Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
November 5, 2018
Die Medienwelt hat sich in den letzten 40 Jahren radikal gewandelt. Ein Wandel, den wir erst langsam zu verstehen beginnen und auf den wir noch keine Antworten haben. Aber was können wir tun? Welche Aufgabe hat eine integrale Bewusstseinskultur in dieser dramatischen Zeit?
Wir leben in einem großen Übergang. Der geschichtliche Wandel, den wir in diesen Jahren durchleben, entfaltet eine Geschwindigkeit, die wir so noch nie gesehen haben. Eine der treibenden Kräfte dieser Revolution sind die neuen sozialen Medien, eine völlig neue Medienwelt. Wir beginnen erst langsam zu verstehen, was hier geschieht. Die neuen Medien verändern die Art und Weise, wie wir unsere Beziehungen leben. Sie gestalten das Verhältnis von privatem und öffentlichem Raum neu. Sie revolutionieren die Grundlagen des öffentlichen Raums – jenes Raums, in dem wir uns als Gesellschaft darüber verständigen, wer wir sind und wer wir sein wollen. Etwas hat hier gerade erst begonnen. Und wahrscheinlich bleiben noch Erinnerungen an jene Augenblicke, in denen wir merkten, hier geschieht etwas, hier entsteht eine neue Welt.
Für mich war so ein Moment ein Nachmittag Mitte der 90er-Jahre in der Nähe von San Francisco. Es war ein Nachmittag mit meinem neuen Modem und meinem Computer und einem Versuch, mich über die Telefonleitung in das mir noch neue Internet einzuwählen. Am Ende dieser Bemühungen las ich auf meinem Schwarz-Weiss-Bildschirm in einer Art Rohtext einen Zeitungsartikel meiner Wiener Tageszeitung – vom selben Tag! Und ein österreichischer Freund meldete sich live in einer Chatgroup. Die 10.000 Kilometer zwischen der amerikanischen Westküste und Europa waren plötzlich verschwunden.
Dieser Nachmittag in San Francisco war eine Initiationserfahrung: »Die Welt wird zum Dorf. Alles ist jetzt mit allem verbunden, jetzt und immer.« Heute, 25 Jahre später, versuche ich noch immer, die rasende Entwicklung dieser neuen Wirklichkeit zu verstehen. Freundschaft funktioniert heute auch anders. Früher brauchte sie physische Nähe. Zumindest besuchte man sich, um die Freundschaft zu pflegen. Heute habe ich Freunde auf den Philippinen und in Guatemala. Manche habe ich außer auf dem Bildschirm noch nie gesehen. Sie leben in anderen Welten, aber über Facebook habe ich persönliche Einblicke in ihr Leben. Und über Videotreffen am Bildschirm entstanden echte, ja wichtige Beziehungen.
Auch die Trennung zwischen privatem und öffentlichem Raum gibt es nicht mehr so wie früher. In mein privates Leben hatte die Öffentlichkeit früher keinen Einblick. Heute sehen viele Menschen und auch Institutionen auf Facebook, mit welchen Freunden ich gerade in einem abgeschiedenen Tal in den Bergen bin. So verbreitet sich die Intimität eines persönlichen Augenblicks über das globale Netz.
Die neuen Medien sind eine Operation am Herzen unserer offenen Gesellschaft.
Aber auch der Prozess der öffentlichen Meinungsbildung, die Grundlage jeder Demokratie, hat sich fundamental verändert. Nachrichten kamen früher durch die allabendliche Tagesschau und vielleicht unsere Tageszeitung ins Haus. Heute kommen sie in einem Strom von Links und Kommentaren aus den weltweiten, persönlichen Netzwerken. Und anonyme Algorithmen zeigen mir auf YouTube weitere Links, von denen sie meinen, ich wollte oder sollte sie sehen. Lag die öffentliche Meinungsbildung noch vor kurzer Zeit in den Händen der großen Medien, so entsteht sie immer mehr in einem dynamischen Wildwuchs persönlicher Beziehungsnetze des Internets.
Der öffentliche Raum ist nicht irgendein Raum. Er ist das Herz unserer Gesellschaft. Hier bildet sich unser Zeitgeist. Hier entscheiden wir, wie wir uns und unsere Gesellschaft verstehen. Die neuen Medien sind eine Operation am Herzen unserer offenen Gesellschaft. Wer sind die Ärzte, die diese Operation leiten? Und sind wir darin mit einbezogen, wie diese Operation verlaufen soll?
