Neue Orientierung

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Publiziert am:

April 17, 2023

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Ausgabe 38 / 2023
|
April 2023
Unsere Weisheit
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Projekte für eine lebendige Weisheitskultur

Inmitten der zahlreichen Herausforderungen unserer Zeit verbreitet sich die Erkenntnis, dass unsere bisherigen Denk- und Handlungsweisen der globalen Situation nicht mehr gerecht werden. Deshalb sehen kulturelle Vordenker die Notwendigkeit einer neuen Weisheitskultur. Wir stellen zwei Projekte vor, in denen sie vorbereitet, erforscht und vermittelt wird.

Man könnte sagen, wir leben heute in einer Krise des Wissens. Ein Ausdruck davon ist der fast grenzenlose Zugang zu Wissen durch Internet und Algorithmen. ChatGPT als neue Revolution der Wissensgenerierung durch künstliche Intelligenz führt uns das gerade auf einer neuen Ebene vor Augen. Ein anderer Aspekt dieser Krise ist die Tatsache, dass wir trotz des detaillierten Wissens über drohende Katastrophen wie die Erderwärmung und ihre Folgen nicht in ein wirkungsvolles Handeln finden. Angesichts dieser Dynamiken wird die Frage lauter: Was fehlt uns? Und es gibt immer mehr kulturelle Vordenker, die unser Versagen darin sehen, dass das Generieren von mehr Wissen nicht durch das Kultivieren von Weisheit begleitet wird. Deshalb verlieren wir die Orientierung – und vielleicht sogar den Verstand.

Der Pionier und Kritiker der Digitalisierung, Jaron Lanier, sieht die Herausforderung der neuen Möglichkeiten der künstlichen Intelligenz nicht darin, dass eine Art technologisches Wesen die Macht übernimmt, sondern »dass wir einander nicht mehr verstehen oder, wenn Sie so wollen, wahnsinnig werden. Das führt dazu, dass wir nicht mehr mit genügend Verständnis und Eigeninteresse handeln, um zu überleben, und wir im Grunde dadurch sterben, dass wir uns in den Wahnsinn treiben lassen.«

Die Welt zu verstehen, die richtigen Prioritäten im Handeln zu setzen, mit uns selbst, miteinander als Menschen und mit dem Lebendigen aufmerksam und mitfühlend umzugehen – all das sind Qualitäten, von denen die Weisheitsliteratur spricht. Deshalb, so ist der Philosoph Michael Hampe von der ETH Zürich überzeugt, kann sie uns gerade heute wieder erneut Orientierung geben. Gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen hat er das Internetportal METIS für interkulturelle Weisheitsliteratur und Weisheitspraktiken konzipiert, das kürzlich online gegangen ist. Nathan Vanderpool, der das Respond Project leitet, ist der Ansicht, dass Weisheit heute dringend erforderlich ist, um der weit verbreiteten Sinnkrise begegnen zu können. Der Fokus von Respond liegt darauf, eine »Ökologie von Praktiken« zu entwickeln und zu vermitteln, durch die Menschen, Organisationen und letztlich unsere Kultur weiser werden können. Beide Projekte stehen noch ganz am Anfang, zeigen aber, wie relevant die Frage nach der Weisheit heute ist und wie sie von Vordenkern und Netzwerken aufgegriffen wird.

Antwort auf Desorientierung

Michael Hampe hat sich eingehend mit der Geschichte der Philosophie beschäftigt und erklärt, dass es bei kulturellen Neuerungen immer auch zu einer Desorientierung kam, die zu einer Blüte der Weisheitsliteratur führte. In der Achsenzeit um 800 bis 200 vor unserer Zeitrechnung entstanden Großreiche mit neuen kulturellen Kontakten. Eine Reaktion auf die dadurch ausgelöste Desorientierung waren seiner Ansicht nach auch die Weisheitstexte von Laotse, Konfuzius, Buddha, Zarathustra, der biblischen Propheten, des Koran oder Talmud. Eine zweite große Desorientierung entstand durch die Entwicklung des Buchdrucks im 15. Jahrhundert. Plötzlich war es möglich, Informationen in einer nie gekannten Geschwindigkeit an viele zu vermitteln. Menschen suchten Orientierung in den Ideen Martin Luthers und des aufsteigenden Protestantismus oder den Schriften der Mystiker. Heute befinden wir uns, so Hampe, mit dem Internet in einer ähnlichen Situation: »Es war in der Menschheitsgeschichte bisher noch nie möglich, in so kurzer Zeit so viele Menschen mit einer Information, Meinung oder ­Desinformation zu versorgen. Das führt zu einer furchtbaren Desorientierung.« Hampe sieht darin aber auch die Chance, das Internet zu nutzen, um kulturelle Verständigungsprozesse zu unterstützen. Und genau das soll das neue Projekt METIS.

