Neues Leben atmen

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Publiziert am:

November 2, 2021

Mit:
Katrien Franken
Paulinho Muzaliwa Josaphat
Kategorien von Anfragen:
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AUSGABE:
Ausgabe 32 / 2021:
|
November 2021
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Atemarbeit mit Flüchtlingen in Afrika

Katrien Franken praktiziert seit vielen Jahren Atemarbeit und bringt diese Bewusstseinspraxis nun auch in das größte Flüchtlingslager Afrikas. Wie kann Atemarbeit Menschen in einer solch herausfordernden Situation unterstützen? Wir sprachen mit Katrien Franken über neue Hoffnung durch ein Lauschen nach innen.

evolve: Wie kamst du auf die Idee, mit Flüchtlingen zu arbeiten?

Katrien Franken: Meine Leidenschaft gilt dem Brückenschlag zwischen den Welten und ich möchte dazu beitragen, Möglichkeiten zur Transformation für Menschen und dadurch auch für die Gesellschaft und die Welt insgesamt zu schaffen. Paulinho Muzaliwa Josaphat, der Gründer vom Unidos Social Center in Uganda, wurde auf meine Arbeit aufmerksam und nahm Kontakt zu mir auf. Ich fühlte mich sofort inspiriert, mehr über seine Geschichte, die Gemeinschaft und das Leben im Lager zu erfahren. Er ist Kongolese, floh 2017 aus seinem Land und kam 2018 als Flüchtling nach Uganda. Er lebt im Nakivale Refugee Camp in Uganda mit bis zu 110.000 Flüchtlingen aus der Demokratischen Republik Kongo, Ruanda, Somalia, Burundi, dem Südsudan und Äthiopien. Das ist eine der größten Flüchtlingssiedlungen der Welt.

Es wird viel humanitäre Hilfe geleistet, um die Grundbedürfnisse der Menschen dort zu befriedigen, was auch dringend notwendig ist. Ich fragte mich aber auch: Warum beschäftigt sich kaum jemand mit dem inneren Zustand der Geflüchteten an solchen Orten? Wie können wir aufrichtig und großzügig innere Einsichten unterstützen, die ein neues Narrativ begünstigen, das die Kultur transformieren und sie für kommende Generationen neu prägen kann? Ich betrachte Körper- und Atemarbeit und innere Wachstumsarbeit als ein Grundbedürfnis. Deshalb wollte ich mit Menschen, die sich in einer solchen Ausnahmesituation befinden, von diesem inneren Ort des Atems aus arbeiten. Es erfordert enormen Mut, sich aus konditionierten Weltanschauungen und Vorstellungen von Zugehörigkeit, stigmatisierter Hoffnungslosigkeit und in sich geschlossenen Machtstrukturen zu befreien. Wenn wir erkennen, dass wir aufgrund von Identitätspolitik, wirtschaftlichen Strukturen und Kolonialisierung nicht mehr uns selbst gehören, wer können wir dann werden? Das wollte ich gemeinsam mit ihnen erforschen.

Meine Leidenschaft gilt dem Brückenschlag zwischen den Welten. 

e: Wie arbeitest du mit den Flüchtlingen?

KF: Es ist eine lebendige, lernende Erkundung und diese Haltung prägt das Grundanliegen des Projekts. Der erste erprobende Prozess dauerte sechs Wochen und vermittelte eine radikale Herangehensweise an den Atem. In den dreistündigen Live-Online-Sitzungen steht die Neugier im Mittelpunkt. Sie schafft offene Räume für reflektierenden Dialog und tiefes Zuhören, erfahrungsorientierte und experimentelle innere Reisen, Klang, Meditation, eingewoben in Bewegung, Gruppenarbeit und Atemübungen, um eine gemeinsame eindrückliche Erfahrung zu schaffen.

Eine der Fragen, mit denen wir arbeiteten, lautete: Was bedeutet Atmen für dich? Es ist eine einfache Frage, aber wenn man sich ihr systemisch öffnet, dann verbirgt sich eine ganze Welt dahinter, die man enträtseln und in die man eintauchen kann. Und ich weiß nicht, wer hier von wem lernt. Ich habe das Gefühl, dass ich von den Teilnehmenden lerne – von ihrer Bereitschaft, ihrer Sensibilität, ihrer Intelligenz und ihrer feinen Wahrnehmung – wenn wir gemeinsam in ein neues und unbekanntes Territorium hineinatmen. 

e: Der Atem ist eine so grundlegende menschliche Aktivität oder Qualität. Alle Menschen atmen. Die Frage, die du stellst, kann also jeder irgendwie beantworten und das löst jede Trennung auf.

