Sichtbar gemachte Energie
Diese Ausgabe von evolve konnten wir mit Arbeiten von Eva Dahn-Rubin gestalten. Wir sprachen mit ihr über die Beweggründe ihrer Kunst.
January 16, 2017
»Verwundbarkeit ist keine Schwäche, keine vorübergehende Hilflosigkeit und nichts, das wir genauso gut vermeiden könnten, Verwundbarkeit ist nichts, wofür oder wogegen wir uns entscheiden können. Verwundbarkeit ist die grundlegende, allgegenwärtige und andauernde Unterströmung unseres natürlichen Zustands.« Diese Zeile beschreibt die Arbeit des Dichters und Philosophen David Whyte in einem Satz. Whyte ist englisch-irischer Abstammung und lebt die meiste Zeit in den USA. In den vergangenen dreißig Jahren hat er eine eigene poetische Sprache entwickelt, eine »Sprache, gegen die man sich nicht verteidigen kann«, wie er selbst sagt. evolve hat mit ihm über die verwandelnde Kraft der Poesie gesprochen.
evolve: Was ist für Sie das Wesen, die Absicht der Poesie?
David Whyte: Eine tiefe Absicht der Poesie ist uralt und zeitlos, etwas, nach dem sich die Menschen seit dem Aufdämmern des Bewusstseins gesehnt haben: dem Leben eine Sprache zu verleihen, die so lebendig ist wie das Leben selbst. Den Akt des Benennens zu überschreiten und zu unterschreiten, der das Leben verringert, es festhält oder in Distanz hält.
Ich schreibe Gedichte seit meinem siebten Lebensjahr, aber als Teenager habe ich den großen französischen MeereszoologenJacques Cousteau über unseren Fernseher segeln sehen und ich entschloss mich, selbst solch ein erstaunliches Leben zu führen. Viele Jahre später kam ich auf den Galapagosinseln an, mit der merkwürdigen Annahme, dass ich durch mein Studium wüsste, wie die Welt beschaffen ist. Diese Illusion verschwand sehr schnell. Und durch Nahtoderfahrungen im Meer und durch die bezaubernde Magie dieser Inseln entwickelte ich langsam die Fähigkeit, so aufmerksam zu sein, dass die Galapagosinseln mich in ihrer eigenen Sprache ansprechen konnten. Und ich erkannte gewissermaßen, dass erst das echte Naturwissenschaft ist und der Kunst des Dichters nahesteht – der Fähigkeit, etwas zu sagen, was jeder fühlt, aber nicht ganz zum Ausdruck bringen kann.
Nach meinen Erfahrungen auf Galapagos kehrte ich zur Poesie zurück, denn ich wollte eine Sprache finden, die präziser als die naturwissenschaftliche Sprache beschreiben kann, wie die Menschen versuchen, in ihrer schwierigen, aber erstaunlichen Welt ihre Zugehörigkeit zu finden. Der naturwissenschaftliche Ansatz versucht zu Recht bei dem, was man sieht, das Ich zu eliminieren. Ich aber wollte eine Sprache finden, die das Ich einschließt, und zwar so, dass das Ich sich wandelt und erweitert in eine überraschende dialogische Identität. Mich interessierte die Frage, wie das Ich umso tiefer wird, je aufmerksamer man ist.
¬ Wir sind gemeint als dieses wunderschön verstörende Gespräch, das wir sind.¬
Auf den Galapagosinseln verbrachte ich beim Beobachten von Tieren, Vögeln und Landschaften Stunde um Stunde in Zuständen der tiefen Aufmerksamkeit. So erkannte ich, dass meine Identität nicht an irgendwelchen Überzeugungen hängt – Überzeugungen, die ich ererbt oder erworben hatte –, sondern dass meine Identität tatsächlich davon abhängt, wie viel Aufmerksamkeit ich den Dingen schenke, die nicht Ich sind. Indem man diese Aufmerksamkeit vertieft, vertieft und erweitert sich das eigene Gefühl von Präsenz. Ich nenne dies eine Identität der Grenze, denn unsere Identität wird zu einer Begegnung zwischen dem, was wir für uns selbst halten, und dem, was wir nicht für uns selbst halten. Genau da ereignet sich alles. Ein Gespräch ist einzig und allein an dem Ort ein echtes Gespräch, wo du auf etwas sich von dir Unterscheidendes triffst und wo du nicht einfach in deinen eigenen Gedanken und Vorstellungen gefangen bist. Es ist erstaunlich, wie viel Zeit die Menschen in großer Distanz zu dieser Grenze verbringen, wie sie sich von ihrem eigenen Körper abstrahieren, von der direkten Erfahrung, von einer tieferen, weiteren und umfassenderen Zukunft, die für sie bereit liegt, wenn sie das Gespräch an dieser Grenze stattfinden lassen.
e: Sie sind auch Philosoph. Inwiefern nehmen diese beiden Aspekte Ihrer Arbeit Einfluss aufeinander?