Die neuen sozialen Medien sind die grundlegendste mediale Umwälzung seit Erfindung des Buchdrucks. Damals, vor 500 Jahren, mit dem Aufkommen der gedruckten Bücher und Flugblätter, endete das Mittelalter. Die Druckerpresse brachte die Neuzeit, aber sie brachte auch den 30-jährigen Krieg. Auch heute erschüttert eine solche Umwälzung unsere Welt. Es liegt an uns, einen Übergang zu finden, der unsere Demokratien weiter entwickelt und nicht zerstört.
Das öffentliche Bewusstsein einer Gesellschaft ist so etwas wie ihr öffentlicher Seelenraum. Seit jeher entstehen hier unsere gemeinsamen Mythen, hier leben unsere gesellschaftlichen Konflikte. Bei den vorgeschichtlichen Stammesgesellschaften war das wohl mehr so etwas wie ein gemeinsames Familienbewusstsein und in antiken Imperien wie Ägypten war es vor allem das Bewusstsein der herrschenden Pharaonen, das das gesamte Reich durchdrang. Die erste Blüte eines demokratischen, öffentlichen Bewusstseins im heutigen Sinne entstand in der griechischen Polis vor 2.500 Jahren in Athen, damals getragen von den öffentlichen Bürgerversammlungen, den Theaterfestspielen und den öffentlichen religiösen Kulten. Auch im Mittelalter gab es diese Form des öffentlichen Lebens, vor allem in den freien Städten, in den Gilden und Zünften. Das öffentliche Bewusstsein in unserem heutigen Sinne entstand, so schreibt der Philosoph Jürgen Habermas, in den Pariser literarischen Salons vor der Französischen Revolution. Es war diese literarische Salonkultur in Städten wie Paris, London, Berlin und Wien, in der die Saat einer modernen demokratischen Öffentlichkeit gelegt wurde.
In unserer jüngsten Geschichte, in der demokratischen Massengesellschaft des 20. Jahrhunderts, waren es das öffentlich-rechtliche Fernsehen, die Parteienpresse und die großen privaten Medienhäuser wie Springer und Spiegel, die diesen Raum gestalteten. Sie bestimmten das Aussehen und den Inhalt dieser Seele der Demokratie. Sie waren die »Torwächter« der öffentlichen Meinungsbildung, der öffentlichen Diskussion.
Im Vergleich zu heute war es eine überschaubare Welt. Öffentliches und Privates waren noch klar getrennt. Wenn ich an diese Zeit zurückdenke, waren da meine Familie, mein Freundeskreis und meine Schule. Meine Kanäle zur weiten Welt waren zu Mittag die Radionachrichten und am Abend gab es zuhause zwei TV-Kanäle mit einer sehr überschaubaren Anzahl von Filmen und Shows. Dann waren da noch die Tageszeitung meines Vaters, der Schulunterricht und die Bücher der Städtischen Bücherei. Aber meine eigentliche Welt waren meine Freunde, meine Schule, meine Famile und ich.
Das öffentliche Bewusstsein einer Gesellschaft ist so etwas wie ihr öffentlicher Seelenraum.
Diese Welt gibt es nicht mehr. Bereits in den 80er-Jahren brachte die Liberalisierung des Fernsehmarktes die ersten großen Veränderungen. Unser Fernsehen veränderte sich von einem Politikum immer mehr zu einer Ware. Der alte Muff des öffentlich-rechtlichen Fernsehens wurde aufgebrochen. Es entstand das »Quotenfernsehen«, ein erster großer Schritt in Richtung einer neuen Aufmerksamkeits- und Erregungsindustrie. Die »Quote« stand ja für die Reichweite der sich immer weiter ausbreitenden Werbesendungen. Die Quote war das Lebenselixier der neuen, privaten Sender. Mit ihr wurde das Fernsehen auch schrill und seicht. Dabei war das Privatfernsehen nur ein Vorbote. Die Aufmerksamkeitsindustrie von heute übersiedelte vom Fernsehen in das neue Internet. Facebook, YouTube und Google brachten das Ende der alten, öffentlich-rechtlichen und privaten Torhüter des öffentlichen Raumes.
