen, die in einer postmodernen Kultur immer spürbarer werden. In der Tat scheint das Gefangensein im Subjektiven eine der Ursachen für das Misstrauen zu sein, das wir gerade in unserer Gesellschaft sehen. Allzu oft erleben wir bei Politikern und Wirtschaftsbossen, aber auch bei Künstlern und Sportlern, dass das Eigeninteresse zur grundlegenden Motivation wird. Ganz schnell führt das zu einer Haltung, die ich vermehrt höre: Man kann niemandem mehr glauben. Die da oben belügen uns.
Aber was dann Verschwörungstheoretiker tun, kommt eigentlich aus einem ähnlichen Gefangensein im Subjektiven, von einer eigenen Insel. Nur nutzt man einige Tatsachen oder Zweifel an den offiziell verbreiteten Wahrheiten, wie z. B. über die Terroranschläge vom 11. September, um sich sozusagen auf der eigenen Insel eine eigene Wahrheit zu kreieren. Wenn dies dann genügend Zustimmung findet, erhärten sich diese Theorien, stiften Zusammenhalt, geben Orientierung. Aber sie werden nicht mehr zur Diskussion gestellt. Sie werden zu einem neuen, persönlichen Glaubenssystem.
Wenn ich über die Veränderungen nachdenke, die die Postmoderne mit ihren verschiedenen Strömungen gebracht hat, erinnere ich mich oft an meine erste »wirkliche« Begegnung mit diesem kulturellen Umfeld. Ich zog einige Jahre nach der Wende nach Freiburg, wohl eine der Hochburgen der grün-alternativ-spirituellen Szene in Deutschland. Als jemand, der im Osten Deutschlands groß geworden ist, wirkte auf mich die Freiheit des persönlichen Ausdrucks, die ich dort erlebte, wie eine Offenbarung (und ein Schock). Viele Menschen, die ich dort traf, waren in therapeutischen, künstlerischen oder spirituellen Kontexten auf der Suche nach sich selbst und ihrer Authentizität. Gleichzeitig merkte ich bald, dass dabei jeder in gewissem Sinne eine Insel ist und dieses Land seines eigenen Selbst, seiner eigenen Subjektivität erforscht und gestaltet. Dieser Impuls der Selbstverwirklichung ist seitdem zu einem Grundwert unserer Gesellschaft geworden und die Pluralität der Lebensentwürfe ist weit in den gesellschaftlichen Mainstream vorgedrungen. Das Internet und die sozialen Medien haben die Möglichkeiten, sich selbst zu erfinden, zu gestalten und darzustellen, extrem gesteigert. Man könnte vielleicht sogar sagen, dass das Internet mit seiner Freiheit, aber auch Beliebigkeit, das postmoderne Medium schlechthin ist – ein digitales Flachland, in dem es an uns liegt, das Wichtige vom Unwichtigen und das Richtige vom Falschen zu unterscheiden. Und das ist heute gar nicht so einfach.
Die zutiefst positive kulturelle Entwicklung hin zu mehr Autonomie und subjektiver Freiheit, hat auch zu einer Vereinzelung, Isolation und einem Narzissmus geführt. Und zu Orientierungslosigkeit. Denn wie finden wir Orientierung und Sinn, wenn es jedem selbst überlassen bleibt, das Wesentliche vom Unwesentlichen, Wahrheit von Unwahrheit zu unterscheiden? Wenn jeder eine Insel ist, wie können wir uns dann auf verbindliche Werte und Wahrheiten einigen? Und wie finden wir zu einem gesellschaftlichen Vertrauen, das die Voraussetzung ist für einen Diskurs über Werte und die Frage »Wie wollen wir leben?«
In der Postmoderne ist jeder von uns sozusagen sein eigener Kosmos geworden, oder sein eigenes Spiegelkabinett. Jeder von uns kann sich selbst kreieren und sich so formen, wie er von den anderen gesehen werden möchte. Jeder kann frei wählen, welcher Wahrheit über die Welt er vertraut. Dann fällt es aber schwer, einen Wertunterschied zwischen einer Perspektive, die mehr Komplexität der Welt umfassen kann, und vereinfachenden Erklärungsmodellen zu treffen. Das ist eine Freiheit, weil zunächst jedem seine eigene Sichtweise zugestanden wird. Es ist aber auch ihre Beschränkung, weil dann keine Entscheidung getroffen werden kann, welche Werte uns wichtiger sind als andere. In dem Vakuum, das durch diesen Relativismus entsteht, finden auch Populisten und Verschwörungstheoretiker den Raum, um ihre eindeutigen Welterklärungen zu liefern.
Verschwörungstheorien verheißen in einer immer komplexer werdenden Welt die Aussicht auf einfache Antworten.
