Mittendrin in der Wirklichkeit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

April 17, 2023

Mit:
Prof. Dr. Gert Scobel
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AUSGABE:
Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Komplexe Systeme nachhaltig gestalten


Wir leben immer schon in einer komplexen Wirklichkeit mit vielen Verknüpfungen und Rückkoppelungen. Weisheit bedeutet für Gert Scobel, sich dieser Wechselwirkungen bewusst zu sein und sie ins Handeln einzubeziehen. Wir sprachen mit dem Philosophen und TV-Journalisten über den Zusammenhang von Meditation, Weisheit und Demokratie.

»Inmitten des Stroms verschiedener Stimmen brauche ich eine gewisse Stille.«

evolve: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen in verschiedensten Bereichen. Sie haben sich intensiv mit Weisheit auseinandergesetzt, im Zusammenhang mit der empirischen Forschung und den Weisheitstraditionen. Wie sehen Sie die Relevanz von Weisheit in unserer Zeit?

Gert Scobel: Die multiplen Krisen sind Situationen mit unterschiedlichen Kipppunkten. Zu einem weisen und aufgeklärten oder rationalen Verhalten gehört, solche Kipppunkte besser zu verstehen. Denn Weisheit hat damit zu tun, komplexe Systeme und Prozesse besser zu verstehen, um sie besser gestalten zu können. Dazu gehört unter anderem, dass wir lernen, unsere Aufmerksamkeit solchen Kipppunkten zuzuwenden, beispielsweise in den Schulen, in den Hochschulen, aber auch im öffentlichen Gespräch. Wichtig dabei ist, dass man diese Kipppunkte genau untersucht, um besonnen zu handeln. Das gilt beispielsweise für die Waffenexporte in die Ukraine. Da werden viel zu schnell Meinungen propagiert, anstatt erstmal die Fakten abzuklären.

Komplexität macht vielen Menschen Angst. Weisheit hat daher gerade in Krisen damit zu tun, mit negativen Gefühlen gut umzugehen, um bessere Chancen zu haben, solche Probleme zu lösen. Je mehr unser Ego involviert ist, je mehr wir selber betroffen sind und glauben, uns schützen und zurückschlagen zu müssen, umso weniger klug handeln wir. Klassische Praktiken oder Übungen wie beispielsweise Achtsamkeit oder das, was ich Deep Meditation nenne, führen jedoch dazu, ich-­lose Zustände kennenzulernen und sie nicht nur zu verwirklichen, sondern auch mehr und mehr in unser Alltagsleben zu implementieren. Und das beeinflusst unser Handeln positiv.

Kultivierung des Bewusstseins

e: Was bedeutet es, Weisheit im Alltagsleben oder auch im gesellschaftlichen Leben umzusetzen?

GS: Weisheit hat mit der Lösung komplexer Probleme von existenzieller Bedeutung zu tun. Einfache Probleme kann ich auch ohne jede Weisheit lösen. Wenn wir weise handeln, dann geschieht das immer in einer bestimmten Situation innerhalb eines komplexen Kontextes. Und das ist das Erste, was wir verstehen müssen: dass unser Leben komplex und eben nicht einfach und linear ist. Was unsere Umwelt und unsere Krisen ausmacht, ist ja gerade die Tatsache, dass es sich um komplexe Systeme handelt, die sich aus sehr vielen Elementen oder Prozessen zusammensetzen, die miteinander interagieren und rückgekoppelt sind. Es ist für uns intuitiv sehr schwer, solche oft unerwarteten Rückkopplungsprozesse rechtzeitig und genau wahrzunehmen. Faktisch bewegen wir uns jedoch in einer komplexen Wirklichkeit. Ich sollte mir also dieser Komplexität bewusst sein und versuchen, die vielfältigen Rückkopplungen, die es in dieser Wirklichkeit gibt, in meinem Handeln mit zu beachten, so dass ich möglichst keine Ad-hoc-Entscheidung mehr treffe, die dann das nächste Problem kreiert. Weisheit sucht nach anhaltenden Lösungen, die sich bewähren.

e: Wie sehen Sie dabei das Verhältnis von Wissen und Weisheit?