Wir erleben heute so etwas wie einen Informations-Tsunami. Der Wettbewerb um unsere Aufmerksamkeit entwickelt sich explosiv. Was mit dem privaten Fernsehen begann, trifft jetzt in noch einer viel radikaleren Weise zu: Vor allem das Schrille wird gehört. Alles andere droht, übertönt zu werden.
Eine umfangreiche Studie des MIT in Boston hat erst kürzlich herausgefunden, dass auf Twitter Fake News, also Falschnachrichten, 70 Prozent öfter weiterverbreitet werden als wahre Nachrichten. Wie kommt es, dass wir in den sozialen Medien Fake News so viel öfter verbreiten? Der Grund ist einfach: Lügen sind flexibler als Wahrheiten. Man kann sie leicht so gestalten, dass sie lautstark unsere Aufmerksamkeit finden. Wahrheiten sind sperrig, es sei denn, man verändert sie so, dass sie eben nicht mehr ganz der Wahrheit entsprechen. Wenn nur noch das Erregen von Aufmerksamkeit zählt, bleibt die Wahrheit leicht auf der Strecke.
Die Logik der Erregungsökonomie ist auch eine der Erklärungen, warum ein Lügenkünstler wie Donald Trump amerikanischer Präsident werden konnte. Trump hatte das Geschäft der skrupellosen öffentlichen Erregung von Aufmerksamkeit über die Jahre als TV-Star im amerikanischen Reality-TV gelernt. Er ist ein Produkt des privaten Fernsehens. Auf Twitter hat er diese Kunst perfektioniert.
Wie zu Anfang der Neuzeit sind wir heute in einer unüberschaubaren neuen Situtation. Damals hatte der Buchdruck das Meinungsmonopol von Kirche und Adel aufgebrochen. Heute machen uns die sozialen Medien alle zu Sendern und Verlegern. Die großen Medienhäuser, die bis vor Kurzem den Zugang zum öffentlichen Raum kontrollierten, haben diese Macht verloren. Aber wir haben nicht nur diese äußeren »Ordnungshüter« verloren. In der Flut widersprüchlicher Informationen verlieren wir zusehends oft auch die innere Orientierung. Wahrheit wird flüchtig. In dieser Verunsicherung bleiben unsere spontanen Reflexe – Dinge, die uns erregen, die uns Angst machen, die unsere Vorurteile unterstützen. Wenn es keine Kontexte mehr gibt, an denen man sich orientiert, bleiben die primären Erregungsimpulse, um auf die Welt zu reagieren.
Die großen Algorithmenfabriken der Internetfirmen programmieren die sozialen Medien auch als eine Aufmerksamkeitsmaschine. Das Geschäftsmodell besteht darin, möglichst viel von unserer Aufmerksamkeit zu bekommen. Auf diese Weise landen bereits 25 Prozent aller weltweiten Werbeeinahmen bei Google und Facebook. Gleichzeitig werden wir zu gläsernen Konsumenten und Bürgern. Wir wissen noch nicht, wie die demokratischen Gesellschaften auf diese neue Konzentration von Macht und Einfluss antworten können und sollen.
Bei den Präsidentschaftswahlen in den USA und beim britischen Brexit haben auch Firmen wie Cambridge Analytica eine wichtige Rolle gespielt. In einem versteckten Interview mit dem englischen Sender »Channel 4« haben die Firmenvertreter von Cambridge Analytica offen darüber gesprochen, wie sie ihre Manipulationstechnik verkaufen. Unabhängig davon, ob diese Technologien von russischen Trollen oder westlichen Firmen genutzt werden. Für den öffentlichen Raum sind sie eine wirkliche Gefahr. Aber allein die Eigendynamik der sozialen Medien mit ihren Echokammern, in denen die Welt immer mehr unseren Vorurteilen gleicht, stellt an uns alle die Frage, wie wir unsere offene Gesellschaft in diesem Übergang neu gestalten können.
Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen betont, dass es bisher die Medien als die »vierte Gewalt« in unserer demokratischen Gesellschaft gab, neben Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit. Mit den sozialen Medien erleben wir die Geburt einer »fünften Gewalt« der »vernetzten Vielen«, wie Pörksen es nennt. Hier liegen große demokratische Chancen, aber auch ungemeine Herausforderungen. Wir brauchen neue Richtlinien, damit soziale Medien weniger der Raum einer manipulierbaren Erregungswirtschaft und mehr ein neuer Raum einer demokratischen Öffentlichkeit werden können. Wir stehen nicht einmal am Anfang einer öffentlichen Debatte, wie dieser Umbau aussehen kann.