»Weisheit ist kein Substantiv, sondern ein Verb, ein Prozess.«

Die zweisprachige Seite (Englisch/Deutsch) enthält Texte zu Weisheitsthemen, Podcasts mit Kennern verschiedener Weisheitstexte wie dem Tao Te King, dem Ägyptischen Totenbuch oder der Stoa. Es kommen auch Menschen zu Wort, die Weisheitspraktiken leben wie Meditation, Teezeremonie, Bogenschießen oder Sufi-Tänze. Die Podcasts stehen auch als Transkript zur Verfügung und es gibt Zugang zu den originalen Texten. Es gibt ein ABC der Weisheit, wo Stimmen aus verschiedenen Traditionen etwas zu Themen wie Freundschaft, Liebe, Feindschaft, Krieg, Verzweiflung sagen. Hampe, der auch literarisch-philosophische Texte veröffentlicht, betont dabei, dass auch Lesen, Schreiben und literarisches Erzählen zu Weisheitspraktiken werden können, wenn wir sie mit der entsprechenden Aufmerksamkeit beleben. Das Portal sucht den Austausch mit den Nutzerinnen durch Kommentarfunktionen, Essaywettbewerbe und Fotoeinsendungen zu Weisheitsthemen.

Im Dialog der Kulturen

Die Hoffnung des Projekts ist, dass zum Beispiel Schülerinnen und Schüler die leicht verständlich angelegte Webseite für den Philosophieunterricht nutzen und Interessenten sich darauf mit Weisheitstexten vertraut machen können. Der Schwerpunkt beim Konzept der Webseite ist ein interkultureller Zugang, der nicht nur die westliche Philosophie und Literatur umfasst, sondern auch den Koran, die Upanischaden oder die Schriften des Zen-Meisters Dogen behandelt. Für Hampe geht es aber nicht darum, zu einer Art kleinstem gemeinsamen Nenner der Weisheit zu kommen. Dieser interkulturelle Blick ermögliche vielmehr eine gegenseitige Spiegelung von Weisheitsliteratur, die zu einer Verständigung über Lebensorientierung beitragen könne, die nicht konfessionell gebunden ist, aber über eine rein wissenschaftliche Perspektive hinausgeht. »Weil Physik oder Maschinenbau genauso gut in Japan, in Kalifornien und in Peking funktionieren, scheinen wir uns darauf zu verlassen, dass Naturwissenschaft und Technik ein globales Bewusstsein herbeiführen. Aber Naturwissenschaft und Technik führen nicht zu einer Lebensorientierung«, erklärt Hampe. Die Weisheitsliteratur und die darin beschriebenen Praktiken könnten in einer Zeit der Polarisierung jenseits von politischen und konfessionellen Differenzen eine Verständigung und gemeinsame Orientierung über kulturelle Grenzen hinweg ermöglichen.

Dabei ist Hampe davon überzeugt, dass die Einsichten und Praktiken der Traditionen nichts von ihrer Aktualität eingebüßt haben. Für ihn hat Weisheit mit einer bewussten Kultivierung des eigenen Lebens zu tun, und er ist der Ansicht, dass im Zentrum der Weisheitspraktiken aller Kulturen eine Schulung der Aufmerksamkeit steht, die gleichbedeutend ist mit Empathie. Denn, so Hampe: »Je mehr Aufmerksamkeit man auf etwas anwendet, umso wertvoller wird es für einen und umso schwieriger ist es, sich demgegenüber zerstörerisch, verbrauchend oder schädigend zu verhalten.« Orientierung, Aufmerksamkeitsschulung und ethisches Handeln können also durch Weisheitstexte und -praktiken gefördert werden. Deshalb ist Weisheit für Hampe heute so relevant.

Ein endloser Prozess

Das globale Weisheitsnetzwerk »Respond« beruht auf der Einsicht, dass wir uns in einer Metakrise befinden und dass ein Grund dafür in einem Mangel an Weisheit liegt. Respond verbindet Experten aus Forschung und Praxis wie den Kognitionswissenschaftler John Vervaeke, den Bildungsforscher Zak Stein oder die Entwicklungsforscherin Bonnitta Roy, auch evolve-Herausgeber Thomas Steininger ist Teil des Projekts. Das Anliegen des Netzwerks ist es, ein Ökosystem von Praktiken (Ecology of Practices) für die persönliche und systemische Transformation zu entwickeln. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Anregung und Vermittlung unmittelbarer Erfahrung, durch die eine nicht-dogmatische Weisheit für eine viel breitere Bevölkerung zugänglich gemacht werden soll.

Dabei ist es schwierig, Weisheit zu definieren, wie Nathan Vanderpool bemerkt, der das Projekt leitet: »Es gibt bei Respond eine Theorie der Weisheit, die auf bestimmten Prinzipien beruht. Aber jede Definition ist schwierig, weil Weisheit kein Substantiv ist, sondern ein Verb. Es ist ein Prozess, kein Zustand, den man erreicht. Dieser Prozess hört nie auf, denn man kann eine tiefere Einsicht, eine reifere Fürsorge, ein geschickteres Handeln kultivieren. Zudem verändern sich die Welt und die Situationen, in denen wir uns befinden, ständig, weshalb Weisheit vom jeweiligen Kontext abhängig ist.« Diesen Prozess möchte das Respond-Netzwerk erforschen und vermitteln. Die Initiatoren des Projekts, das sich noch in der Konzeptionsphase befindet, trafen sich im letzten Jahr in der Monastic Academy in den USA und in diesem Jahr wird es ein Treffen in Frankreich geben. Bisher liegt der Fokus der Initiative auf Nordamerika und Europa, aber in einem nächsten Schritt sollen auch Experten aus Südamerika, Asien und Afrika einbezogen werden, um einen globalen Weisheitsdialog anzustoßen.


