Nicht-menschliche Schönheit

Our Emotional Participation in the World
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Interview
Published On:

October 23, 2023

Featuring:
Sougwen Chung
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Issue:
Ausgabe 40/2023
|
October 2023
Auf der KIppe
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Ko-kreation mit Robotern

Sougwen Chung, die Künstlerin, mit deren Arbeiten wir diese Ausgabe gestaltet haben, erforscht in ihren künstlerischen Prozessen und Performances die Zusammenarbeit zwischen Mensch und Maschine. Dadurch hat sie einen unmittelbaren Einblick in ein mögliches wechselseitiges Lernen, das uns die KI eröffnet.

evolve: Was war der Impuls dafür, als Künstlerin mit KI-Technologie und Robotern zu arbeiten?

Sougwen Chung: Sowohl in der Kunst als auch in der Forschung geht es darum, durch Handeln zu lernen. Und Impuls ist das richtige Wort – eine Neugierde, ein Bedürfnis, das gestillt werden muss. Ich war neugierig auf den Roboter, seine Allgegenwärtigkeit in der Kultur und den Roboterarm als Symbol. Ein Symbol für die Verdrängung menschlicher Arbeit, eine Maschine, die menschliche Handlungen nachahmt.

Als ich anfing, wollte ich den Roboter als Metapher, aber auch als Material erforschen, um mein Verständnis dafür zu erweitern, was es braucht, um eine »denkende Maschine« zu bauen. Diese Spur des Interesses und Denkens kam 2015 mit der Popularisierung des Begriffs KI zusammen, die durch die Fortschritte im Deep Learning vorangetrieben wurde. Eine der Geschichten, die diesen Bereich prägen und die Technologie in die öffentliche Aufmerksamkeit brachten, war die Geschichte von Lee Sedol und Alpha Go, einem von DeepMind entwickelten Softwareprogramm zum Spielen von WeiChi. Nachdem Lee Sedol, der beste WeiChi-Spieler der Welt, besiegt worden war, sagte er, er sei verblüfft über »die Schönheit eines nicht-menschlichen Zuges«.

Was mich an diesem besonderen Moment interessierte, waren nicht nur die neuartigen und ungewöhnlichen Ergebnisse des Computersystems, sondern auch die Vorstellung, dass ein Meister seines Fachs durch die Interaktion mit einer Maschine einen Moment der Wertschätzung und Schönheit erleben konnte, der über seine ursprüngliche Fähigkeit hinausging – ein Bewusstsein für den Begriff des Nicht-Menschlichen als Quelle der Ehrfurcht.

Und ich denke, dass diese Ehrfurcht im Mittelpunkt der Frage steht, die ich mir sowohl in meiner Arbeit als auch privat stelle: Wo endet die KI und wo beginnen wir? Ich sage gerne, dass es so etwas wie künstliche Intelligenz nicht gibt, weil es keine einzige natürliche Intelligenz gibt. All diese Systeme sind in gewisser Weise Erweiterungen von uns. Und ich muss sagen, dass ich Systeme, den Aufbau von Systemen und ihr Verständnis intellektuell und kreativ zutiefst anregend finde.

»Ein Teil der Schönheit von menschlichen und maschinellen Systemen liegt in ihrer gemeinsamen innewohnenden Fehlbarkeit.«

Das war meine ursprüngliche Absicht bei der Erforschung dieses Systems zum Zeichnen mit Robotergesten. Bei dieser »kollaborativen« Performance auf der Leinwand mit Zeichen war eine der Fragen, die sich daraus ergab, wer was in dieser Zeichnung gemacht hat. Es ist nicht klar, wie man die Urheberschaft der Zeichen unterscheiden kann. Ich fand das eine interessantere Frage im Zusammenhang mit kreativer Erweiterung, mit der Frage, was es bedeutet, mit den Werkzeugen, die wir bauen, zusammenzuarbeiten.

Alle Zeichenoperationen sind Erweiterungen von mir, und unsere Wahrnehmung, dass sie anders sind, ist eine zutiefst menschliche. Wenn wir anfangen zu erkennen, dass das KI-System eigentlich wir in einer anderen Form, in einem anderen Modus der Zeitlichkeit ist, dann bewegen wir uns in Richtung einer Vielzahl von Intelligenzen und Ansätzen von Intelligenz, die wirklich etwas Neues schaffen. Im Gegensatz zu den Vorstellungen von der Singularität und neuartiger Artificial General Intelligence (Künstliche allgemeine Intelligenz), die, so glaube ich, vor allem ein Hirngespinst aus dem Silicon Valley ist.

Schöne Fehler

e: Was haben Sie bei dem Projekt, das Sie ­»Drawing Operations Unit: Generation 1«, kurz »D.O.U.G.« nennen, gelernt?

