Mystik des Herzens

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Interview
Publiziert am:

January 16, 2017

Mit:
Pir Zia Inayat Khan
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AUSGABE:
Ausgabe 13 / 2017:
|
January 2017
Liebe in Zeiten von Trump
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In der Gegenwart des Geliebten

Pir Zia Inayat Khan schöpft aus der reichen Tradition der islamischen Mystik des Sufismus, in der die Öffnung und Gewahrwerdung des Herzens eine zentrale Rolle spielt. Wir sprachen mit ihm über eine Mystik des Herzens.

evolve: Der Sufismus wird oft die mystische Tradition des Herzens genannt. Was ist das Herz? Welche Rolle spielt das Herz in der Spiritualität des Sufismus?

Pir Zia Inayat Khan: Das Herz ist das erste Organ, das sich im Embryo bildet. Alle anderen Organe entstehen aus ihm. Zusammen mit dem Rhythmus unseres Atems ist der Rhythmus unseres Herzschlags die innere Musik unseres körperlichen Lebens. Das Herz ist in unserem Körper das wichtigste Instrument des Fühlens. Man fühlt, wie es sich weitet, wenn man glücklich ist, und wie es sich zusammenzieht, wenn man Schmerz erleidet. Bewusstheit nährt das Herz. Gegenwärtigkeit ist wie ein frischer Regenschauer: Wenn er fehlt, schrumpelt das Herz zusammen wie eine vertrocknete Wurzel; wenn er fällt, kann die Herzwurzel ihre Blätter entfalten.

e: Was sagen die Lehren des Sufismus über die spirituelle Entwicklungsmöglichkeit des Herzens?

PZ: Wir können unser Herz entwickeln, indem wir uns in der Achtsamkeit des Herzens üben. Das geschieht durch die Beobachtung und Vertiefung unseres Atems und indem wir unseren Brustraum weiten. Das Herz entwickelt sich auch, wenn wir uns in Respekt, Verständnis, Mitgefühl und dem Gefühl innerer Einheit mit anderen Menschen üben.

e: Welche Bedeutung und welchen Sinn hat die Liebe im Sufismus?

PZ: Liebe ist die große bewegende Kraft, die aller Schöpfung zugrunde liegt. Der Prophet Mohammed übermittelte folgende Worte von Gott: »Ich war ein verborgener Schatz, und ich wollte erkannt werden, so erschuf ich die Welt, damit ich erkannt werde.« Durch Liebe sind die Vielen aus dem Einen hervorgegangen und am Ende wird die Liebe die Vielen wieder zum Einen zurückführen. Die Liebe entfaltet ihr Geheimnis zwischen dem Ursprung und der Bestimmung.

e: Welche Bedeutung hat die Liebe in unserer Zeit, in der es eine Zunahme der Spaltung und des Hasses zu geben scheint, wie sie zum Beispiel bei der Entstehung nationalistischer Tendenzen in Europa oder der Wahl von Donald Trump zu erkennen sind?

PZ: Diese Welt ist eine Schule der Liebe, in der wir alle unterrichtet werden. Unsere Aufgabe ist es, von Klasse zu Klasse weiterzugehen und auf jeder Stufe zu lernen, wie wir tiefer, weiter, ehrlicher lieben können. Lektionen, die wir nicht lernen, müssen wir wiederholen. Wir werden geprüft. Hass ist Liebe, die eingeschnürt und verdreht wurde. Natürlich kann Hass nicht durch Hass aufgelöst werden, das muss durch die Liebe geschehen. Doch die Liebe muss nicht alles hinnehmen. Die Liebe fordert von uns, dass wir uns für das Wohl des Großen Ganzen einsetzen. Die Liebe ist stark und besitzt moralischen Mut. Gleichzeitig bleibt sie frei von jeglicher Böswilligkeit.

e: Was können spirituell Praktizierende tun oder entwickeln, damit sie in dieser Welt zu einer Kraft der Liebe werden?

PZ: Spirituell Praktizierende können ihr Herz durch spirituelle Übungen stärken und wach halten. Sie können ihr Leben in Übereinstimmung mit dem Wissen ihres Herzens führen. Sie können sich mit anderen Praktizierenden in Gemeinschaften zusammentun, um sich an diese Aufgabe zu erinnern. Und sie können sich mit allen Menschen zusammentun, die guten Willens sind, und mit ihnen gemeinsam Lebensweisen unterstützen und verteidigen, die dem Großen Ganzen dienen.

e: Unterscheiden Sie unterschiedliche Formen von Liebe, zum Beispiel spirituelle Liebe, romantische Liebe in menschlichen Beziehungen, kreative Liebe zu einer Berufung, die Liebe zwischen Schüler und Lehrer usw.? Was ist deren Bedeutung und wie stehen sie miteinander in Zusammenhang?