Aber es braucht mehr als neue politsche Rahmenbedingungen. Nicht nur, aber auch wegen der Dynamiken der neuen Medien, drohen unsere Gesellschaften auseinanderzufallen. Eine demokratische Öffentlichkeit braucht auch eine lebendige Dialogkultur. Wahrscheinlich ist es uns allen aufgefallen, wie die letzten Jahre auch von einer Verrohung der Umgangsformen geprägt waren. Eine Sprache der Aggression, die man früher den Stammtischen vorbehalten hatte, wird heute über Twitter und Facebook gesellschaftsfähig. Und jeder von uns hat es auf Facebook selbst bemerkt, wie leicht es in kritischen Auseinandersetzungen ist, andere nicht mehr als Menschen wahrzunehmen, die unseren Respekt verdienen. Ein Medium, in dem schrille Aufmerksamkeit zu einem Erfolgskriterium wird, ist ein fruchtbarer Boden für eine schrille entmenschlichte Sprache. Auch diese Entwicklung ist eine der Erfolgsgrundlagen des autoritären Populismus von Budapest und Wien bis Washington und Buenos Aires. Eine neue, menschliche Beziehungs- und Dialogkultur wird heute zu einer Überlebensfrage der Demokratie.
Es gibt aber auch ermutigende Initiativen: Bei der von der »Zeit« organisierten Aktion »Deutschland spricht« fanden sich Tausende Menschen mit konträren politischen Ansichten, die sich nicht kannten, in Zweiergesprächen zusammen, um einfach miteinander, statt übereinander und gegeneinander zu reden. Das hat mich berührt. Der Soziologe Harald Welzer organisiert seit mehreren Jahren mit anderen die »Initiative für eine offene Gesellschaft«. Über das Internet und in Hunderten deutscher Städte und Orte entstanden so große und kleine Zusammenkünfte, in denen eine offene Gesellschaft in Begegnung gelebt werden kann.
Wenn nur noch das Erregen von Aufmerksamkeit zählt, bleibt die Wahrheit leicht auf der Strecke.
Aber eine Begegnungs- und Dialogkultur will gelernt und geübt sein. Und das ist ein Aufruf an uns. Mit uns meine ich jene Menschen mit einem Interesse an einer lebendigen Bewusstseinskultur, an einer progressiven Spiritualität und einem integralen Bewusstsein. Wir werden gebraucht. Ein integrales Verständnis der gesellschaftlichen Konflikte, das in der Lage ist, die Werte einer postmodernen Beziehungskultur gemeinsam mit den modernen Werten der Aufklärung und Rationalität und traditionellen Werten wie Heimat zu denken, kann Brücken schlagen – Brücken, die gebraucht werden.
Die Achtsamkeitskultur, die sich in den letzten Jahren so stark entwickelt hat, erweitert sich gerade zu einer neuen kollektiven und sozialen Achtsamkeitskultur. Es ist nicht zu viel gesagt, dass unsere Gesellschaft in Amerika wie in Europa droht, auseinanderzufallen. Nötig sind Menschen und Bewegungen, die sich aktiv um unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt bemühen. Zusammenhalt entsteht durch Beziehung und Vertrauen. Heute brauchen wir Vertrauensräume, ein Netzwerk von Räumen im Internet und in der analogen Welt, in denen sich zwischenmenschliches Vertrauen bewährt.
Früher hatten die Religionen trotz aller ihrer Schattenseiten auch die Funktion, die Gesellschaft mit einer tieferen, spirituellen Dimension des Lebens zu verbinden und auch ein Vertrauen in das Leben selbst zu pflegen. In unserer globalen und pluralistischen Welt können sie diese Funktion nicht mehr alleine ausfüllen. Vielleicht entsteht mit uns und anderen heute eine Dialog- und Bewusstseinskultur, in der diese Vertrauensdimension wieder Teil unserer offenen Gesellschaft werden kann. Auch das wird gebraucht.
Die Bewusstseinskultur muss sich in die Gesellschaft einbringen, um in der analogen und in der digitalen Welt Vertrauensräume zu ermöglichen. Wir können dazu betragen – in unserem Wohnzimmer, im Bürgerhaus, aber gerade auch in den Begegnungsräumen der neuen sozialen Medien.