Menschliche Technik?

Our Emotional Participation in the World
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Kolumne
Publiziert am:

April 11, 2022

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Ausgabe 34 / 2022
|
April 2022
Bewusste Netzwerke
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Eine Frage an unsere Gestaltungskraft

Können uns die neuen Technologien auch helfen, miteinander mehr Mensch zu sein?

Anna Mauersberger, Sozialunternehmerin, Gründerin von HeartWire, Labor für gesellschaftliche Herzensbildung.

Ich habe mir angewöhnt, Technologien (und andere Systeme) vor allem von ihrer DNA und ihrem Purpose her zu bewerten: Welche große Idee, welche Vision hat zum Zeitpunkt der Geburtsstunde Patin gestanden? Dient die (technologische) Unternehmung in der Praxis vornehmlich der Vermehrung des Kapitals einiger weniger – Geld, Daten, Macht? Oder »gehört sie sich selbst« – stellt sie das Gemeinwohl also unmissverständlich an erste Stelle, insbesondere in ihrer Organisationsstruktur? Wir brauchen definitiv mehr von Letzterem, in allen Lebensbereichen.

Immer wieder begegnet mir die Sorge (manchmal gar die Hoffnung), eine namenlose, unempathische, auf Einsen und Nullen beruhende Künstliche Intelligenz könne die Herrschaft über uns Menschen übernehmen, an unserer Stelle Entscheidungen treffen, stärker, schlauer und mächtiger werden als wir. Die Digitalisierung der Welt hat Allmachtsphantasien plötzlich in greifbare Nähe gerückt – nicht auszudenken, was passiert, wenn…Dass es hierzulande zum Beispiel nicht möglich gewesen ist, eine banale Corona-Warn-App zu entwickeln, die ihren Namen verdient (und die flächendeckende, monatelange und insbesondere für den ärmeren Teil der Bevölkerung zerstörerische Lockdowns sowie den Zusammenbruch bürokratischer, staatlicher Strukturen hätte verhindern können), bleibt völlig hinter den Möglichkeiten unserer Zeit zurück – und hat sicherlich auch mit diesem grundsätzlichen Misstrauen zu tun. Vor allem aber spiegelt es die mangelnde Bereitschaft deutscher Politik wider, öffentlich die Frage zur Disposition zu stellen, wie Technologie uns dienen kann – und welche Wege wir dafür wählen können. Dezentralisieren undautonomisieren wären in diesem Kontext wichtige Überlegungen gewesen, ebenso wiegemeinschaftsbasieren, solidarisieren oderlokalisieren. In der Virtual- Reality-Blase, in der ich mich eine Zeit lang aufgehalten habe, gibt es das geflügelte Wort: Garbage in, garbage out. Soll heißen: Technologie ist genauso gut oder schlecht, wie wir sie erdenken. Das mit dem Mensch-Sein passiert dann auch von ganz allein.


Dennis Wittrock, Holacracy Coach bei Xpreneurs, Partner bei encode.org, integraler Pionier und Autor.

Die unbefriedigende Antwort lautet: Kommt darauf an. Neue Technologien sind wie immer nur Werkzeuge. Auch das Aufkommen des Internets hat entgegen der Hoffnungen der Sozialromantiker nicht per se zu mehr Menschlichkeit geführt. Es war die Rede von einem »globalen Nervensystem«, Menschen mit spezialisierten Einzelinteressen und marginalisierte Gruppen konnten sich leichter finden und vernetzen – aber eben auch Rechtsradikale, Idioten und »Querdenker«. Es kommt also darauf an, mit welcher Intention wir die Technologie füllen.

Und selbst dann sind unbeabsichtigte Effekte nicht auszuschließen, wie z. B. das aufmerksamkeitsökonomische ­»race to the bottom« und die Degradierung unserer kollektiven Informationsökologie aufgrund des Werbemodells einiger weniger Social Media Plattformen (vgl. den Film »The Social Dilemma«). Hieran kann man sehen, wie wichtig es ist, die Anreizsysteme gut auszutarieren, sodass die Technologie Anreize setzt, die nicht allein für Profit, sondern vielmehr für menschliches Wohlsein optimieren. Das ist aber wieder eine Frage von weitsichtigem, absichtsvollem Design.

Web 3.0, Blockchains und dezentralisierte Systeme bieten das Potenzial, die »richtigen«, weil am weitesten entwickelten Werte (weltzentrisch, mitfühlend, nachhaltig, fair) von Anfang an direkt in die technologische Basis zu codieren. Alternative Web 3.0 Social Media Plattformen könnten z. B. die User für das Teilen von Content und Daten belohnen, statt die User zum Produkt zu machen. Algorithmen könnten individualisierte Inhalte zeigen, die Entwicklung fördern. Statt unsere Souveränität zu schwächen und unsere Aufmerksamkeit an den Meistbietenden zu verkaufen, könnte Social Media wirklich sozial werden!

Ivo Mensch, stellvertretender Head of Practice bei Perspectiva und Mitglied von Commons Stack DAO und Token Engineering Commons.

Ja, aber ich bin nicht optimistisch, was die nahe Zukunft angeht. Wir co-evolvieren mit der Technologie, aber das Gleichgewicht ist verloren gegangen. Sie ist auf der Grundlage eines Vorhersage- und Kontrollparadigmas entwickelt worden und beruht auf einer engen Vorstellung davon, was ein Mensch ist. Die zentralisierte Big Tech hat die Kultur in ein gewinnorientiertes System zur Verhaltensänderung verwandelt, das uns unserer Handlungsfähigkeit und unserer Mitwirkung an der Weltgestaltung beraubt.