GS: Obwohl das auf den ersten Blick widersprüchlich erscheint, ist Weisheit ­eine Freundin der Wissenschaften. Denn es kommt darauf an, auf eine realistische und nicht auf eine rein idealistische, eingebildete, nur in der Vorstellung existierende Weise die Komplexität der Wirklichkeit zu erfassen. Dafür brauche ich genaue Beobachtung, Gespräche mit anderen Menschen, Sachverstand. Ich brauche also auch Wissen, um weise zu sein – auch wenn ich in einer Situation des Unwissens, der Ungewissheit handeln muss. Der Psychologe und Weisheitsforscher Paul Baltes hat es als Kontextwissen bezeichnet. Aber das ist nicht alles. Insbesondere wenn es darum geht, existenzielle Probleme zu lösen, ist eine Kultivierung meines Bewusstseins, meiner Bewusstseinszustände nötig. Wenn ich zum Beispiel Angst habe oder keine Ambiguitätstoleranz, kann ich bestimmte Prozesse der Wirklichkeit nicht mehr angemessen wahrnehmen. Erst die Erkenntnis der Komplexität unserer Wirklichkeit wie auch die Kultivierung und Transformationen meines Bewusstseins führen mit der Zeit dazu, Wirklichkeit gut gestalten und von einer krisenhaften Situation in eine stabilere Situation transformieren zu können.

Das Konzert der unterschiedlichen Stimmen

e: In unserer Kultur können wir anerkennen, dass es weise Menschen gibt, zum Beispiel Nelson Mandela oder den Dalai Lama. Das spricht dafür, dass wir ein Sensorium dafür besitzen. Gibt es auch soziale Kontexte oder Praktiken, die weisheitsförderlich sind? Wie sehen Sie diesen sozialen Aspekt der Kultivierung von Weisheit?

GS: Das Einüben bestimmter Weisheitspraktiken und das Kultivieren positiver oder nicht-dualer Bewusstseinszustände ist keine rein individualistische Angelegenheit, sondern immer auch ein kollektives Bemühen: Es erfordert Dialog und die Enkulturation dieser Bewusstseinszustände. Denn erstens lebe ich im Umfeld anderer Menschen und nicht alleine. Zweitens bin ich auch nicht von alleine auf die Idee gekommen, Übungen zu erfinden, die mir helfen, solche Bewusstseinszustände zu kultivieren. Und drittens erzeugen diese Bewusstseinszustände eine Haltung, die davon geprägt ist, dass ich gemeinsam mit anderen Lebewesen und nicht gegen sie handle. Ich erkenne, buddhistisch formuliert, die Nicht-Zweiheit von mir und anderen Lebewesen bzw. mir und der Wirklichkeit.

Ich halte den sozialen Aspekt, der im Buddhismus von Anfang an betont wird und der bei der säkularen Anwendung wie MBSR notwendigerweise verloren ging, für zentral. Auch Nelson Mandela hat in der Gefangenschaft seine nicht-egoistische Haltung im konkreten Umgang mit seinem Wärter und anderen entwickelt. Er musste diese Haltung zwar in sich selber kultivieren, sie aber im Kontext leben. Er hat gezeigt, dass ich-lose Zustände helfen, komplexe Probleme zu lösen und selbst Hass und Wut zu überwinden. Je mehr ich anderen Menschen dazu verhelfen kann, solche positiven Zustände zu erfahren und Einsichten in etwas »Transpersonales« zu gewinnen, umso eher habe ich eine Chance, Weisheit tatsächlich zu realisieren. Das heißt, Weisheit ist nicht nur eine Kultivierung meines eigenen Bewusstseins, sondern immer auch eines sozialen Bewusstseins. In Nelson Mandelas Fall und vielen anderen geht es darum, die geradezu ­psycho-biologisch in uns eingebrannte Unterscheidung zwischen Ingroup und Outgroup aufzulösen, damit gemeinsames, kooperatives und friedliches Zusammenleben möglich wird. Insofern kommt Weisheit nicht aus heiterem Himmel, sondern ist das Ergebnis genauer und harter Arbeit an sich selbst – aber im konkreten Zusammenleben mit anderen.

e: Sie sprechen auch über eine Praxis der radikalen Mitte, um in der Entscheidungsfindung einen Raum offenzuhalten, der nicht von einzelnen Ego-Bedürfnissen oder von einer Gruppe vereinnahmt wird. Wie sehen Sie diese Praxis im Kontext von Weisheit?