SC: Im Jahr 2015 zeichneten wir zum ­­ersten Mal vor einem kleinen Publikum in ­New York City. Der Prozess war ziemlich ­simpel – ­keine Lichter, keine Geräusche, nichts, hinter dem man sich verstecken konnte. Nur meine Handflächen, die ­schwitzten, und die neuen Servos des Roboters, die aufheizten. Für das hier waren wir beide nicht geschaffen. Aber es passierte etwas Interessantes, das ich nicht erwartet hatte.

D.O.U.G., in seiner primitiven Form, verfolgte meine Linie nicht perfekt. Während es in der Simulation auf dem Bildschirm pixelgenau war, sah es in der Realität ganz anders aus. Es rutschte und glitt, unterbrach und schwankte, und ich war gezwungen zu reagieren. Daran war nichts makellos. Und doch machten die Fehler die Arbeit irgendwie interessanter. Die Maschine interpretierte meinen Text, aber nicht perfekt. Und ich war gezwungen, darauf zu reagieren. Wir passten uns in Echtzeit aneinander an.

Es zeigte mir, dass unsere Fehler die Arbeit tatsächlich interessanter machten. Und ich erkannte, dass durch die Unvollkommenheit der Maschine unsere Unvollkommenheit zu dem wurde, was an der Interaktion schön war. Und ich war begeistert, denn es führte mich zu der Erkenntnis, dass vielleicht ein Teil der Schönheit von menschlichen und maschinellen Systemen in ihrer gemeinsamen innewohnenden Fehlbarkeit liegt.

»Wo endet die KI und wo beginnen wir?«

Durch diese Arbeit habe ich gelernt, dass wir durch die Annahme von Unvollkommenheit tatsächlich etwas über uns selbst lernen können. Ich habe gelernt, dass die Erforschung der Kunst tatsächlich dazu beitragen kann, die Technologie zu formen, die uns formt. Und es hat mich gelehrt, dass die Kombination von KI und Robotik mit traditionellen Formen der Kreativität – in meinem Fall der Bildenden Kunst – uns helfen kann, ein wenig tiefer darüber nachzudenken, was menschlich und was maschinell ist. Und es hat mich zu der Erkenntnis geführt, dass Zusammenarbeit der Schlüssel ist, um den Raum für beides zu schaffen, während wir uns weiterentwickeln.

Neue Beziehungen

e: Können Sie erklären, wie der Prozess der verschiedenen Versionen der D.O.U.G. für Sie verlaufen ist und wie sich Ihre Zusammenarbeit mit der KI-Technologie dabei erweitert hat?

SC: Seit diesen ersten Experimenten der Nachahmung gab es eine konzeptionell und technisch facettenreiche Entwicklung von MIMICRY (D.O.U.G._1) über MEMORY (D.O.U.G._2) zu COLLECTIVITY (D.O.U.G._3) zu SPECTRALITY (D.O.U.G._4) zu ­ASSEMBLY (D.O.U.G._5). In jeder Generation wurde die Kunstpraxis als eine fortlaufende Auseinandersetzung mit Forschung, Kunst, Performance und Technologie verstanden, aber auch als eine Lebensform, um mit der sich wiederholenden Praxis von Kreativität und Entwicklung zu leben oder sich zu verändern. Es hat bei mir Fragen über die Entwicklung der menschlichen Hand aufgeworfen und ein soziotechnisches Verständnis der Arbeit jenseits von Spekulationen in den Mittelpunkt gerückt, um wieder neue Forschungsfragen zu finden. Die Grundfrage dabei ist: Welche neuen Beziehungsdynamiken entstehen in Zusammenarbeit mit KI-Systemen und Rückkopplungsschleifen zwischen Mensch und Maschine?

Wenn D.O.U.G._1 der Muskel und D.O.U.G._2 das Gehirn war, dann sehe ich D.O.U.G._3 als die Familie. Ich wusste, dass ich diese Idee der Zusammenarbeit zwischen Menschen und Nichtmenschen in großem Maßstab erforschen wollte. Also habe ich zusammen mit meinem Team 20 maßgeschneiderte Roboter entwickelt, die mit mir als Kollektiv arbeiten können. Sie würden als Gruppe arbeiten, und gemeinsam würden wir mit ganz New York City zusammenarbeiten.

Der Stanford-Forscher Fei-Fei Li hat mich sehr inspiriert: »Wenn wir Maschinen das Denken beibringen wollen, müssen wir ihnen zuerst beibringen, wie man sieht.« Dabei musste ich an meine Zeit in New York denken und daran, wie ich von diesen Überwachungskameras in der ganzen Stadt beobachtet wurde. Und ich dachte, es wäre wirklich interessant, wenn ich sie nutzen könnte, um meinen Robotern das Sehen beizubringen. Bei diesem Projekt habe ich also über den Blick der Maschine nachgedacht, und ich begann, das Sehen als mehrdimensional zu betrachten, als Blick von einem bestimmten Standpunkt.

