Mit Headset in den Wald

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

November 2, 2021

Mit:
Anna Mauersberger
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
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Virtual Reality für ein ökologisches Bewusstsein

Anna Mauersberger verbindet eine tiefe Sensibilität für unsere Beziehung mit der Natur mit dem Interesse an innovativen technischen Möglichkeiten. So kam sie dazu, »The Shape of Us« mitzugestalten, eine Reise in einer virtuellen Realität (VR), die die Folgen unserer Trennung von der Natur und das belebende Gefühl einer Wiederverbindung zur selben erfahrbar macht. Wir sprachen mit ihr über die Potenziale und Grenzen von VR im Spannungsfeld zwischen Natur und Technik.

evolve: Wie bist du dazu gekommen, eine VR-Erfahrung mitzugestalten, die den Menschen eine tiefere Naturverbundenheit nahe­bringen will?

Anna Mauersberger: Das Projekt hat eine dreijährige Geschichte. Mit VR beschäftige ich mich seit 2016, als ich auf der Konferenz re:publica zum ersten Mal selbst eine VR-Brille ausprobierte, die es ermöglicht, den Körper als Instrument der Erfahrung zu nutzen. Als Coach und Prozessbegleiterin war mir sofort klar, dass dieses Medium spannende Potenziale birgt für Bildungsprozesse, die den Körper, das Herz, die Gefühle und die Ästhetik mit einbeziehen. Mit diesem Interesse bin ich zur ­Robert-Bosch-Stiftung gegangen, mit der mich eine lange Partnerschaft verbindet. Wir haben mit Unterstützung der Stiftung einen Innovations-Hub gegründet, zu dem wir verschiedene BildungsexpertInnen eingeladen haben. Wir experimentierten mit VR herum und kamen zu dem Schluss, dass zeitgemäße gesellschaftliche Bildung nicht nur den Kopf, sondern auch Körper, Herz und Seele ansprechen sollte – und dass dies über VR in einer einzelnen Erfahrung möglich werden könnte. Also haben wir uns auf den Weg gemacht – und zweieinhalb Jahre später war »The Shape of Us« geboren. Es war ein langer co-kreativer Prozess, bei dem viele Menschen mit am Tisch saßen und an dessen Anfang natürlich vor allem eine Frage im Raum stand: An welches gesellschaftliche Thema wollen wir uns mit einem so mächtigen Medium heranwagen? Wir sind relativ bald beim wohl größten aller Themen gelandet, der Klimakrise, weil hier so offenbar wird, woran unsere Gesellschaft krankt: der Trennung zwischen Wissen und Handeln, zwischen Kopf und Körper, zwischen Theorie und Praxis. Wenn VR als Medium wirklich so mächtig sein sollte, wie gerne behauptet wird – warum dann nicht gleich auch mit der Königsdisziplin einsteigen?  

Klar ist es ein Widerspruch, dass ich mir ein Headset aufsetze, um mich mit der Natur zu verbinden.

e: Kannst du etwas zum Inhalt der VR-Erfahrung sagen?

AM: Die Klimakrise ist das übergeordnete Thema, der Fokus der Experience selbst liegt aber auf Naturverbindung – das ist die Erfahrung, die wir über Technologie und Körper vermitteln möchten. The Shape of Us ist eine Reise, die rund 20 Minuten dauert. Wir haben uns dabei an den Stationen einer Heldenreise orientiert, wie wir sie von Joseph Campbell kennen. 

Nachdem wir die VR-Brille aufgesetzt haben, nimmt uns Mutter Erde höchstpersönlich in Empfang und lädt uns ein, ihr Land zu bereisen, und zwar mit dem ganzen Körper: Wir setzen uns an ein Feuer, lauschen nach außen und innen, entscheiden selbständig, ob und wann wir bereit sind, den nächsten Schritt zu gehen – oder, um mit Campbell zu sprechen: »die Schwelle« zu überschreiten. Und das tun wir dann auch wirklich – indem wir mit beiden Händen fest den Boden berühren, nach einer virtuellen Schnur greifen, uns in verschiedene Körperhaltungen begeben. Auf diese Weise bewegen wir uns Schritt für Schritt fort: zunächst durch eine dystopische Landschaft, in der wir das Ausmaß der menschengemachten Zerstörung sehen und auch unser Getrenntsein fühlen. 