DW: Der Dichter Samuel Taylor Coleridge sagte: »Kein Dichter beginnt als Philosoph, … sonst schreibt er sehr schlechte Poesie, aber jeder ernsthafte Dichter wird zum Philosophen.« Mit anderen Worten, die Disziplin der tiefen Aufmerksamkeit und das Sprechen aus diesen tiefen Zuständen der Begegnung, des Vergehens und Werdens, schaffen ein echtes Verstehen der zugrunde liegenden Dynamiken, mit denen viele von uns an der Oberfläche zu tun haben. Die Poesie wird dich, wenn du ihr lange genug folgst, zu einem Narrativ, zu einer Erzählung führen, zum größeren Zusammenhang und damit zur Philosophie. Auf mich trifft das allemal zu. Der Ertrag der Poesie und das, was ich durch mein aufmerksames Wahrnehmen gesammelt habe, machten mich zum Philosophen. Anfangs versuchte ich nur, Bilder und Töne aufs Papier zu bringen, und allmählich entwickelten sich die erzählerischen Fähigkeiten. Oft sage ich, dass Poesie die Kunst ist, sich selbst Dinge sagen zu hören, von denen man nicht wusste, dass man sie weiß. Es kann eine große Herausforderung sein, festzustellen, dass man um diese Wahrheiten weiß, aber einfach noch nicht den Ort des Ausdrucks gefunden hat, um sie auch laut auszusprechen. Warum hast du diesen Ort nicht erreicht? Zum Teil deshalb, weil du Angst hast vor den Konsequenzen des echten Verstehens und den Veränderungen, die damit einhergehen, wenn du ihnen gerecht werden willst.
e: Sie sehen die Poesie als einen Prozess der Selbst-Entdeckung?
DW: Sie ist ein tiefes Gespräch. Und kein Mensch überlebt ein echtes Gespräch. Durch das Gespräch in der Ehe oder im Arbeitsleben emanzipiert man sich immer in Richtung eines neuen Verständnisses der Welt – und deswegen überlebt die Person, die das Gespräch ursprünglich begonnen hat, nicht. Dieser Prozess brachte mich dazu, über das Wesen der Wirklichkeit als Gespräch nachzudenken, das Wesen aller Wirklichkeit. Alles ist ja eine Begegnung von Einzelwesen, die aus dieser Begegnung neue dialogische Wesen bilden.
Ich denke, der Sinn des Lebens eines Individuums besteht darin, Teil von etwas viel Größerem zu sein. Und je mehr wir im Gespräch sind, desto größer ist das Feld, das wir bewohnen, desto größer ist der Körper der Verständigung. Es ist ein Gespräch zwischen dem Versuch, ein starkes, fest umrissenes Selbstgefühl zu entwickeln und dem ständigen Leben in der Verletzlichkeit, von dieser größeren Gemeinschaft des Gesprächs überwältigt oder eingeladen zu werden. Eine gute Beschreibung einer Ehe, der Elternschaft oder eines Arbeitslebens! Ich glaube, wir haben gar nicht die Wahl: Wollen wir eine unabhängige Wesenheit sein und gleichzeitig mit allem und jedem in der ganzen Welt zusammenhängen? Der mittlere Weg, auf dem wir uns nicht zwischen diesen beiden Möglichkeiten entscheiden, steht im Zentrum der großen kontemplativen Traditionen in Ost und West.
e: Sie sagen: »Poesie ist eine Sprache, gegen die wir uns nicht verteidigen können.« Wie lernen wir, diese Sprache zu sprechen?
DW: In dieser Sprache begegnen sich auf eigenartige Weise Präzision und Wildheit. Präzise meint hier nicht eingeschränkt. Präzise ist diese Sprache eher in dem Sinn, dass an dem Ort der Begegnung eine echte Versenkung stattfindet, ein Verstehen der Phänomenologie der Ereignisse – Phänomenologie bedeutet hier, was während des Gehens geschieht, wenn du immer aufmerksamer wirst und in immer tiefere Zustände der Begegnung kommst. Die Poesie als Kunst lebt an der Grenze zwischen der Fähigkeit, die Dinge beim Namen zu nennen, und dem Zulassen, dass die Dinge dich beim Namen nennen. An dieser Stelle werden die Gezeiten und Jahreszeiten der sich ständig verändernden Wildheit wirksam – du wirst aus dir selbst hinausgeworfen in die Welt.
e: Dieses tiefere Gespräch mit dem Leben haben auch die Mystiker erforscht. Welche Bedeutung hat die mystische Dimension des Lebens für Sie?