PZ: Shaykh al-Akbar sagte: »Es ist Gott, den jeder Liebende in dem liebt, was er liebt.« Liebe fühlt sich von Schönheit angezogen. Es gibt viele Arten von Schönheit. Zunächst fühlt man sich vielleicht am meisten von körperlicher Schönheit angezogen; später zieht es einen zu intellektueller Schönheit; danach ist es moralische Schönheit, die einen bewegt; dann geht man darüber hinaus und wird bezaubert von spiritueller Schönheit; am Ende erwacht man vielleicht zu göttlicher Schönheit. Diese Offenbarungen sind wie die Linie des Horizonts: Je mehr du vorwärts schreitest, desto mehr öffnet er sich und wird weiter und weiter.

e: In den modernen westlichen Kulturen wird Liebe oft vor allem im Zusammenhang mit Partnerschaft und persönlichen Beziehungen gesehen. Welche Bedeutung hat diese Art von Liebe?

PZ: Je größer das Herz wird, desto mehr kann es umfassen. Es kann sogar das Absolute umfassen. In einer Heiligen Tradition sagt Gott: »Ich bin in keinem Ding enthalten, aber ich bin im Herzen dessen, der aufrichtig betet und mich liebt.« Im menschlichen Bereich ziehen sich Menschen an, die ähnliche Neigungen haben und durch das Schicksal miteinander verbunden sind. Die letztendliche Bestimmung aller Wesen ist es, mit Allen und Allem in Gott verbunden zu sein. Mein Großvater sagte: »Wer die Vorstellung von Einheit nicht in sich aufnehmen kann, wird eines Tages von der Einheit aufgenommen werden.«

¬Diese Welt ist eine Schule der Liebe. ¬

e: Welche Rolle spielt für Sie die Liebe zur Welt?

PZ: Shaykha Rabi’a Adawiya sagte, dass sie zweierlei Liebe für Gott empfindet, eine leidenschaftliche und eine, die würdevoll ist. Bei der einen rief sie allein Gottes Namen an, und alles andere war ausgeschlossen. Bei der anderen umfasste Gott alles in Herrlichkeit. Im Sufismus bedeutet fana, sich in Gott aufzulösen und nichts zu kennen, außer der Einheit Gottes. Baqa bedeutet, zu sich selbst und der Welt mit all ihren Selbstheiten zurückzukehren und sich jetzt bewusst zu sein, dass Gott das wirkliche Sein in Allem ist. Gottes Liebe hat diese Welt hervorgebracht. In baqa nimmt der Mystiker Anteil daran und erkennt die Selbstenthüllung Gottes, die sich in jedem Augenblick von Neuem vollzieht.

e: Welche Aufgabe hat der Verstand im mystischen Leben? Hilft uns Rationalität dabei zu lieben oder entfernt sie uns von der Liebe?

PZ: Wir sind mit Herz und Haupt ausgestattet. Wenn das Herz dem Haupt dient, geht alles schief. Das Leben wird reduziert auf eine Abfolge kalter Berechnungen, die letztendlich nirgendwohin führen. Wenn dagegen das Haupt dem Herzen dient, übernimmt die Inspiration die Führung und der Verstand folgt und setzt den Plan der Liebe in die Praxis um.

e: Auf die eine oder andere Weise ist Liebe der Kern jeder Religion. Wie kann diese gemeinsame Erkenntnis dazu beitragen, eine tiefere Grundlage für den interreligiösen Dialog der Weltreligionen zu schaffen?

PZ: Liebe ist der innerste Kern aller Religionen, weil sie der innerste Kern allen Lebens ist. Aus der ungeteilten Liebe fließen alle Tugenden, und aus der zerschmetterten und entstellten Liebe entstehen alle Laster. Rumi sagt, dass am Tag des Jüngsten Gerichts die Befolgung der religiösen Gebote auf einer Waage platziert und ihr Wert geschätzt wird. Und dann wird die Liebe hereingebracht werden, und sie wird sich als zu groß für die Waage erweisen. Somit ist die Liebe das Allerwichtigste. Auf die grundlegende Bedeutung der Liebe können sich alle Religionen einigen.

e: Gibt es im Sufismus religiöse Zeremonien, mit denen die Sufis ihre Liebe feiern und zum Ausdruck bringen?

PZ: Die wesentlichste Sufi-Praxis ist zikr, das bedeutet Erinnerung. Sie wird mit einer schwingenden Bewegung oder still vollzogen, mit Stimme oder mithilfe des Atems. Es ist eine Handlung, bei der Zeugnis von der Gegenwart des Geliebten abgelegt wird, der Präsenz der Einen. Wenn diese Übung wirklich lebendig ist, dauert sie in Stille fortwährend und in allen Situationen an und verkündigt ohne Unterlass die Gegenwart des FREUNDES.

Das Interview führte Nadja Rosmann.

Author:
Dr. Nadja Rosmann
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