Muster der Evolution

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Interview
Published On:

July 21, 2016

Featuring:
Helmut Leitner
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Ausgabe 11 / 2016:
|
July 2016
Lebendigkeit
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Auf dem Weg zu einer Lebendigkeitswissenschaft

Es gibt Muster des Lebendigen, die unser Verständnis und die Gestaltung von Systemen erweitern können. Das ist derGrundgedanke der Musterforschung, die Helmut Leitner mitentwickelt hat.

 

evolve: Sie arbeiten mit dem Ansatz des US-amerikanischen Architektur-Theoretikers Christopher Alexander, der eine »Lebendigkeitswissenschaft« formuliert hat.Diese Wissenschaft hat den Anspruch, ein eigenes Verständnis von Lebendigkeitzu entwickeln. Was ist für Sie hier mit Lebendigkeit gemeint?

Helmut Leitner: Wirhaben in der deutschen Sprache einen privilegierten Zugang zu dem Begriff derLebendigkeit, weil wir ganz natürlich von einem lebendigen Dialog, einerlebendigen Stadt oder einer lebendigen Gemeinschaft sprechen können; imEnglischen ist das so nicht möglich. Christopher Alexander, der aus der Architekturkommt, also Gestalter ist, hat eine Theorie der Gestaltungsprozesse erarbeitet,wobei die Lebendigkeit als ein Phänomen aufgetaucht ist – als eine Qualität,die er zunächst noch gar nicht benennen konnte, die aber aus seiner Sicht jedequalitätsvolle Gestaltung bestimmt. Damit sind Gestaltungen gemeint, die dasLeben unterstützen und fördern. Eine Stadt zum Beispiel ist aus seiner Sichtkein Artefakt, das für sich selbst steht oder dominiert, sondern die Stadt sollte für die Menschen da sein und nicht – umgekehrt – die Menschen für die Stadt. In diesem Sinne geht es Christopher Alexander zunächst um einelebensunterstützende, lebensförderliche, den Bedürfnissen der Menschen entgegenkommende Architektur. Die lebensunterstützende Architektur der Stadt unddie Lebensprozesse der Menschen bilden gemeinsam ein lebendiges System. Menschen, die von ihm inspiriert wurden, haben diesen Denkansatz in anderegestalterische Bereiche übertragen, zum Beispiel in die Pädagogik, im Sinneeines lebendigen Unterrichts. Oder in die Dialog-Theorie, wo William Isaacs Muster im Dialog beschreibt, die einen lebendigen Dialog fördern.

e: Sie bezeichnen Ihre Lebendigkeitswissenschaft auch als Mustertheorie oder Musterforschung. Was haben diese Muster mit Lebendigkeit zu tun?

HL: Alexander hat eine Textform gefunden, mit der man Gestaltungswissen sehr gut vermitteln kann. Er sprichtvon sogenannten Musterbeschreibungen oder Gestaltungsmustern, die er in derFolge zu Mustersprachen kombiniert. Man kann sich das wie einen Werkzeugkastenfür Gestalter vorstellen. Eine Mustersprache für die Architektur wäre einRepertoire an Handlungsmöglichkeiten und Gestaltungsideen, mit denen manbeispielsweise eine Stadt, ein Haus oder viele andere Dinge bauen kann. So wieman mit den Worten einer Sprache unzählige Geschichten erzählen kann, so kannman aus Gestaltungsmustern eine unendliche Zahl von Gestaltungen erzeugen.

Das Denken in Organismen oder Ökosystemen ist grundlegend für eine Lebendigkeitswissenschaft.

e: Der Kern von Lebendigkeit im menschlichen Kontext ist, in gewissem Sinne, dassetwas Unvorhersehbares und Einmaliges entsteht. Das ist etwas, das mit traditionellen naturwissenschaftlichen Methoden, die sich an der Wiederholbarkeit von Experimenten und Verständnis orientieren, schwer fassbarist, weil Lebendigkeit bedeutet, dass wir in einer einzigartigen Situation sind, die wie keine andere ist. Gleichzeitig gibt es aber auch Muster, die einen universellen Charakter haben und die man in einer einmaligen Situationzusammenstellen kann, um Lebendigkeit zu ermöglichen. Trifft das die Idee Ihrer Musterforschung?

