Mittel, Mitte und Maß

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Kolumne
Publiziert am:

July 18, 2022

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Ausgabe 35 / 2022
|
July 2022
Das Heilige
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Als mir meine Mutter, ich war 14 Jahre alt, einen Schreibmaschinenkurs schenkte, war ich nicht erfreut. Immerhin lernte ich dadurch das Zehn-Finger-Blindschreiben, was jetzt ziemlich flott und lustvoll gelingt. Doch heißt flott schreiben auch flott denken? Letzte Woche haben wir den Nachlass einer malenden Freundin mit gemischten Gefühlen sortiert. Wir konnten mitnehmen, was uns ansprach. Ihre Farbstifte, Tuschen und Schreibfedern wollten zu mir. Sie schrieb gerne Briefe von Hand und ganze Bücher ab. Etwa das Märchen Allerlei-Rauh von Sarah Kirsch, und malte wundervolle Illustrationen dazu. Ich schreibe, wie UB, die Freundin, auch gerne von Hand und führe täglich Lebens-Buch, weil sich so bewusster leben lässt. Im Nachlass von UB waren auch Hörkassetten, unter anderem eine Gesamtausgabe der Werke von Heinrich von Kleist. Zu Hause hörte ich mir die spannende Novelle »Der Zweikampf« an. Kleist schrieb sie mit der Hand.

Unter den mitgenommenen Schreibwerkzeugen regte mich besonders ein Rapidograph an, ihn neu auszuprobieren. Die Hand zeichnet, wenn sie schreibt, Chiffren aktueller Befindlichkeit. Das hat rückkoppelnden Einfluss auf das Denken. Der Rapidograph ist ein hochpräzises Zeichengerät, ehemals für Grafiker und Bauzeichner konzipiert. Ich nutzte es jahrelang auch zum Schreiben, weil ich das präzise Schriftbild mit der lichtechten Tusche mochte. Allerdings verstopften oft die feinen Kanülen, weil die Tusche darin eintrocknete und der stockende Tuschefluss den Schreibfluss ausbremste. Dann musste der Rapidograph – ungeduldig bis wütend – geschüttelt werden. Beim Schütteln kleckste dann die lichtechte, pigmentreiche, schwarze Tusche die Umgebung voll. Deshalb suchte ich auch immer andere Schreibgeräte – und fand sie. Die Schreibwerkzeuge haben sich zu einer enormen Perfektion entwickelt. Wo es früher nur Federkiele gab und später Stahlfedern, Füller, Kulis und Tintenroller, lassen sich heute auf dem Tablet alle diese Werkzeuge virtuell einsetzen und programmieren.

¬ ES MUSS HAND UND FUSS HABEN, WAS ICH SCHREIBE UND WOHIN ICH GEHE.¬

Die fraglos grandiose Entwicklung der Schreibwerkzeuge ist ein Beispiel für viele technische Entwicklungen immer perfekterer Mittel. Fraglos ist allerdings auch: Der Inhalt verbessert sich durch verbesserte Mittel leider nicht. Fast scheint es gar, als haben die Mittel ihre Mitte und ihr Maß verloren. So macht auch der beste Lautsprecher eine schwache Rede nicht stärker, das ausgetüftelste Schreibprogramm den Inhalt des Textes nicht inhaltsreicher.

Geht es dann überhaupt noch um Inhalte? Oder ist das Mittel und dessen galoppierender Fortschritt – etwa das Updaten – selbst zum Inhalt geworden? Nicht falsch verstehen, ich mag diesen Galopp auch. Ich möchte mich allerdings nicht vergaloppieren, nicht einfach nur schnell sein und weit kommen. Denn das Ziel liegt sowieso in der Mitte und das Maß bleibt der Schlüssel zum Gelingen. Es muss Hand und Fuß haben, was ich schreibe und wohin ich gehe. So schreiben meine flotten Tippfinger genussvoll langsam, damit mein Geist erkennt: Ich laufe ihm nicht davon.

Author:
Alfred Bast
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