Die Postmoderne war ja eigentlich mit dem Ziel angetreten, uns als Menschen miteinander zu verbinden. »Love & Peace« war die Hoffnung, dass uns die individuelle Befreiung dazu bringen wird, uns als menschliche Familie neu zu gestalten. In einem Sein und Seinlassen, das der Agenda von Konkurrenz, Materialismus und kriegerischen Nationen die Vision einer friedlichen Weltgemeinschaft der vielen Kulturen entgegensetzt. Konkret wurde diese Vision in vielen Kommunen und Gemeinschaften versucht. Viele davon sind gescheitert, andere arbeiten weiter daran, wie diese Idee gelebt und weiterentwickelt werden kann.
Dass diese menschliche Verbundenheit nicht so leicht in die Tat umzusetzen war, wie es sich viele in der postmodernen Bewegung vorgestellt haben, lag vielleicht daran, dass in diesen Versuchen letztendlich doch jeder eine Insel blieb. Trotz des großen Aufbruchs, den die Postmoderne auslöste, ging sie hier möglicherweise nicht tief und weit genug – und konnte es vielleicht auch nicht. Die Vision eines gemeinschaftlichen Lebens oder die Hinwendung zur Spiritualität, wie in den 60ern und danach mit postmodernen Ikonen wie Osho Shree Rainesh, konnte die Grenzen des getrennten Individuums, das die Postmoderne ja befreien wollte, letztlich nicht überwinden. Und vielleicht wäre das auch zu viel verlangt. Denn die Befreiung aus engen Familienstrukturen und der Abtrennung von natürlichen Lebensimpulsen und der Sexualität, die die Zeit vor den 60er Jahren prägten, war allein schon eine not-wendige Revolution.
Der Philosoph John O’Donohue beschrieb die Dynamik der postmodernen Isolation mit eindrücklichen Worten: »Niemand wurde für Isolation geschaffen. Wenn wir uns isoliert fühlen, dann laufen wir Gefahr, innerlich Schaden zu nehmen; unser Geist verliert seine Flexibilität und natürliche Freundlichkeit, wir werden anfällig für Angst und Negativität. … In postmodernen Kulturen gibt es einen tiefen Hunger nach Zugehörigkeit. Eine zunehmende Anzahl von Menschen fühlt sich isoliert und an den Rand gedrängt. … Die Gesellschaft hat die Kunst verlernt, Gemeinschaft zu stiften. … Die Politik hat ihre Vorstellungskraft verloren, die Visionen und Ideale hervorbringt, und wird dem Funktionalismus des ökonomischen Pragmatismus immer ähnlicher.«
In dieser Zeit der Isolation stellt sich die Frage, was uns als Menschen und als Gesellschaft verbindet und verbinden kann, wohl dringlicher denn je. Wie finden wir als Menschen, als Gemeinschaft ein gemeinsames Land, das wir zusammen gestalten können? Dazu gibt es schon viele versuchte Antworten, von denen die stärkste vielleicht die Vision einer offenen Gesellschaft ist, die den Dialog unterschiedlicher Meinungen fördert, gleichzeitig aber die Grundwerte wie die Würde des Menschen, Gewaltlosigkeit, Meinungsfreiheit bewahrt und sichert. Aber vielleicht braucht solche eine offene Gesellschaft auch eine wesentlichere Grundlage, die aus einer existenziellen Tiefe schöpft.
Vor einiger Zeit hat mich eine Botschaft des Benediktiners Bruder David Steindl-Rast sehr berührt, in der er darauf hinwies, was uns als Menschen allen gemeinsam ist. Er sagte, es sei die existenzielle Erfahrung von Leben und Tod. Mit welcher Eindringlichkeit er diese offensichtliche Tatsache erwähnte, ließ mich aufhorchen. Ich erinnerte mich an meine Arbeit im Hospiz. Dort begegnete ich Menschen, die kurz vor dem Tod standen, und die in vielem völlig anderer Meinung waren, mit ganz anderen Vorstellungen über das Leben. Aber angesichts des Todes treten Meinungen in den Hintergrund und wir suchen die Wesensverbindung, mit uns selbst und den Menschen um uns herum. Und die tiefen Erfahrungen in der Begleitung Sterbender kommen aus diesem gemeinsamen Ergriffensein vom Geheimnis von Leben und Tod. Wir spüren: Der Tod zerstört unsere Insel, ob wir es wollen oder nicht. Er nimmt uns die Kontrolle über uns selbst aus der Hand und wirft uns in den Urgrund des Lebens selbst. Und angesichts des Todes stellen wir die wesentlichen Fragen: Was habe ich der Welt gegeben? Wie werden mich die Menschen in Erinnerung behalten? Wie habe ich gelebt? Oder um mit dem Zen-Meister Wiliges Jäger zu sprechen: »Was wir am Ende unseres Lebens in den Händen halten, sind nicht unsere Leistungen und Werke. Wir werden uns zuerst und vor allem der Frage stellen müssen, wie viel wir geliebt haben.«
Das sind existenzielle, absolute Fragen. Angesicht des Todes verblasst die Relativität, wir wissen selbst ganz genau die Antwort, wenn wir nach innen spüren. Aber woher wissen wir es? Gibt es Grundwerte, Lebenswerte, die insofern universell sind, weil wir alle ein Ausdruck des Lebens sind? Albert Schweitzer fand dafür diese Formel: »Das Wesen des Guten ist: Leben erhalten, Leben fördern, Leben auf seinen höchsten Wert bringen. Das Wesen des Bösen ist: Leben vernichten, Leben schädigen, Leben in seiner Entwicklung hemmen … Jedes Leben ist heilig.«
Das Credo der Postmoderne war in gewissem Sinne auch eine Oberflächlichkeit. Die Hierarchien und Wertunterschiede wurden zu einem Flachland eingeebnet, wo jeder und jedes genauso viel wert ist wie alles andere und jede Wahrheit gleichberechtigt neben der anderen steht. Was für eine Freiheit, aber auch: was für eine Beschränkung. Ohne Aussicht auf Orientierung dafür, was ein »gutes« oder gar »besseres« Menschsein sein könnte. Ein wie auch immer gearteter Schritt über die Postmoderne hinaus müsste ein anderes Credo aufnehmen, das von vielen als die große Lehre des Todes gesehen wird: Werde wesentlich!