»Je mehr Aufmerksamkeit man auf etwas anwendet, umso wertvoller wird es.«
Im Respond Project wird Weisheit als ein Prozess der Harmonisierung von Sichtweise, Fürsorge und Handeln formuliert, der sich durch die Einstimmung auf gelungene Beziehungen vertieft. Laut Respond formt unsere Sicht die Weise, wie wir die Welt sehen, wie wir sie verstehen, wie wir uns darin orientieren können. Dazu gehören Qualitäten wie Aufmerksamkeit und Einsicht, durch die wir in dem, was ist, präsent sein können. Die Schulung unserer Aufmerksamkeit, die von vielen Weisheitspraktiken unterstützt wird, kann zur Einsicht in die wahre Natur der Dinge führen und uns zum Beispiel vor Augen führen, wie sehr unsere Welt in komplexen Zusammenhängen verflochten ist. Es ist die Hoffnung von Respond, dass sich aus der Einsicht in die Verbundenheit allen Seins eine tiefere Empathie ergibt, eine Fürsorge, ein Mitempfinden. Wir fühlen uns nicht mehr als getrennte Nutzer der Welt, sondern als Mitgestaltende, vielleicht sogar Hüter des Lebendigen. Das führe dann ganz praktisch zu einem anderen, weisen Handeln. Nach Ansicht von Respond ist Weisheit der dynamische Prozess zwischen den drei Elementen Sichtweise, Fürsorge und Handeln: »Die Weltsicht formt unsere Wirklichkeit, lenkt unsere Aufmerksamkeit und führt zur Einsicht. Die Fürsorge nutzt Emotionen, um die Aufmerksamkeit von Moment zu Moment auf Werte zu lenken, die uns wirklich wichtig sind. All dies spielt sich im Handeln ab – dem Lösen komplexer Probleme unter Bedingungen, die oft einzigartig und voller Unsicherheit sind.«

Eine kulturelle Intervention

Respond möchte die im Netzwerk erarbeiteten Prinzipien und Praktiken in verschiedenen Seminarformaten und in der Beratung von Organisationen und Start-ups umsetzen. Eine weitere Idee ist eine neue Form von Podcast, der mehr einer kommunizierenden Gemeinschaft entspricht. Durch die Seminare soll eine Gemeinschaft von Prozessbegleitern entstehen, die ihre eigenen Erfahrungen in der Praxis in unterschiedlichen Kontexten wieder ins Netzwerk geben, so dass es selbst ein lernender Prozess werden kann. »So kann eine Bewegung entstehen, die weise an ihrer eigenen Weiterentwicklung arbeitet«, sagt Nathan Vanderpool. Für ihn ist Respond eine kulturelle Intervention, eine soziale Skulptur im Sinne von Joseph Beuys, »um Weisheit vom Rand der Kultur zurück ins Zentrum zu bringen«.

Wenn Menschen sich individuell an diesem Prozess beteiligen und sich entfalten, trägt es zum Wohlbefinden aller bei, weil wir grundsätzlich miteinander verbunden sind. »Dabei kann nur jeder und jede selbst herausfinden, was ein guter, wahrer und schöner Ausdruck des eigenen Lebens ist«, so Vanderpool. »Deshalb ist eine solche Weisheitskultur von Grund auf anti-ideologisch.«

Respond versteht sich als Teil einer Bewegung zur Förderung einer Weisheitskultur, die sich im individuellen Leben der Menschen manifestiert und in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft eine andere Gestalt annehmen wird. Wie kann eine Bildung oder eine Wirtschaft aussehen, die von Weisheit geleitet wird? Wir alle sind eingeladen, darauf die Antworten zu finden. Weisheitskultur bedeutet aber auch, dass es Institutionen gibt, die weises Handeln unterstützen. Vanderpool erklärt, dass Weisheitspraktiken die Qualität der Mitwirkung der Menschen vertiefen können. Gleichzeitig können aber auch die Systeme, in denen dieses Engagement eingebettet ist, so verändert werden, dass die Kultivierung von Weisheit gefördert wird. Dazu gehört die Offenheit, im jeweiligen Kontext und mit den beteiligten Menschen den je angemessenen Weg zu finden. Gleichzeitig gibt es allgemeine Prinzipien der Weisheitsbildung, die von Projekten wie METIS und Respond und vielen anderen erforscht und angewendet werden, um unser Verständnis von einer zeitgemäßen Weisheit ständig weiterzuentwickeln. Auch wenn solche Initiativen noch am Anfang stehen, zeigen sich darin Impulse und Praktiken einer möglichen Weisheitskultur.

Author:
Mike Kauschke
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