Momente der Intimität

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 21, 2016

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Ausgabe 09 / 2016:
|
January 2016
Ganz nah
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Gesammelte Eindrücke

Wir begegnen uns gerade. Sie beginnen, diesen Artikel zu lesen. Ich habe ihn geschrieben. Zugegeben, schreiben ist ein intimerer Akt als lesen. Ich zeige mich und werde für Sie sichtbar. Und manchmal zeigt man sich auch mehr, als einem bewusst ist. Vielleicht ist es nur meine Vorstellung, aber ich kann keinen Artikel schreiben, ohne mich zumindest innerlich auf Sie, die Leser, einzulassen. Vor meinem inneren Auge sehe ich Sie, spreche mit Ihnen. Schreibende sind auf Rückmeldungen der Leser angewiesen. So entsteht eine Wahrnehmung, eine Intuition, wem ich hier schreibe. In Ihren Rückmeldungen schließt sich die Beziehung zum Kreis. Die Intimität im Augenblick des Schreibens und des Lesens ist einer von vielen Augenblicken der Intimität.

Im Zug

Vor einigen Wochen saß ich wieder im übervollen ICE von Österreich nach Deutschland. Seit Monaten nutzen viele Flüchtlinge aus Syrien, aus Afghanistan, aber auch aus dem Kosovo diese Zugstrecke. Viele junge Männer sitzen mit mir im Großraumwagen, aber auch Familien mit Kindern.

Es ist die Müdigkeit in den vielen Gesichtern, die mich betroffen macht. In deutschen Zügen wird oft nicht viel geredet, aber das Schweigen hier war doch anders, als würde es die Geschichten all dieser Menschen erzählen. Eine junge Familie mit drei kleinen Kindern versucht, die Schilder am Bahnhof zu entziffern, anscheinend ein unterhaltsames Familienspiel. Ein junger Mann fragt mich auf Englisch, ob es im Zug möglich sei, sein Handy aufzuladen. In unserem kurzen Gespräch erfahre ich, dass er aus Syrien kommt.

Im vorderen Teil des Großraumwagens höre ich eine deutsche Frau mittleren Alters. Mit einer unterdrückten aber doch lauten Stimme spricht sie in ihr Mobiltelefon. Offensichtlich hat sie Angst, fast panische Angst. Ich höre etwas von »strengem Geruch«, von »den vielen Männern im Zug« und über »dunkle Gesichter«. Aber hauptsächlich spricht sie von ihrer Angst, mit diesen Menschen im gleichen Raum zu sein.

Mir schräg gegenüber sitzt eine junge Mutter. Ich vermute eine Syrerin, vielleicht Irakerin. Ihren kleinen Sohn hält sie ganz nah bei sich. Ihr trauriger Blick ist die meiste Zeit auf die vorbeigleitende deutsche Landschaft gerichtet. Ich kann es fast nur in der Spiegelung des Zugfensters sehen. Aber es ist ein Blick, der mich nicht mehr verlassen wird. Ich weiß nicht, ob dieser in die Weite gerichtete Blick mehr der neuen, unbekannten Landschaft gilt, in die sie mit unserem Zug hineinrollt, oder mehr dem Land und all den Geschehnissen, die diese junge Mutter gerade hinter sich gelassen hat. Mit vielen anderen Flüchtlingen verlässt sie in Würzburg den ICE. Ihr Blick ist noch in mir.

Frankfurts Berge

Kaum jemand weiß von Frankfurts Bergen. Doch Frankfurt ist die einzige deutsche Großstadt, die direkt an einem Mittelgebirge liegt, dem Taunus. Seit ich hier wohne, sind die Höhen des Taunus zu meinen Hausbergen geworden. Vierzig Minuten von unserem Haus entfernt, auf halber Höhe des Taunus, gibt es eine Waldlichtung, an der ich immer wieder mit dem Mountainbike oder zu Fuß vorbeikomme. Diese Lichtung liegt bereits ziemlich tief im Wald auf dem Weg zum Altkönig, einem der höchsten Berge im ­Taunus. Nach vielen, sehr vielen Fichten öffnet sich dort auf einmal die Sicht. Vor allem, wenn das Licht sehr hell ist, tritt man auf eine Fläche mit hellgrünem, fast neongrün schimmerndem Moos, sehr dickem Moos, das den Waldboden bedeckt. Diese Waldlichtung ist ein eigenartiger Ort. Die Stadt ist weit weg. Es kommt dort auch kein Mensch vorbei. Man begegnet hier einer anderen Welt. Wenn man ein wenig Zeit mitgebracht hat, taucht man in etwas ein, das einen tief berühren kann. Moos hat einen sehr intensiven, herben Geruch. Auch das modernde Holz hat diesen für einen Wald typischen Duft. Auf einmal werden Vogelstimmen ganz wichtig. Diese kleine, abgelegene Lichtung ist ein Platz, an dem fast nichts außer den Jahreszeiten geschieht.