»Demokratisch zu leben bedeutet, die Komplexität und Vielheit der Stimmen anzuerkennen.«

GS: Wenn ich existenzielle oder moralische Probleme zu lösen versuche, befinde ich mich immer in einer Spannung zwischen verschiedenen Polen. Radikale Mitte bedeutet, sich nicht sofort vom einen oder anderen Pol vereinnahmen zu lassen, sondern zunächst zu sehen, was der Fall ist, das heißt, Zeuge dieser Widersprüche und der Spannungen zwischen diesen Gegensätzen zu werden. Es geht also darum, nicht sofort eine Durchschnittsposition zu entwickeln, die der kleinste gemeinsame Nenner ist. Vielmehr muss ich zunächst das Konzert der unterschiedlichen Stimmen aushalten und die »Pole« kennenlernen. Es kann ja durchaus sein, dass eine der extremen Positionen und gerade nicht das Mittelmaß die richtige Handlungsweise ist. Ich muss daher die verschiedenen Argumente hören und die relevanten Tatsachen verstehen, aber in einem Bewusstseinszustand, der nicht bereits vereinnahmt und fixiert ist.

Das entspricht ein wenig dem, was im Kampfsport »fluider Geist« genannt wird, der Daoismus nennt es den »Geist des Wassers«. Inmitten des Stroms verschiedener Stimmen brauche ich eine gewisse Stille. Radikal bedeutet, sich freizumachen, genau hinzuhören und im Idealfall sogar einen Zustand nicht-dualen Bewusstseins zu realisieren. Daraus ergibt sich dann, was ich zu tun habe. Dabei ist jede Situation anders. Von komplexen Systemen wissen wir, dass kleinste Schwankungen der Ausgangsbedingungen große Veränderungen bewirken können. Insofern ist es falsch zu glauben, es gäbe eine Regel für alle Situationen, denn die Ausgangsbedingungen sind nie gleich.

Der erste Schritt klingt fast ein wenig banal: Ich begebe mich ganz bewusst in die Situation hinein, in der ich in Wahrheit bin, nämlich mittendrin zu sein und zwischen den Stühlen zu sitzen. »Zwischen« den Dingen zu sein ist meine Situation als Mensch. Es geht darum, sich nicht in Illusionen zu flüchten, und viele der extremen Positionen sind oft genau das. »Waffenlieferungen« oder »keine Waffenlieferungen«, und alles wird gut. Beides ist eine Illusion. Der Zenmeister Bernie Glassman sprach angesichts solcher Probleme vom »plunge into not-knowing«, dem Reinspringen in eine Situation, in der ich nicht weiß, wie sie enden wird und wie ich mich entscheiden werde. Die Praxis der radikalen Mitte ist ein Verfahren, sich dem Nichtwissen zu nähern und es zu kultivieren. Und Nichtwissen hat nicht nur in unserer abendländischen Tradition fundamental mit Weisheit zu tun. Um in der Mitte zu sein, brauche ich die Radikalität und den Mut, innezuhalten und mich nicht sofort vereinnahmen und zu den Extremen zerren zu lassen.

Weise Demokratie

e: Was Sie ansprechen, ist auch ein anderer Bezug zur Wirklichkeit, die nicht nur eine Ansammlung von Objekten ist, sondern im Nichtwissen und der Offenheit nehme ich die Wirklichkeit gewissermaßen als Mitspieler ernst. Wir handeln nicht auf einer toten Bühne. In Situationen, die sich sehr ähnlich sind, kann einmal die eine Entscheidung richtig sein und ein anderes Mal eine andere. Wir fließen dann mit der Wirklichkeit.

GS: Genau. Es kann sein, dass ich beim zweiten Mal anders handeln werde. Wir müssen das Bewusstsein für die kleinen Schwankungen entwickeln, für die Details, die wir oft übersehen, weil wir bereits einen Durchschnittswert bestimmt haben und zu wissen glauben, wo es lang geht.

Nichtgetrenntheit würde in diesem Kontext heißen: Ich bin mittendrin und ich bin auch diese Wirklichkeit. Ich bin in gewisser Weise das Problem, das ich zu lösen versuche. Und es könnte sein, dass ich mir selber dabei im Weg stehe, dieses Problem zu lösen.

Man erfährt unmittelbar, woran man arbeiten muss, wenn man sich gezielt in eine solche Situation des Nichtwissens begibt. Dann zeigen sich die Probleme. Oft gehört dazu, den Plan oder die fertige Karte loszulassen, die ich bereits in meinem Kopf habe, weil ich überhaupt nicht weiß, ob diese Karte noch zu dem Gebiet passt, in dem ich mich gerade bewege.

e: Wie sehen Sie die Notwendigkeit und Möglichkeit, in unserer Kultur eine Fähigkeit zur Weisheit und zum weisen Handeln zu unterstützen? Was wäre aus Ihrer Sicht eine weise Kultur, eine »Weisheitskultur«?