Wir sammelten Videos von öffentlich zugänglichen Kameras im Internet, die Menschen auf dem Bürgersteig, Autos und Taxis auf der Straße und alle Arten von städtischen Bewegungen zeigten. Wir trainierten einen Bildverarbeitungsalgorithmus mit diesen Aufnahmen, der auf einer Technik namens »optischer Fluss« ­basiert, um die kollektive Dichte, Richtung, Verweildauer und Geschwindigkeit der städtischen Bewegungen zu analysieren. Unser System extrahierte diese Zustände aus den Feeds als Positionsdaten und das wurde zur Grundlage, auf der meine Robotereinheiten zeichnen konnten. Statt einer Zusammenarbeit von einem mit einem, haben wir eine Zusammenarbeit von vielen mit vielen geschaffen. Indem wir die Vision von Mensch und Maschine in der Stadt kombinierten, stellten wir uns neu vor, wie man die Dynamik einer Stadt künstlerisch darstellen kann.

Die Grenzen unserer Kreativität

e: Wie erleben Sie den kreativen Prozess der Zusammenarbeit mit KI-Maschinen?

SC: Bei all meinen Experimenten mit D.O.U.G. war jede Performance anders. Und durch die Zusammenarbeit schaffen wir etwas, was keiner von uns allein hätte tun können: Wir erkunden die Grenzen unserer Kreativität, indem wir menschlich und nicht-menschlich parallel arbeiten.

Dabei muss der bewusste Verstand in gewissem Sinne still werden und sich zurückziehen, damit der reaktive, reaktionsfähige und anpassungsfähige Flow-Zustand in den Mittelpunkt rückt und zum Motor wird. In den letzten Jahren habe ich es als eine Möglichkeit betrachtet, die Schwingungen von Angst und Hoffnung in ­Bezug auf die Technologie im selben Raum zu halten. Sie wird zu einer Form der sensorischen Erweiterung und zu einer Forschung in Aktion. Es fordert heraus, was ich in verkörperten Rückkopplungsschleifen mit Computersystemen, Echtzeitdaten und Raum für möglich halte.


»Die Praxis der Dezentrierung des menschlichen Subjekts ist eine Praxis der Öffnung.«

e: Warum ist es Ihrer Meinung nach wichtig, KI-Systeme als nicht-menschliche Kollaborateure zu verstehen?

SC: Die Praxis der Dezentrierung des menschlichen Subjekts ist eine Praxis der Öffnung. Man öffnet sich der Idee des Nicht-Menschlichen, des Anderen als das Menschliche, einer Sichtweise jenseits des eigenen Ichs. Ein relationaler, beziehungsorientierte Modus des Seins.

e: Welche Auswirkungen auf unsere Beziehung zu KI-Systemen hat ihre Fehlerhaftigkeit, die Sie vorher schon angesprochen haben?

SC: Es ist leicht, das Potenzial neuer Technologien zu überschätzen und das Gefühl zu bekommen, dass der technologische Fortschritt unvermeidlich und unfehlbar ist, was zu einer Art Sucht wird. Man kann aber auch den Menschen überschätzen, was zu Hybris und Angst vor dem Unbekannten führt oder der Angst vor allem, was das Paradigma unterbricht oder infrage stellt. Es ist eine verlockende Einbildung, aber sie ist auch brüchig, wenn man so sehr an die menschliche oder technologische Ausnahmestellung glaubt. Mit meiner Arbeit erforsche ich die Vorstellung, dass die Wirklichkeit interessanter ist, dass wir durch die Erkundung unserer eigenen Grenzen und der Grenzen der Technologie hybride, beziehungsorientiere Formen schaffen können, die der Ungewissheit der Zeit, in der wir leben, besser entsprechen. Es sind diese Wendepunkte, die zu Katalysatoren für Kreativität und philosophisches Forschen werden können.

Mit Scilicet, unserem Labor zur Erforschung der menschlichen und nicht-menschlichen Zusammenarbeit, interessieren wir uns sehr für die Rückkopplungsschleife zwischen individuellen, künstlichen und ökologischen Systemen. Wir glauben, dass wir unsere Kriterien für das, was von Menschenhand möglich ist, erforschen und weiterentwickeln können. Und ein Teil dieser Reise besteht darin, die Unvollkommenheit und Fehlbarkeit von Mensch und Maschine anzuerkennen, um das Potenzial beider zu erweitern.

Author:
Mike Kauschke
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