Neue Deutsche

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Essay
Publiziert am:

July 18, 2019

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Ausgabe 23 / 2019:
|
July 2019
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Warum manche Migranten zeitgemäß deutscher sind als Nationalisten

Der Begriff der Nationalität wird in der aktuellen Debatte gern von rechten Populisten benutzt, um auf die notwendige Bewahrung deutscher Tradition hinzuweisen. Vielleicht bleiben dabei tiefere Merkmale eben dieser Tradition unberücksichtigt, die heute auch von Migranten aufgegriffen und entwickelt werden.

Es ist so eine Sache mit dem »deutschen Wesen«. An ihm, so wünschte sich noch Kaiser Wilhelm II., möge »die Welt genesen«. Ein angesichts der jüngeren Geschichte des Landes makaber anmutender Wunsch, hat doch Deutschland bis heute vor allem damit zu tun, seine eigene Genesung abzuschließen. Doch immerhin kann man sagen, dass das deutsche Wesen, also die kollektive Seele des Landes, heute schon sehr andere Ausdrucksformen entwickelt hat als zu Wilhelminischen Zeiten.

Folgt man dem französischen Philosophen Ernest Renant, dem deutschen Visionär Rudolf Steiner oder dem indischen Denker Sri Aurobindo, dann entwickelt ein Land, so wie ein Einzelner, eine evolvierende Kernidentität, die im Laufe des Lebens verschiedene Formen annehmen kann. Es scheint aber so, dass unsere Selbstwahrnehmung den Entwicklungen unserer Persönlichkeit – oder unseres Landes – nicht immer zeitgleich folgen kann. Würde zum Beispiel ein 60-jähriger Zeitgenosse von seinen Mitmenschen verlangen, ihn so zu behandeln, als ob er 40 Jahre alt sei, da nur sein damaliges Aussehen und Verhalten seine »wahre Identität« verkörpere, würde ihm seine Umgebung zu Recht mit Spott begegnen. Doch eben diese Realitäts- oder Gegenwartsverleugnung legen Repräsentanten des rechtspopulistischen Lagers an den Tag. Sie propagieren ein christlich-abendländisches Deutschland weißer Stämme, also ein Deutschland vergangener Jahrhunderte.

Die deutsche Medienkultur und Parteienlandschaft lassen heute den Schluss zu, dass ein eindimensionales, völkisches Selbstund Kulturverständnis der Vergangenheit angehört und nicht mehr den Schwerpunkt der deutschen Gegenwart bildet. Völkische Orientierung gehört zum tribalistischen Denken, ein evolutionshistorisch (vgl. Spiral Dynamics) frühes Kollektivbewusstsein, das in vielen Teilen der Welt durchaus noch sehr vorherrschend ist. Nur eben nicht mehr in Deutschland. Die Ironie liegt darin, dass sich hiesige Neonazis und Altnationale nicht im Klaren darüber sind, wie nahe gerade den von ihnen vehement abgewerteten afrikanischen und arabischen Weltregionen und, zumindest hierzulande, historisch zurückliegenden Denkweisen sie selbst anschauungsmäßig liegen. Tatsächlich jedoch lassen sich heute und hierzulande Anzeichen für ein ethnisch nicht mehr gebundenes, in seiner kollektiven Seele weiterentwickeltes Deutschsein entdecken.

AUSGERECHNET VON SEITEN »KULTURFREMDER« MIGRANTEN KÖNNEN ANREGUNGEN KOMMEN, DIE EIN NEUES VERBINDENDES GANZES BILDEN KÖNNEN.

Das soll allerdings nicht heißen, dass alle diese Mainstream-Deutschen in der ungeteilten Gegenwart leben. Viele sind zum Beispiel noch generationsübergreifend dem Nachkriegstrauma verhaftet, das ihnen aufgrund des perfiden Missbrauchs kollektiver Tugenden den Bezug zu Teilen der deutschen Kernidentität verloren gehen ließ. Sie neigen deshalb dazu, »Deutschsein« vor allem auf rationale Gestaltungskraft wie das Bauen von Autos und Maschinen zu reduzieren, ohne die das Land ebenso kennzeichnende sakrale Musik, poetische Mystik und seelenvolle Romantik zu benennen.