»Wir sind in das Netz der Geschichte des ganzen Universums eingespannt.«

GS: Das fängt beispielsweise in den Schulen an. Wir können es uns weder erlauben noch sollten wir weiter dulden, dass 2,8 Millionen Kinder unter der Armutsgrenze leben. Wir hängen diese Kinder komplett ab, während die anderen, die es sich leisten können, auf teure Privatschulen gehen. Wir müssen ein Konzept echter Integration für alle verwirklichen, was die einen genauso fördert wie die anderen und sie nicht gegeneinander abgrenzt. Weisheit lässt sich nur gemeinsam kultivieren. Zweitens sollten wir bereits in der Schule lernen, dass es verschiedene Bewusstseinszustände gibt: Welche Bewusstseinszustände sind gut und gewollt, welche sind es nicht? Und welche Wege führen dahin, positive Bewusstseinszustände zu kultivieren? Ein Element dabei ist, in der Schule und anderen sozialen Kontexten bestimmte Verfahren der Meditation zu vermitteln. Aber auch Methoden der Mediation und Schlichtung sollten erlernt werden, um Widersprüche ertragen und Streit schlichten zu können, auch zwischen Parteien oder Gewerkschaften und Arbeitgebern. Das sind Aspekte unseres Lebens, die viel wichtiger zu lernen sind, als weiterhin Telefonbücher auswendig zu lernen und diese dann in Multiple Choice Tests abzufragen.

Weisheit, über die wir hier reden, ist immer auch politisch oder gesellschaftlich. Denn wir brauchen Institutionen, die uns helfen, solche Erfahrungen zu machen. Es gibt Institutionen, die Vielheit vernichten, und solche, die sie fördern. Deshalb gibt es einen Zusammenhang zwischen Weisheitspraxis und Demokratie. Demokratisch zu leben bedeutet, die Komplexität und Vielheit der Stimmen anzuerkennen, ohne von Anfang an zu sagen: Es gibt Menschen und Perspektiven, die ich sofort ausschließe.

Gelebte Selbstlosigkeit

e: Heute liegt die Relevanz von Weisheit auch darin, dass unsere Krisen solche Qualitäten, wie wir sie besprochen haben, fordern oder unumgänglich machen, um in dieser Situation einen Weg zu finden.

GS: In der Zen-Tradition, aus der ich komme, haben sich viele der Zenmeister vom Königshof in China oder Japan ferngehalten. Warum? Weil die Regeln dort so durch Macht festgelegt waren, dass ein Aufweichen dieser Regeln, ein Zustand der radikalen Mitte gar nicht denkbar war. Wir sind heute in einer Situation, in der wir anerkennen müssen, dass zwar alles Leben fundamental verbunden ist, wir aber fernab vom unmittelbaren Zugriff von Macht Freiräume schaffen müssen, um uns von dort aus aktiv in die Gesellschaft hineinzubewegen. Wir brauchen Freiräume, um zu lernen, anderen Menschen und uns selbst in unserer Selbstlosigkeit zu begegnen. Nicht im Sinne einer moralischen Tugend, sondern eines Bewusstseinszustands, den wir kultivieren können – und, ich glaube sogar, müssen.

Denn es wird sonst sehr schwierig, einen guten oder sogar weisen Weg aus den Krisen zu finden. Wir werden auf vieles verzichten müssen. Wir werden nicht mehr diesen Verbrauch von Energie, von Wasser und vielen anderen Ressourcen für alle Menschen realisieren können. Solange ich aber fixiert bin auf das, was ich habe, und nur meinen unmittelbaren Wünschen oder Ängsten folge, bin ich nicht in der Lage, Nicht-Zweiheit, also einen nicht-dualen Bewusstseinszustand zu realisieren. Dann aber erscheint mir alles nur als dramatischer Verlust. Ich erfahre die Erfüllung, die mit einem solchen Bewusstseinszustand verbunden ist, gar nicht. Ich habe nichts Positives, das ich diesem Verlust entgegensetzen könnte.

Erfahrungen veränderter Bewusstseinszustände können jedoch dazu führen, dass wir mit einem einfacheren Leben positiver und sogar zufriedener sind. Wir erkennen dann, dass die Tatsache, dass wir überhaupt existieren, eine Erfahrung ist, für die es ganze 13,78 Milliarden Jahre dauerte, bis in diesem Augenblick all das möglich wurde und wir jetzt miteinander sprechen können. Das ist alles andere als selbstverständlich. Wir sind in das Netz der Geschichte des ganzen Universums eingespannt. Und das ist, wenn Sie so wollen, ein Geschenk. Aber wir müssen uns freimachen von illusionären Voreinstellungen, um dieses Geschenk erfahren zu können.

Author:
Mike Kauschke
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