DW: Ich betrachte die Poesie als wirkungsvolle Übung der Aufmerksamkeit und zielgerichteten Absicht, die zu ganz neuen Erkenntnissen führen kann. Zen bildete mehrere Jahre lang einen wichtigen Teil meines Lebens. Aber mein irischer Anteil ist sehr skeptisch gegenüber allen Regeln und Vorschriften, die Menschen für andere Menschen aufgestellt haben. Ich arbeite viel mit religiösen Menschen zusammen und da gibt es viel Bewundernswertes. Aber ich bewege mich lieber zwischen diesen Räumen und möchte etwas Wildes bewahren, das sich nicht benennen oder strukturieren lässt.
Ich versuche, auf beiden Ebenen zu arbeiten. Auf der Ebene, die man als die mystische bezeichnen könnte, die aber alle Bereiche des Alltags beeinflusst. Dazu gehören auch eine gute Portion Humor und die erforderliche Robustheit, um unsere Disziplin zu verlassen und ein gutes Glas Wein und gute Gesellschaft zu genießen, während man gleichzeitig ein starkes inneres Gespräch mit dem Geheimnis der Dinge beibehält. Wenn wir diese Dimensionen zusammenhalten, schaffen wir ein erfüllendes und wunderbares Leben – ein Leben, das sich nicht von den Verlusten und der Trauer trennt, die alle Menschen seit Anbeginn der Zeit erfahren haben. Ein Leben, das den Verlusten gerecht wird, die von uns Größe erfordern, um sie zu umarmen.
Ich organisiere Wanderreisen und poetische Pilgerreisen, zum Beispiel nach Irland, Nordengland, in die Toskana, in den Himalaja oder nach Galapagos. Bei unseren Reisen in Irland etwa vertiefen wir uns gemeinsam in sinnhafte Erfahrungen: Wir wandern in der freien Natur, bei Sonne, Wind und Regen, begegnen den Menschen dort und am Abend gehen wir in den Pub auf ein Glas Guinness. Ich glaube, so entdecken die Menschen ihre Lebendigkeit, wenn all die verschiedenen Saiten im wunderbaren Instrument ihres Menschseins angeschlagen werden. Ein wichtiger Aspekt ist für mich derzeit das Gespräch zwischen der Begeisterung für das Leben und unserer gleich starken Weigerung, wirklich anwesend zu sein, uns selbst aufs Spiel zu setzen, um die grundlegende Verletzlichkeit der Fürsorge und des Fühlens zu erfahren. Ich komme gerade aus dem Garten, es ist ein herrlicher Herbsttag. Es ist ein Privileg, die Farbe Grün zu sehen, die Blätter und die Äpfel am Baum. Es ist ein Wunder – und gleichzeitig sind wir unglaublich zögerlich, uns selbst wirklich in dem Vergehen, das uns all diese Farben und fallenden Blätter vor Augen führen, aufs Spiel zu setzen.
Eine sehr persönliche und sehr tiefe Disziplin besteht darin, dass wir unsere eigene Form der Verweigerung verstehen und ein Gefühl für den Kontext darum herum entwickeln. Wir müssen die vielfältigen Weisen verstehen, auf die wir versuchen, uns diesem Gespräch zu verweigern, all die Versuche, als Ehemann oder Ehefrau nicht anwesend zu sein, unsere Elternrolle nicht wirklich einzunehmen oder nicht sichtbar und verantwortlich zu werden in einer Führungsrolle.
Wir sind gemeint als dieses wunderschön verstörende Gespräch, das wir sind – dieses Gespräch zwischen dem reinen Enthusiasmus und dem großen Privileg, z. B. die Farbe Blau zu sehen, und unserer tiefen Angst vor dem Sterben, das zu einem wirklich lebendigen Leben dazugehört. Eine der interessanten Eigenschaften des Menschseins ist allerdings die: Wir sind der einzige Teil der Schöpfung, der sich weigern kann, er selbst zu sein. Die Wolke ist die Wolke, der Berg ist der Berg, der Baum ist der Baum, der Falke ist der Falke. Einer der heilsamen Aspekte der Natur ist, dass sie einfach sie selbst ist. Wir als Menschen sind Virtuosen der Identität, weil wir die ziemlich außergewöhnliche Fähigkeit haben, uns zu weigern, wir selbst zu sein!
