Mitgefühl und Angst

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Dr. Magdalena Smieszek
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Die emotionale Seite der Menschenrechte

Wenn man mit Magdalena Smieszeküber die aktuelle Flüchtlingssituation spricht, merkt man, dass diese ihr ganzpersönlich nahegeht. Die Menschenrechtsanwältin flüchtete selbst als Kind mitihrer Familie aus Polen, hat nach ihrem Studium an weltweiten Brennpunktengearbeitet und forscht heute über die Rolle der Emotionen bei der Entstehunghumanitärer Gesetze.

evolve: Wie bis du dazu gekommen, im Bereich der Menschenrechte und mit Flüchtlingen zu arbeiten?

Magdalena Smieszek: Mir scheint, die Arbeitauf diesem Gebiet war für mich fast vorprogrammiert. Ich habe Polen mit meinerFamilie verlassen, als ich sieben Jahre alt war; wir lebten dann alsFlüchtlinge in Italien. Es waren die frühen Achtziger und die Welt sah ziemlichanders aus als heute. Die Flüchtlinge kamen nicht aus dem Nahen Osten, siekamen aus Polen, Ungarn, Rumänien, Bulgarien oder der Tschechoslowakei. Wirgingen dann nach Kanada, wo ich International Human Rights Law studierte undspäter im Bereich der Menschenrechte und mit Flüchtlingen arbeitete, vor allem für die Vereinten Nationen in Nepal, ­Ghana, dem Jemen, dem Libanon, Pakistanund in Mittel- und Südeuropa. Doch diese Arbeit vor Ort hatte für mich auchihre Grenzen, weshalb ich wieder einen akademischen Weg einschlug. Derzeit promoviere ich an der Central European University Budapest über die gesetzliche Verankerung der Menschenrechte.

Meine Arbeit im Bereich Menschenrechte umfasst verschiedene Perspektiven: meineErfahrung als Flüchtlingskind, meine Arbeit mit Flüchtlingen auf derzwischenmenschlichen Ebene und das Engagement auf politischer Ebene, wo ichmich für bessere gesetzliche Rahmenbedingungen sowohl in den Herkunfts- alsauch in den Aufnahme­ländern einsetze. Eine integrale Betrachtungsweise hilft mir, diese unterschiedlichen Aspekte wertzuschätzen und bewusst zwischen ihnenzu wechseln.

e: Mit welchenunterschiedlichen Perspektiven arbeitest du?

Die Universelle Erklärung der Menschenrechte, 1948.

MS: In seinem Vier-Quadranten-Modellbeschreibt Ken Wilber vier Bereiche der Wirklichkeit, durch die wir jedeSituation und jedes Phänomen betrachten können. Dieses Modell wende ich inmeiner Forschungsarbeit an, um die Rolle von Emotionen beim Umgang mitMenschenrechtsfragen und der entsprechenden Gesetzgebung zu untersuchen. Auseiner individuell/inneren/subjektiven Perspektivebeschäftige ich mich mit der Psychologie Asyl suchender Menschen ebenso wie mitsolchen, die entweder das »Andere« willkommen heißen oder sich davor fürchten. Aus einem individuellen/­äußeren/objektiven Blickwinkelziehe ich wissenschaftliche Erkenntnisse über die Wirkung dieser Emotionen heran, etwa aus der Sozial-Neurowissenschaft oder der Verhaltensökonomie. Aus kollektiver/innerer/intersubjektiver Sicht überprüfe ich,welche Emotionen in der kulturell relevanten Literatur, die die Gesetzgebung inEuropa beeinflusst, ausdrücklich oder implizit vorhanden sind. Und schließlichaus kollektiver/äußerer/inter­objektiverPerspektiveuntersuche ich die globale und europäische Menschenrechts- und Asylgesetzgebungin ihrer sozialen, politischen und wirtschaftlichen Dimension. Dabei analysiereich, auf welche Emotionen darin Bezug genommen wird, um Erkenntnisse darüber zugewinnen, inwieweit diese die gesetzgeberische Diskussion beeinflussen.

Dieses Anerkennen unseres gemeinsamen Menschseins kann gegen Trennung und Spaltungwirken.

In gewisser Weise kam ich zu meiner gegenwärtigen Forschungsarbeit aus einerFrustration heraus, denn ich will nicht nur gegenwärtige Gesetze, Politik undwirtschaftliche Bedingungen betrachten, sondern tiefer gehende Fragen stellen:Wie sind wir an diesen Punkt gekommen? Welches sind die tieferen Wurzeln dieser Politik? Welche Psychologie steckt dahinter?

e: Wohin führen dich diesetiefer gehenden Fragen?