Ein externer Beobachter wie der erwähnte Evolutionsphilosoph und Yogi Sri Aurobindo sieht jedoch bei den Deutschen gerade eine rare Parallelität von spiritueller Geistessehnsucht und rationalem Forschungs- und Gestaltungswillen. Es sei, so Aurobindo, »eine in dieser Form einzigartige seelische Doppelnatur des Objektivierenden und des Subjektiven« (in »Der Zyklus der menschlichen Entwicklung«).

Als Polarität zweier scheinbar gegensätzlicher, sich jedoch in ihrer Entwicklung und Realisierung komplementierenden Qualitäten nimmt sie auch der britische Historiker Peter Watson wahr. Er beschrieb 2010 in einem in Großbritannien viel beachteten 500-Seiten-Opus diesen »Deutschen Genius«: »Das Ausleuchten der inneren Erfahrungswelten ging bei den Deutschen selbst im darwinistischen Zeitalter nie ganz verloren, obwohl der (biologische) Evolutionismus unter deutschen Gelehrten mehr Anklang fand als in irgendeinem anderen Land«, zitiert ihn der Ulmer Philosoph Martin Spura. Sri Aurobindo sieht die Verbindung dieser beiden Seelenteile zwar verborgen, doch zumindest möglich und im Ansatz realisiert.

Und da scheint es so zu sein, dass ausgerechnet von Seiten »kulturfremder« Migranten Anregungen kommen, wie aufgeklärte Rationalität und Mystik ein neues und die beiden Kernqualitäten des Landes verbindendes Ganzes bilden können. Der in Deutschland vielfach geehrte deutsch-iranische Autor und Islamwissenschaftler Navid Kermani »vermag es, auf unangestrengte Weise zu Positionen von Herder (und) Goethe Bezug zu nehmen und sich ebenso kompetent zu Lessing, Kleist, Hölderlin und Kafka zu äußern wie zur islamischen Mystik« (Wikipedia-Eintrag zu »Navid Kermani«). »Die Mystik … könnte sich als eines der Felder erweisen, auf dem Frömmigkeit und Aufklärung, Individuation und Gottergebenheit zusammenfinden, auch in der Kunst«, schreibt Kermani selbst in seinem Buch »Wer ist Wir?«.

Wenn man also die deutsche Geschichte analysiert, lassen sich mehrere Tiefenströmungen finden, die man in ihrer Gesamtschau als »typisch deutsch« definieren kann. Aber es sind eben sich entwickelnde Strömungen und deshalb verfehlt es die heutige Wirklichkeit, Deutschland auf vergangene Kulturbilder wie christliches Abendland und Gesangvereinskultur, und schon gar nicht auf Faktoren wie blonde Haare und weiße Hautfarbe festzuschreiben. Wie im Leben des einzelnen Menschen stehen zu verschiedenen Zeiten unterschiedliche Eigenschaften und Ausdrucksformen im Vordergrund. Sie alle basieren jedoch auf der gleichen seelischen Quelle, unserer Kernidentität.

Über den Schwerpunkt der gegenwärtigen Ausdrucksform Deutschlands zeigen sich viele, wenn auch nicht alle einig. Die meisten Parteien, führende Medien, Kunst und Kultur sowie am objektivsten das deutsche Grundgesetz verweisen auf eine relativ offene und liberale Gesellschaft. Diese Einschätzung deckt sich mit dem repräsentativen Blick aus dem Ausland auf das Land.

Es gilt trotzdem an den auch heute existierenden Schatten Deutschlands zu arbeiten. Zu nennen wären etwa die immer noch ungenügende Entschlossenheit, die ökologische Herausforderung anzugehen oder die andauernden Waffenverkäufe an Despoten und in gewalterfüllte Regionen. Dazu gehört jedoch auch, die Wunden der eigenen Vergangenheit konsequent zu heilen und die sensiblen Teile der eigenen Identität und Geschichte wieder anzunehmen.

Wer Deutscher werden will, gleich ob aus Damaskus, Anatolien oder London kommend, sollte sich mit dieser deutschen Gegenwart und ihren speziellen Qualitäten und Herausforderungen zumindest auseinandersetzen. Das Beispiel Kermani kann dabei zeigen, dass manche durch Migration mitgebrachten Kulturgüter und Erfahrungen heilende Impulse im Aufnahmeland setzen können. Ihre Träger erweisen sich als neue Deutsche, denen eine größere Bedeutung für das Land zukommt als den meisten Altnationalen. So geht Evolution.

Author:
Wolfgang Aurose
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