Wir begeben uns sodann hinein ins Unbekannte – in einen dunklen Tunnel, in dem wir auf allen Vieren nach unten krabbeln und uns dem Nicht-Wissen, dem Ungewissen aussetzen. Bei Campbell wäre das die höchste Prüfung. Für unseren Mut werden wir natürlich belohnt – mit einem Raum, der manche an eine Kathedrale erinnert, der Frieden verströmt und uns freier atmen lässt. Hier dürfen wir uns hinlegen – und uns, wenn wir es möchten, in die Erde einsinken lassen, um eins zu werden mit der Natur. 

Es war insgesamt ein wirklich spannender Design-Prozess. Wichtig war uns, dass der Unterschied spürbar wird zwischen dem Zustand des Getrennt-Seins im ersten Teil und dem Zustand der Verbundenheit im zweiten. Technologisch gelöst haben wir das, indem wir im zweiten Teil deutlich mehr Raum für selbständige Bewegung und Interaktion gelassen haben: Ich berühre hier was, und da wächst was – und dann verändern sich plötzlich meine virtuellen Hände, ich bekomme längere Finger, farbenfrohere Arme. Ich bin hier nicht mehr Statistin, sondern gestalte die Welt mit – und fühle mich tatsächlich lebendiger. 

e: Wie erleben die Menschen The Shape Of Us? Und wie verändert sie die Erfahrung?

AM: VR ist hochgradig subjektiv. Für manche ist das In-den-Boden-Sinken eine meditative Erfahrung, für andere ist es angstauslösend. Den lebendigen Handlungsspielraum im letzten Teil aber genießen eigentlich
alle – und viele berichten von Traurigkeit, Beklommenheit oder auch Ärger im ersten Teil. Damit kann man dann wunderbar weiterarbeiten. 

Manche VR-Evangelisten schwören darauf, dass eine einzelne VR-Erfahrung bereits transformatorisch sein kann. Dafür habe ich bislang keine Belege gefunden, es widerspricht eigentlich auch jeder Lerntheorie – in der Regel muss unser Körper etwas mehrfach wiederholen, bis es gelernt ist. Vielmehr ist »The Shape of Us« gedacht als Auftakt zu einem tiefen Gespräch, in dem unsere Gefühle angeregt und explizit willkommen sind. Genau dafür sollen Umweltbildungseinrichtungen, Schulen, ­Bibliotheken, Volkshochschulen oder Workshop-TrainerInnen die VR nutzen – wir stellen sogar Materialien zur Verfügung, um mit der Erfahrung und dem, was sie in den Spielenden freisetzt, weiterzuarbeiten. Dabei ist tatsächlich jedes Gefühl, jede Aussage willkommen – manche Menschen werden zum Beispiel richtig­gehend wütend, die ziehen sich die Brille ab und sagen: »Was maßt ihr euch an? Ich muss mir sowas doch nicht anhören!« Das ist total okay, das ist sogar mehr als okay, denn genau darum geht’s: die Taubheit zu durchbrechen, die das Thema Klimakrise bei vielen von uns auslöst, eben weil es so groß und übermächtig ist. 

e: Mit einer technischen Anwendung wie der VR die Naturverbundenheit zu vermitteln, hört sich wie ein Widerspruch an. Wie geht ihr damit um? 

AM: Klar ist es ein Widerspruch, dass ich mir ein Headset aufsetze, um mich mit der Natur zu verbinden. Dieser Widerspruch macht mich persönlich immer wieder auch traurig: Wie weit sind wir als westliche Zivilisation gekommen, dass ich, die ich ja auch Wildnispädagogin bin und mit Menschen in echten Wäldern arbeite, meine Lebenszeit nun in eine VR-Anwendung stecke, die die Menschen wieder näher zur Natur bringen soll? Das Potenzial von VR sehe ich vor allem darin, Brücken zu Communities und Zielgruppen zu bauen, die von sich aus eben nicht in den Wald gehen würden, die aber gerne zu technologischen Innovationen greifen. Der echte Wald kommt dann sozusagen durch die Hintertür dazu: In den Manuals, die wir begleitend herausgeben, kommt zum Beispiel immer auch eine Natur-Aufgabe vor: »Geh jetzt raus in die echte Natur und verbinde Dich mit den Wesen dort!« Und spätestens dann fällt den Menschen hoffentlich auf, dass diese wunderbare, komplexe, magische Welt da draußen auch mit der besten Programmierleistung nicht nachzustellen ist. Und dass es sich deswegen lohnt, sie zu schützen.  

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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