MS: Diese Forschungsarbeit hat michzur Geschichte und der Evolution der Menschenrechtsgesetze geführt. Ichversuche zu verstehen, wie unsere Gesetze zustande kommen – nicht einfach die Begründungen, die wir dafür haben, sondern die Frage, wie sie sich zu unseremeigenen psychologischen Wesen verhalten, besonders zu unseren Gefühlen. Bei der Gesetzgebung herrscht eine Trennung zwischen Emotionen und Verstand. Wir wollten die Gefühle hinter uns lassen und alles auf der Vernunft gründen. Dasist auch wichtig, damit wir nicht einfach nach unseren angeborenen Instinktenhandeln, sondern bewusste Entscheidungen treffen. Wir haben die Gefühlevernachlässigt, weil sie uns nicht vertrauenswürdig erscheinen.

Das Problem dabei ist jedoch, dass wir in unserer Betonung des Verstandes zu weitgegangen sind. In meiner Forschungsarbeit versuche ich, über diese Dichotomiezwischen Verstand und Gefühlen hinauszukommen und in den rationalenArgumentationen nach den emotionalen Quellen zu suchen. Ich betrachte Gesetzeals Ausdruck von Gefühlen, als eine Reaktion auf Gefühle und gewissermaßen auchals Auslöser von Gefühlen. Hierbei geht es insbesondere um Gefühle derVerbundenheit mit anderen (Inklusion) oder der Ablehnung (Exklusion) – Gefühle,die gerade in Bezug auf Flüchtlinge zwischen Mitgefühl und Angst liegen.

Magdalena Smieszek in Bangkok.

e: Wie könnte diese wachsende Aufmerksamkeit für die Gefühle unseren Umgang mit derSituation von Flüchtlingen verändern?

MS: Alles, was in unserer eigenenmenschlichen Erfahrung passiert, geschieht ebenso in der Erfahrung andererMenschen. Durch diese Einsicht können wir in unserer Wahrnehmung die Spaltungen von anderen verringern. Wir alle haben das Potenzial zu wachsen, unserenBeitrag zu leisten und unser bestes Selbst zu werden, aber wir haben auch das Potenzial, unsere destruktiven Impulse zum Ausdruck zu bringen. DiesesAnerkennen unseres gemeinsamen Menschseins kann gegen Trennung und Spaltungwirken. Es stellt auch die Basis für Empathie dar, denn wenn wir Menschenbegegnen, durch die wir uns bedroht fühlen, können wir uns fragen: Was würdeich in ihrer Situation tun? Vor wem fürchte ich mich? Wodurch entsteht meinePerspektive auf die Welt und wie kann ich die Perspektive des anderenverstehen? Ich kann Informationen sammeln, um den anderen zu verstehen, dennsonst verharren wir nur in unserer gewohnten Haltung, die durch Gesetz und Politik bestärkt wird. Es entsteht eine Rückkopplungsschleife: Die gewohnten Instinkte haben bestimmte Gesetze hervorgebracht, die ihrerseits wieder unsereInstinkte bestärken. Die Frage ist also: Beruhen unsere Gesetze auf Angst unddem Gefühl, von den anderen bedroht zu sein, oder auf Verständnis und Empathiefür die anderen?

e: Es wird viel Kritik an derUNO geübt, dass deren Institutionen mit den Problemen nicht fertig werden, diebesonders durch die Lage der Flüchtlinge in Europa entstehen. Wie siehst dudas?

MS: Seit der Gründung der UNO undihres weltweiten Systems haben sich die Menschenrechte sehr weit entwickelt.Vor 70 Jahren gab es das alles nicht. Die Leute sagen oft, das System, die UNOfunktioniert nicht. Wir müssen aber bedenken, dass sie immer noch einvergleichsweise neues Projekt ist. Wir können unsere Energie darauf richten,dass dieses System besser funktioniert.

Letztendlich können wir alle unseren Beitrag dazu leisten. Als die Flüchtlinge letztes Jahrnach Budapest kamen, bin ich zu einem der Bahnhöfe gegangen und habe eine Zeitlang mitgeholfen, aber ich hatte dort keine wirksame Rolle. Meine Rolle seheich derzeit eher in der akademischen Forschung. Jede und jeder von uns kannihre oder seine Rolle finden, um auf die dringenden Probleme in der Welt zuantworten. Denn auch wenn wir über universelle Menschenrechte und über die UNOsprechen, es geht immer um das Individuum. Diese Rechte sind dazu da, dich undden anderen zu schützen – auch die Menschen, die Asyl suchen. Je mehr wir allediese Rechte im Bewusstsein haben, desto mehr werden sie unsere Gesellschaftund die Politik beeinflussen. Wenn wir im Zusammenhang mit Menschenrechtsfragenfrustriert sind, brauchen wir Informationen, um darauf aufbauend einen Weg zufinden, angemessen zu reagieren und zu handeln. Auf diese Weise können wir allezum Teil der Lösung werden.

Das Gespräch führte Mike Kauschke.

Author:
Mike Kauschke
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