Frühstück

Meine Lebensgefährtin und ich haben ein fast tägliches Ritual. Bei unserem Frühstückskaffee lesen wir gemeinsam Zeitung. Sie, eine Amerikanerin, liest die »International New York Times«. Ich lese »Die Zeit«. Nach der gemeinsamen Nacht und einer gemeinsamen Morgenmeditation mit unseren Freunden kommt also die gemeinsame Zeit mit Zeitung und Kaffee. Oft lesen wir sie auch wirklich gemeinsam. Das heißt, ich höre, was in der »New York Times« und sie, was in der »Zeit« steht, hinzukommen unsere eigenen Gedanken und Kommentare – eine intellektuelle Intimität.

Nein, unsere Beziehung besteht nicht nur aus Zeitungslektüre. Eines der größten Privilegien, das Menschen einander geben können, ist es, miteinander ungezwungen körperlich ganz nah zu sein, einfach nah. Diese körperliche Nähe ist eigentlich der Ursprung jeder menschlichen Nähe. Und zwischen meiner Partnerin und mir gibt es eine weitere Form der Nähe, die ich als großes Privileg einer guten Beziehung erfahre: Es ist die Nähe, die entsteht, wenn zwei Menschen (oder mehr) für etwas gemeinsam brennen, etwas, das uns in unserer menschlichen Tiefe ergreift. Das mit jemandem zu teilen, ist mehr als ein Geschenk. Und es bringt reichlich Gesprächsstoff beim gemeinsamen Frühstückskaffee.

Das Haus meiner Eltern

Kürzlich habe ich das Haus meiner Eltern ganz neu gesehen. Das Haus war völlig ausgeräumt. Nach dem Tod meiner Mutter hatten wir Geschwister uns entschieden, es zu verkaufen. Und jetzt sollte ich es zum letzten Mal sehen – besenrein und leer. Das Elternhaus, voll mit den Erinnerungen meiner Kindheit, zeigte diese Erinnerungen auf eine völlig neue Weise. Der alte Tisch in meinem Kinderzimmer, an dem ich meine Schulaufgaben gemacht hatte, war nicht mehr da. Auch im anderen Kinderzimmer schauten mich nur leere Wände an. Oder unser altes Wohnzimmer, das immer die Aura eines Familienheiligtums hatte – ein leerer Raum. Der Rundgang durch das leere Haus wurde ein Rundgang durch eine Welt, die es nicht mehr gibt. Jeder Raum füllte sich vor meinem inneren Auge mit Szenen aus der Vergangenheit und mit Möbeln, die dort nicht mehr standen. Selbst die Küche meiner Mutter war voller vertrauter Gerüche. Überraschenderweise begegnete ich bei diesem Rundgang den Erinnerungen an die Kindheit fast in einer intimeren Weise als je zuvor. Das Klavier, an dem ich viele Stunden gesessen hatte, stand nicht mehr da. Umso deutlicher sah ich es.

Und dann gab es während dieses Rundgangs einen überraschenden, ganz neuen Augenblick: Nach einiger Zeit begannen sich die Wände, der Fußboden, das ganze Mauerwerk langsam von meiner Familiengeschichte zu lösen. Ich sah dieses Haus auf eine Weise, in der ich es noch nie wahrgenommen hatte – ohne meine Familiengeschichte. Als hätte bisher meine Geschichte meinen Blick auf dieses Haus, so wie es ist, völlig verstellt. Die Holztreppe ist auch für sich eine wunderschöne alte Treppe. Die alten, abgenutzten Holzfenster hatten den Charme von Dingen, deren Zeit abgelaufen ist. Dieser plötzliche neue Blick war, als würde ich das Haus in meiner Wahrnehmung freigeben – frei von der Welt meiner Erinnerungen, frei, um etwas Neues zu werden.