Wir Menschen suchen nach einem übergeordneten, einem letztendlichen Horizont unseres Menschseins.
Und der Tod führt uns auch etwas vor Augen, das wir in unserem Käfig des Subjektiven leicht verpassen: dass wir immer Teil eines Lebensprozesses sind, der uns übersteigt, aber auch mit allem Leben verbindet. Dass unsere Insel eigentlich nur ein Ausdruck eines Lebens ist und gar keine unabhängige Existenz besitzt.
Ein Ausdruck einer existenziellen Oberflächlichkeit, die wir in unserer Kultur vielfach vorfinden, ist auch das Sinnvakuum und der Mangel an Utopien für sich selbst und unsere Kultur, den eine Relativierung und Subjektivierung nach sich ziehen kann. Aber wir Menschen suchen nach einem übergeordneten, einem letztendlichen Horizont unseres Menschseins, ein sinnvolles Eingebundensein in das Ganze der Welt. Eine Kultur, die um diese existenziellen, geistigen, im Grunde spirituellen Fragen einen mehr oder weniger großen Bogen macht, hinterlässt eine Leere. Und Verschwörungstheorien, die es sich zur Aufgabe machen, die Menschen »zu erleuchten«, oder Populisten, die die nationale Identität beschützen wollen, rühren an diesem grundmenschlichen Bedürfnis nach einem umfassenden, übergeordneten Sinnhorizont.
Kürzlich erzählte mir eine befreundete Lehrerin, dass sie begonnen habe, mit ihren jugendlichen Schülern in einer AG der Frage nachzugehen, was ihre Visionen für ihr Leben sind, was die tiefsten Anliegen ihres Lebens sind. Diese Frage überrascht die Jugendlichen jedes Mal völlig. Sie wird ihnen normalerweise in Erziehung und Unterricht nicht gestellt. Die Lehrerin beschrieb dann eindrücklich, wie die Schüler aufblühen, wenn sie langsam die Scheu vor dieser Frage überwinden und dann in einem Kurzvortrag den Mitschülern von ihrer Lebensvision erzählen.
Die letzten Fragen und existenziellen Werte des Lebens wiederzuentdecken, scheint mir in unserer Zeit besonders dringlich zu sein. Nicht als Dogmen oder Glaubenslehren, sondern als Inhalte eines Dialogs über Werte, deren Wichtigkeit uns angesichts des Todes nur zu deutlich werden. Die Postmoderne hat uns gezeigt, wie wir Wahrheiten, Ideen, große Utopien hinterfragen können und erkennen lassen, wie relativ sie sind und wie zerstörerisch sie werden können. Das war eine große Befreiung, hat uns aber auch in eine Beschränkung geführt, in der wir nicht mehr sehen, dass wir bei aller Relativität und Pluralität doch Teil und Ausdruck eines Lebensprozesses sind. Wenn wir verstärkt Möglichkeiten finden, diese existenzielle Verbundenheit zu erfahren, wäre es vielleicht möglich, die postmoderne Freiheit nicht auf der Insel des Subjektiven enden zu lassen, sondern einen Schritt weiter in ein umfassendes Leben zu tragen, das wir gemeinsam gestalten können. Und vielleicht finden wir durch die Verständigung über die Grundwahrheiten von Leben und Tod auch leichter den gemeinsamen Grund des Vertrauens, der einen echten, offenen Dialog über Wahrheit, Werte und unsere Zukunft ermöglicht.