Algorithmen speisen Vergangenheitsdaten (Gleichförmigkeit) in die Gegenwart ein und verengen damit unsere Vorstellung von der Zukunft. Versprechungen von freier Zeit und Lösungen für den Umgang mit (Ressourcen-)Knappheit haben sich in ihr Gegenteil verwandelt: weniger Zeit und massive Ungleichheit. Vor allem die Zeit hat sich zu einem Tyrannen entwickelt, der an der Oberfläche für Beschleunigung sorgt, darunter aber die kulturelle Entwicklung hemmt.

Selbst mit der Blockchain lagern wir die Menschlichkeit weiterhin aus und reduzieren den Bedarf an »menschlichem Vertrauen«, von dem wir aber in Wirklichkeit mehr brauchen statt weniger. Wir können uns in die richtige Richtung bewegen, indem wir zunächst das Paradigma, von dem aus wir Technologie entwerfen, überdenken, die wahren Bedürfnisse ermitteln und dann mit Metaversen in Miteigentumsverhältnissen experimentieren, die auf dezentraler Web3-­Kollaborationstechnologie aufbauen.

Aber Technologen bedürfen einer vielseitig orientierten, ethischen Ausbildung, die aufzeigt, dass Technologie nie neutral ist und im Laufe der Zeit unvorhergesehene Auswirkungen hervorruft. Vielleicht können wir auf einer solchen Grundlage Technik wieder in Richtung einer gesunden, bewussten Co-Evolution lenken – möglicherweise, indem wir weiter mit ihr verschmelzen. So kontra-intuitiv das auch klingen mag: Es könnte ein Weg sein, die Technik zu vermenschlichen, anstatt zu versuchen, die Menschen durch Technik zu vermenschlichen.

Carolin Goethel, Community Weberin und Prozessbegleiterin. Als Teil der Circles UBI Genossenschaft arbeitet sie daran, in Berlin mithilfe der Kryptowährung lokale alternative Wirtschaftskreisläufe aufzubauen.

Auf den ersten Blick sehe ich die unmenschlichen Auswirkungen der neuen Technologien: die Hyper-Finanzialisierung der Krypto-Welt, die robotischen Smart Contracts der Blockchain, sowie die Zeit und Aufmerksamkeit, die wir unseren Smartphones und Computern schenken, anstatt Zeit miteinander zu verbringen.

Aber was bedeutet es denn überhaupt, miteinander mehr Mensch zu sein? Mensch-Sein ist komplex. Mein erster Gedankengang erweist sich als zu binär – ich unterscheide Mensch-Sein (mitfühlend, fehlerhaft, impulsiv) von Maschine-Sein (gefühllos, optimiert, kalkuliert). Ich merke schnell, dass miteinander Mensch zu sein auch bedeutet, sich zu organisieren, Strukturen zu schaffen und effiziente Lösungen für die komplexen Herausforderungen unserer Zeit zu finden. Können uns die neuen Technologien denn dabei behilflich sein?

DAOs versprechen uns neue, dezentralisierte Organisationsformen mit verbesserter Governance, Entscheidungsfindung und Handlungsfähigkeit. Kryptowährungen wie Circles experimentieren mit einem bedingungslosen Grundeinkommen und haben somit den Anspruch, unser unmenschliches Wirtschaftssystem zu restrukturieren. NFTs sollen Künstlern eine angemessene Anerkennung ihrer kreativen Arbeit bieten.

Ob und inwiefern die neuen Technologien ihre Versprechen halten können, ist abzuwarten. Momentan sind ihre Strukturen und Verträge oft noch etwas unflexibel und unpraktisch. Vielleicht ist das aber auch ein Hinweis auf die Menschlichkeit ihrer Urheber und eine Erinnerung daran, dass wir Technologien so entwerfen können, dass sie dem Miteinander-Mensch-Sein dienlich sind.

Theo Cox, Head of Delivery bei Life Itself.

Die durch bestimmte Technologien ermöglichte Ausweitung der Zusammenarbeit hat menschliche Verbindungen zwischen weit entfernten Menschen ermöglicht. Aber trotz positiver Beispiele für verteilte Technologien, die Kooperation und Altruismus über Grenzen hinweg möglich machen, gibt es ein Risiko.

Die Fähigkeit sogenannter »Trustless Systems« (das heißt, Protokolle überprüfen automatisch, ob Regeln eingehalten wurden), Formen der Zusammenarbeit zu erleichtern, ohne auf komplexe zwischenmenschliche Beziehungen angewiesen zu sein, hat zwar für Begeisterung gesorgt, doch hat dieser Weg der Lösung von Problemen des kollektiven Handelns tiefgreifende Auswirkungen darauf, wer wir als Menschen sind. Das Verständnis, dass Menschen grundsätzlich nicht vertrauenswürdig sind, steht im Widerspruch zu einem menschlicheren Umgang miteinander. Wenn das Vertrauen einmal verloren gegangen ist, ist es nur sehr schwer wiederzuerlangen, und eine unserer menschlichsten Formen der Beziehung droht in der Gesellschaft verloren zu gehen.

Totales Vertrauen ist nicht in jedem Kontext möglich. Es ist ein Tanz zwischen der Pflege menschlicher Umgangsformen, die Vertrauen ermöglichen, und Technologien, die es durchsetzen. Aber wenn wir in unserer technischen Begeisterung den grundlegenden Wert von Vertrauen vergessen – nicht nur als Koordinierungsmechanismus, sondern als Kern unserer Menschlichkeit – dann wird die Technologie die Menschlichkeit untergraben, der sie eigentlich dienen soll.

Author:
Anna Mauersberger
Author:
Dennis Wittrock
Author:
Ivo Mensch
Author:
Theo Cox
Author:
Carolin Goethel
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