¬ IST ES MÖGLICH, SICH IN ETWAS NICHT BENENNBAREM ZUHAUSE ZU FÜHLEN? ¬

Auf Retreat

Ich finde es immer schwer, mit Menschen, die selbst nicht meditieren, über Meditation zu sprechen. Was will man sagen, ohne dass das Gegenüber irgendwann beginnt, mit den Augen zu rollen? Noch schwieriger ist es, den richtigen Ton zu finden, wenn man von langen Retreats erzählt, bei denen man für Tage, manchmal für Wochen, nicht viel anderes macht, als zu sitzen und zu schweigen. Wenn man versucht zu beschreiben, dass es da so etwas wie ein tiefes Nach-Hause-Kommen gibt, stellt sich natürlich sofort die Frage: Wohin, in was komme ich da nach Hause? Ich finde darauf nie eine zufriedenstellende Antwort. Ist es möglich, sich in etwas nicht Benennbarem zuhause zu fühlen? Man will ja nicht unbedingt den Eindruck eines esoterischen Spinners hinterlassen. Oder vielleicht ist das auch okay?

»Ankommen in etwas Unbegrenztem, Trennung nicht mehr als Trennung wahrzunehmen«, das klingt alles etwas seltsam. Und doch, wenn man für Tage, vielleicht für Wochen alles andere einmal einfach sein lässt, dreht sich etwas in der Wahrnehmung der Welt. Etwas Heiliges wird sichtbar. Ich kann nicht sagen, was es ist, nur dass mir das Wort »heilig« dafür völlig angebracht erscheint. Ironischerweise fühlt sich, obwohl man eigentlich auf »Rückzug«, auf »Retreat« ist, die Welt viel näher an, als man sie sonst kennt. Die Welt zeigt sich von einer anderen Seite.

Globale Intimität

Ich kannte Wanta Jampijinpa nicht. Er lebt in der Tanami Wüste im Norden Australiens. In einem Online-Event im Rahmen unseres One-World-in-Dialogue-Projektes hatten wir zwanzig Aktivisten, Denker und Vertreter unterschiedlicher Kulturen zu einem öffentlichen weltweiten Internet-Gespräch geladen. Da saß ich nun in unserem Studio in Frankfurt und Wanta erzählte uns von seiner Kultur, von den australischen Aborigines, von seinem Land, von der Wüste. Direkt nach ihm sprach der mongolische Sozialaktivist Enghebatu Togochog über die Kultur der Halbnomaden Zentralasiens, nach ihm Professor Wael Farouq über seine Erfahrungen seit dem Arabischen Frühling in Kairo. Was ich in der Vorbereitung dieser globalen Webcasts so nicht erwartet hatte – wir kamen uns in diesen Gesprächen wirklich nahe. Zwischen uns entstand – ausgespannt über den ganzen Globus, zwischen all diesen Kulturen – ein dichtes Beziehungsfeld. Auch das war eine Erfahrung, die man nicht vergisst.

Noch während wir miteinander sprachen, stellte ich mir die Frage, ob es möglich ist, mit solchen Live-Gesprächen lebendige, globale Netzwerke zu bilden, echte Beziehungsräume, in denen wir uns in kleinen Gesprächsrunden global begegnen. Solche lebenden Räume zwischen den Kulturen zu entwickeln und zu halten, braucht ein hohes Maß an Achtsamkeit, Sorgfalt und Pflege. Aber seit diesem Gespräch mit Wanta Jampijinpa und Enghebatu Togochog weiß ich, dass es möglich ist. Wir können uns heute auf diese Weise weltweit neu begegnen.

Im Dorf

In unserem kleinen Dorf am Rande von Frankfurt gibt es ein hervorragendes Wirtshaus. Als die jetzige Besitzerin es vor einigen Jahren übernahm, veränderte sich das Dorf. Aus einem heruntergekommenen, wenig besuchten Lokal wurde fast so etwas wie ein lebendiges Herz des Ortes. Menschen, die sich sonst nie sahen, vielleicht sogar aus dem Weg gingen, begegnen sich hier. Ich habe das Dörfliche lieben gelernt. Es ist die Überschaubarkeit, die das Dorf zum Dorf macht. Auf einmal kippt ein anonymes Nebeneinander in ein Geflecht gemeinsamer Beziehungen. Unser Bioladen hier im Dorf wird dann zu einer dörflichen Institution. Hier kauft man nicht nur Gemüse. Im Laden werden Beziehungen gepflegt.

Gerade vor einigen Tagen wollte ich noch Brot im Laden kaufen. Allerdings traf ich dort eine befreundete Künstlerin aus dem Dorf, mit der mich ein gemeinsames Interesse an dem derzeit wieder sehr umstrittenen Philosophen Martin Heidegger verbindet. Sie kam gerade aus Japan zurück, wo sie ihre Arbeiten ausgestellt hatte. Nach einer halben Stunde Gespräch über Japan und unser gemeinsames Leiden am Menschen Martin Heidegger kaufte ich dann doch noch mein Brot.

Author:
Dr. Thomas Steininger
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