Moralische Kreativität

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Kolumne
Publiziert am:

April 17, 2019

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Ausgabe 22 / 2019:
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April 2019
Soziale Achtsamkeit
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Wenn wir uns die gegenwärtigen Entwicklungskrisen der Menschheit vor Augen halten, gibt es verschiedene Perspektiven und Dimensionen ihrer Betrachtung. Ich mochte immer am meisten jene relativ gelassene, die ich einst von Rudolf Bahro übernahm: Die gegenwärtige Klimakrise ist letztlich eine spirituelle Krise, d. h. eine Herausforderung und Chance, dass größere Teile der Menschheit ein umfassenderes Bewusstsein und eine umfassendere Liebesfähigkeit entwickeln – denn anders, allein mit naturwissenschaftlich- technischen und sozialen Versuchen, werden die Umweltprobleme nicht lösbar sein.

Aus dieser Perspektive gibt es durchaus hoffnungsvolle Entwicklungen. Viele Menschen ahnen inzwischen, dass eine neue, nachhaltige Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft nicht nur aus ökologischen und seelischen Gründen notwendig, sondern aufgrund des materiell-technischen Reichtums moderner Gesellschaften an sich auch möglich ist. Und doch, schaut man sich die aktuellen Geschehnisse in Politik und Medien an, befällt einen Zweifel, ob dies wirklich erreicht werden kann.

So entsteht allmählich auch in der Nachhaltigkeitsforschung die Frage, ob der diese Transformationen bisher behindernde Mangel vielleicht auf einer ganz anderen Ebene als der bisher in üblicher Zukunftsund Nachhaltigkeitsforschung thematisierten Fragen liegt. In dieser Richtung erstaunlich waren einige Passagen im Ende 2018 erschienenen Buch »Die große Transformation« von Uwe Schneidewind, Chef des Wuppertal-Instituts: »Im Kern ist nachhaltige Entwicklung eine ›moralische Revolution‹.«

Um zu verstehen, dass solch eine »moralische Revolution« mehr umfasst als der heute meist unter »Moral« verstandene erhobene Zeigefinger, könnte man an Max Webers Schrift »Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus« anknüpfen. Darin zeigte er, inwiefern sich der moderne Kapitalismus bzw. die moderne Industriegesellschaft letztlich nicht aufgrund neuer Techniken und Technologien (denn viele davon gab es bereits früher auch in China oder Griechenland) durchsetzte, sondern aufgrund einer erst in Westeuropa herausgebildeten Tiefenmotivationskraft, dem »Geist der protestantischen Ethik«.

Mit »kreativer Moral« meine ich Moral als aktiven und positiven Sinn- und Seinsbezug des Menschen.

Doch wie, mit welchen Begriffen, lässt sich die für eine nachhaltige irdische Zukunft wünschenswerte, nötige und wirkungsmächtige Tiefenmotivation denken? Wenn es damals bei Max Weber noch um die Durchsetzung einer »protestantischen Kapital- und Arbeitsmoral« ging, so geht es heute um etwas ganz anderes: um die Herausbildung und Ermächtigung einer neuen Dimension und vielfältigen Entfaltung menschlicher Kreativität, welche potenziell dazu in der Lage ist, aus all dem materiell-technischen Reichtum der Moderne ästhetisch schöne, gesunde und ökologische Designs des Lebens und Arbeitens, des nicht mehr primär materiellen, sondern stattdessen menschlichen Wachstums und Glücks zu gestalten.

Mangels eines anderen modern geeigneten Begriffs dafür entstand vor einiger Zeit in mir der Begriff »moralische Kreativität « – in Anlehnung an Abraham Maslows Gedanken von einer »primären Kreativität« und an Hermann Lotzes Philosophie der »kreativen Liebe« als Essenz aller Evolution. Den Begriff der Moral unterscheide ich dabei aber von einem Moralverständnis als bloße gesellschaftliche Übereinkunft; und ebenso von einem nur theoretischen Verständnis von Ethik als reflektierter Moral. Mit »kreativer Moral« meine ich vielmehr Moral als aktiven und positiven Sinn- und Seinsbezug des Menschen, welcher aus einer wie auch immer gedachten und aktivierten Verbundenheit mit dem Ganzen (Universum, Evolution, Gott etc.) erwächst und den Menschen befähigt, seine »Ego«-Ängste und -Verhaftungen zu transzendieren und starke »primäre« Kreativität für die Bewahrung und Entwicklung möglichst aller Lebewesen zu entfalten.

Ich glaube, nicht wenige Menschen kennen solche wundervollen Momente, in denen das Universum in uns sein Lid aufschlägt, uns anlächelt, und dabei wie nebenbei ganz neue Ideen und Initiativen »offenbart«. Aber um damit in neuer, nicht-religiöser, nicht-ideologischer, aber auch nicht-reduktionistischer Weise umgehen und kosmisch mitspielen zu können, braucht es neue, transmoderne Kontexte und Begriffe. Vielleicht kann uns dieser meines Erachtens sowohl sehr freie, als auch sehr schöne Begriff von »moralischer Kreativität« dabei unterstützen, uns in diese evolutionäre Dynamik zu begeben, und uns innerlich und äußerlich ko-kreativ ermutigen.

Author:
Mike Hosang
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