KF: Ja, genau. Was bedeutet es für dich, zu atmen? Wir erforschen diese Frage gemeinsam und laden die Intelligenz des ganzen Körpers ein. Was fühlt die Atmung? Was denkt sie? Wie denkt sie? Woher kommt sie? Wie ist sie entstanden? Wie steht sie in Beziehung zu meinem Leben? Wenn ich nicht frei atme, was hält mich davon ab? Auf der Suche nach dem »Wie« des Atmens ist diese Suche auch das Wesen der Inspiration. Der Atem stellt eine Verbindung zum Leben her, zu unserem Urgrund, zur Natur.

e: Wie erleben die Flüchtlinge diese Arbeit mit dem Atem?

KF: Der Prozess ermöglicht die Befreiung von allem, was sie von ihrer Freude, ihrer Kraft, ihrer Verbundenheit, ihrer Vorstellungskraft und ihrer Handlungsfähigkeit fernhält. Die meisten Menschen in der Flüchtlingsgemeinschaft sind immer noch mit negativen Emotionen konfrontiert und durch ihre Erfahrungen und Erlebnisse (Hunger, Krieg, Konflikte, Gewalt, Kinderarbeit) traumatisiert, was wiederum zu körperlichen und geistigen Gesundheitsproblemen, negativen Gefühlen, Traumata, Angst und Unruhe führt. Der Open Up-Prozess hilft ihnen zu lernen, wie sie mit ihrem inneren Zustand umgehen können, und zwar mit Handlungskompetenz und Selbstachtung. Sie machen die Erfahrung, dass sich Stress und negative Gefühle im Herzen auflösen können und der Geist klarer wird. Vergessene Anteile von sich selbst werden wieder erfahrbar und können bewusst losgelassen und verarbeitet werden. So bekommen sie wieder Zugang zu ihrer eigenen Hoffnung, die sie aufgrund der schmerzvollen Erfahrungen in ihrem Leben sowohl in ihren Herkunftsländern als auch im Flüchtlingslager lange aufgegeben hatten. Dadurch wurde auch so etwas wie eine kollektive Hoffnung aktiviert. Einige begannen, kleine Start-ups zu gründen und mit dem wiedergewonnenen Selbstvertrauen das Leben im Flüchtlingslager zu verbessern, indem sie eigene Projekte initiierten. Sie denken jetzt anders über sich selbst, ihre Möglichkeiten und ihre Zukunft.

e: Wie gehst du mit den traumatischen Erinnerungen um, die bei dieser inneren Arbeit bei anderen auftauchen können?

KF: Ich gebe ihnen Raum, so gut ich kann – mit der Einladung, uns gemeinsam für das zu öffnen, was lebendig werden will. Gemeinsam können wir erleben, dass wir nicht allein sind. Dass wir in unseren Herausforderungen gesehen werden, ohne zu urteilen, sodass wir mehr von unserem Menschsein zulassen können. Das geschieht in allen Nuancen. Ich halte oft inne, um wirklich dem Raum zu geben, was gerade hervortreten will, und um darauf achten zu können, wie es zum Ausdruck kommt. Wenn jemand lächelt, kann es durchaus sein, dass innerlich etwas Traumatisches geschieht. Oder wenn jemand sehr energiegeladen und lebendig ist, kann dahinter eine tiefe Erschöpfung stecken. Ich muss also genau hinsehen und hinhören, und darin habe ich Erfahrung, um mich auf Möglichkeiten größerer Ganzheit einzulassen und dabei zu helfen, diese ins Bewusstsein zu bringen.

e: Wie siehst du die Zukunft des Projekts?

KF: Durch Praxisgruppen und Schulungen, in denen Fähigkeiten entwickelt werden können, hoffen wir, Menschen und Organisationen dazu zu inspirieren und zu motivieren, aktive Mitgestaltende und lokale Co-Facilitators für diese Arbeit zu werden. Sie soll für jeden und durch jeden zugänglich werden. Dezentralisiert und regenerativ. Das Projekt ist eine Einladung, der Zukunft der Menschen im Geiste von Ubuntu eine Stimme zu geben: Ich bin, weil du bist. Die Menschen erfahren sich als Ressource, sie sind fähig und in der Lage, eine bessere Zukunft zu schaffen. Das ist eine radikale Investition, beflügelt von der Liebe zur individuellen Verantwortung. Gemeinsam arbeiten wir daran, Möglichkeiten für Jugendliche in Flüchtlingslagern in Kenia, Tansania und der Demokratischen Republik Kongo zu schaffen, die Teil des Bildungsprogramms Open Up Alive Learning werden. Aber das hängt auch von weiteren finanziellen Mitteln ab, die dafür benötigt werden, um die heilende Wirkung der Atemarbeit auch dort zu verbreiten. 

Das Gespräch führten Mike Kauschke und Julia Wenzel.

Author:
Mike Kauschke
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