¬ Poesie ist die Kunst, sich selbst Dinge sagen zu hören, von denen man nicht wusste, dass man sie weiß. ¬
e: Heute arbeiten Sie viel im Bereich Leadership in der Wirtschaft, ein Bereich, der nicht viel mit Poesie zu tun zu haben scheint. Was versuchen Sie in dieser Arbeit zu erreichen?
DW: Meiner Ansicht nach ist die Arbeit ebenso eine heilige Übung wie jede andere ernsthafte Beschäftigung im Leben, wo wir versuchen, etwas zu bewirken, der Welt unser Geschenk zu überreichen, anderen Menschen etwas zu geben, unseren Lebensunterhalt zu verdienen und für unsere Lieben zu sorgen. Bei der Arbeit geht es um sehr viel. Die Arbeit ist in der Tat wie eine Ehe oder Beziehung, denn unsere Unvollkommenheiten und unsere Verwundbarkeit bleiben nicht verborgen und treten hervor.
Die Menschen in der Wirtschaft reagieren wirklich unglaublich stark auf meine Arbeit. Die meisten Menschen sehnen sich trotz der entfremdenden Kräfte nach echten Gesprächen, um den größeren Kontext der Ereignisse zu verstehen. Ich arbeite auch in dieser Welt als Dichter; ich verwende Gedichte, um in Bereiche vorzudringen, die man normalerweise nicht betritt. Ich rezitiere sie, spreche über sie, kontextualisiere sie und schaue darauf, wie sie zu uns allen sprechen. Und dann dauert es nur ein paar Minuten und wir sind in einer starken Dynamik, die keinen unberührt lässt, für die wir aber oft keine Sprache haben. Ich gebe den Menschen eine Sprache, mit der sie beschreiben können, was sie bereits intuitiv gespürt haben. Das ist befreiend. Meine Aufgabe ist es, eine Sprache einzuführen, die umfassend genug ist für die Dramen, die wir tagtäglich bei der Arbeit erleben. Unsere Sprache am Arbeitsplatz kann so eng, kontrollierend und unlebendig sein.
e: Sie haben, ähnlich wie Rilke, ein gutes Gespür für die Kraft der Frage, für »die Disziplin, schöne Fragen zu stellen«, wie Sie selbst es nennen. Wie kommt es, dass es für Sie anscheinend so wichtig ist, Fragen zu stellen?
DW: Als mein Freund, der Philosoph und Dichter JohnO’Donohue mit erst 52 Jahren starb, erlebte ich einen der größten Schocks meines Lebens. Danach wurde ich eingeladen, einige der Vorträge zu halten, die er zugesagt hatte. Bei einem ging es darum, wie man einen schönen Geist entwickelt. Damit war mir klar, dass ich darüber nachdenken musste, wie man einen schönen Geist entwickeln kann; dass es eine Disziplin sein könnte – so wie das Erlernen eines Musikinstruments ein Weg zur Schönheit ist. Schon bald kam ich darauf, dass man einen schönen Geist dadurch gestaltet, dass man schöne Fragen stellt. Dabei definierte ich schöne Fragen als solche, die die Identität ebenso sehr dadurch erweitern, dass man sie stellt, wie dadurch, dass man Antworten darauf erhält. Sie erweitern und vertiefen den Kontext. Manchmal finden sie eine Antwort, manchmal nicht. Diese Erweiterung ist in vielen Punkten der Arbeit mit Koans ähnlich, wie sie die Zen-Tradition kennt. Schöne Fragen können auch verstören; ich nenne sie oft schöne, verstörende Fragen. Deshalb sammle ich schöne Fragen. Es gibt eine schöne Frage von David Ignatow, einem Dichter, der erst vor einigen Jahren gestorben ist. Sie stammt aus einem Gedicht über diese herbstliche Jahreszeit: »Zu gern verstünde ich die Schönheit der fallenden Blätter. Für wen sind wir schön, wenn wir gehen?« Das ist eine Frage, die dich weit tragen wird.
Das Besondere an diesen Fragen ist, man muss gar nichts weiter dazu tun. Man muss sie nur immer wieder stellen. Das richtige Fragen ist eine Form der Aufmerksamkeit. Und bevor du es merkst, wirst du dich dabei antreffen, wie du ein anderes Leben gestaltest, andere Menschen kennenlernst und Gespräche führst, die dich in Richtungen führen, die du vorher gar nicht hättest sehen können. Glücklicherweise müssen wir dabei nicht vollkommen sein, wir müssen uns nur in das Gespräch begeben, das direkt vor uns liegt. Ich muss die Welt nicht als Last auf mich nehmen, ich muss nicht einmal alle Arbeit allein machen, das Gespräch wird all die Elemente und die Menschen einladen, um mich an dem Ort zu treffen, wo wir mit ständigem Staunen feststellen, dass etwas Gutes geschieht.