HL: Ja, es geht um denkreativen Prozess, der das Neue schrittweise hervorbringt. Man kann auch sagen:Es geht um ein evolutionäres Geschehen. Und so, wie in der biologischenEvolution Mutationsschritte stattfinden, die nicht vorhergesehen werden können,ist es zum Beispiel auch in unserem Gespräch völlig unvorhersehbar, was wir inder nächsten Minute denken oder sagen werden. Das ist eine Situation, die dasmechanistische Denken der Naturwissenschaft nicht ergreifen kann. Eswiderspricht nicht den Naturgesetzen, aber den Dialog, den wir jetzt führen,kann ein Naturwissenschaftler mit seinen Theorien nicht erfassen, weil nichtstreng kausal vorherbestimmt ist, was wir reden werden – sogar in diesemeinfachen Prozess eines Zweiergesprächs, in dem wir jetzt sind, ist diesvollkommen offen.

e: Können Sie beschreiben, wie Sie Ihre Mustertheorie auf diesen­ Dialog anwenden würden?

HL: Ich bin kein Dialog-Experte, aber ich würde damit beginnen, dass in der GesprächsführungMuster existieren, die die Lebendigkeit des Dialogs fördern. Ein grundlegendes Muster des Dialogs, das auch William Isaacs benennt, ist das Muster »containerof dialogue« oder Dialograhmen, das heißt, viele gelingende Dialoge haben einen besonderen räumlichen, zeitlichen, organisatorischen oder sozialen Rahmen.Also, unser Gespräch findet nicht irgendwo beiläufig statt, sondern im Rahmeneines Interviews, das gedruckt werden soll, und das uns herausfordert, unserBestes zu geben. Dadurch wird dieser Dialog verändert. In anderen Situationenwird dieser Dialograhmen so gestaltet, dass man einen besonderen Ort wählt,beispielsweise eine Almhütte in der Abgeschiedenheit der Natur. Dieser Dialograhmen ist dann etwas Besonderes und Einzigartiges, was die Tiefe desGesprächs unterstützt und das Überschreiten persönlicher Grenzen ermöglicht oder herausfordert. Ein weiteres Muster wäre zum Beispiel eine starke Frage, die den Dialog in Gang setzt und als roten Faden durchzieht. Es könnte auch ein Thema sein, das über dem Dialog steht, das uns bewegt, und das wichtig ist fürunser beider Leben oder das Leben vieler Menschen. Das Thema, dem sich derDialog widmet, ist fast so etwas wie ein­Organ dieses Ganzen. Dieses Denken inOrganismen oder Ökosystemen ist grundlegend für eine Lebendigkeitswissenschaft– so kann man einen Dialog wie auch eine Stadt betrachten.

e: Umsolche Fragen zu beantworten, haben Sie ein Karten-Set entwickelt, das aus 64Konzepten besteht, die zum Beispiel »Ganzheit«, »Starkes Zentrum«, »Kontrast«oder »Differenz«, »Schritt für Schritt«, »Neues aus dem Vorhandenen«, oder»Spontaner Raum« heißen. Wie arbeiten Sie mit diesen Konzepten?

HL: Diese64 Konzepte sind der Versuch, die Grundmuster, die Lebendigkeit ermöglichen,rational zu erfassen. Wir haben ein intuitives Gefühl für Lebendigkeit und wirkönnen diesem Gefühl auch nachspüren und auf den Grund gehen. Wir könnenherausfinden, was der konkreten Lebendigkeit zugrunde liegt und beginnen, esrational nachzuvollziehen. In dieser Reibung zwischen Intuition undRationalität entstehen besondere Chancen des Lernens und der Weiterentwicklung.

Jedes der Konzepte erzeugt eine Blickrichtung oder Perspektive auf das System. EineKarte heißt »Rechtes Maß«, eine Idee, die schon in der berühmten Nikomachischen Ethik des Aristoteles glänzt. Und wenn wir unsere heutige Gesellschaftbetrachten, können wir sehen, dass uns dieses Rechte Maß verloren gegangen ist,was auch die Lebendigkeit unserer Gesellschaft beeinträchtigt. Diese Einsichtkönnen wir dann in Verbindung mit anderen Konzepten vertiefen und Lösungsmöglichkeitenfinden. So kann man mit jedem dieser Muster jedes System, jeden Organismusdaraufhin untersuchen, wo die Lebendigkeit eingeengt oder blockiert wird undwie man sie wieder fördern oder zum Fließen bringen kann.

In der Natur sehen wir eine unbewusste Kreativität, die Organismen variiert und die Vielzahl der Pflanzen und Tiere hervorbringt. Mit dem Menschen tritt einWesen ins Leben, das diesen Prozess zunehmend bewusst gestaltet. Und »wir sind alle Gestalter« und gestalten unsere Beziehungen, unsere Familien, unsereArbeitsverhältnisse, unsere Organisationen und damit auch den Organismus unserer Gesellschaft. Wie bewusst wir uns dabei des Wertes der möglichen und anzustrebenden »Lebendigkeit« sind – das wird unsere Zukunft bestimmen.

Das Gespräch führte Thomas Steininger.

 

Author:
Dr. Thomas Steininger
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