Partizipation und Herrschaft

Our Emotional Participation in the World
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Essay
Published On:

January 23, 2023

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Ausgabe 37/2023
|
January 2023
Re-Generation
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Kann Partizipation auch ein Instrument der Herrschaft sein?

In Zeiten der gesellschaftlichen Polarisierung scheint die demokratische Partizipation ein Gebot der Stunde zu sein. Aber was geschieht, wenn partizipative Prozesse mit der Intention angestoßen werden, das bisherige Verhalten zu legitimieren, statt Transformation zu ermöglichen?

Wir haben heute sehr viel mehr Partizipation in Deutschland als vor 16 Jahren, als Sonja Hörster und ich das Institut für Partizipatives Gestalten gründeten. Partizipation gab es schon immer in der Bundesrepublik. Formal ist sie allen Bürger:innen über das Recht zu wählen und zu demons­trieren, sich in Parteien zu organisieren, sich auf ein Mandat zu bewerben und sich an Petitionen zu beteiligen, verbürgt. Daneben gab es immer auch schon die sogenannte informelle Bürgerbeteiligung: Prozesse, Verfahren und Formate, in denen Bürger:innen beispielsweise zu aktuellen Fragen diskutieren, Vorschläge und Empfehlungen an Politik und Verwaltung einreichen dürfen. Mehr Partizipation, mehr Bürger:innenbeteiligung, mehr Mitsprache und Demokratie: das muss doch gut sein, oder?

Was viele nicht wissen, ist, dass Parti­zipation mittlerweile eine eigene kleine Industrie geworden ist. Es gibt kaum ein Verwaltungsvorhaben, das nicht auch einen Beteiligungsbaustein hat: eine irgendwie geartete Bürger:innenbeteiligung, die flankierend zum üblichen Verwaltungs- und Planungsprozess durchgeführt wird. Das ist insbesondere in kommunalen Verwaltungen so, aber auch Landes-, Bundes- und EU-Vorhaben werden zunehmend durch partizipative Prozesse begleitet. Solche Prozesse werden regulär mit Budgets ausgestattet und öffentlich ausgeschrieben. Beratungs- und Moderationsfirmen wie wir bewerben sich dann mit einem Konzept und einem Preis. Der Spielraum für die Gestaltung der Konzepte wird dabei immer enger. Verwaltungen machen Partizipation kaum aus Spaß und selten aus Überzeugung. Sie haben eine eigene Agenda, die meist auf die positive Kommunikation und Legitimation ihrer Vorhaben zielt. Deswegen machen sie in den Ausschreibungen strikte Vorgaben an das Konzept. Sinnvolle demokratische Prozesse, tiefe transformatorische Auseinandersetzungen oder neue Räume für politische Innovationen sind meist nicht gefragt. Man müsste diese schon irgendwie im Konzept verstecken. Und dann zählen Preis und Referenzen bei der Vergabe. Wer unausgebildete Junior:innen in die Moderation schickt, kann günstiger bieten. Wer schon hundertmal ein Thema von der Stange begleitet hat, hat mehr Referenzen als eine junge, innovative Firma mit neuen Ansätzen, die neu in dem Thema ist. Mittlerweile ist das Geschäft so groß, dass sich neben den etablierten Partizipationsinstituten auch viele klassische Beratungsunternehmen auf dem Markt tummeln.

Das Resultat ist eine Kakophonie aus unzähligen Beteiligungsprozessen, in denen fleißig diskutiert wird, Zettel geklebt, Flipcharts beschrieben und Empfehlungen überreicht werden. Die Qualität dieser Veranstaltungen ist gelinde gesagt durchwachsen, die Wirkung tendiert gegen Null, Steuergelder werden ausgegeben und die Bürger:innen bleiben nach einer ersten Euphorie frustriert zurück, weil sich »wieder nichts verändert« hat. Partizipation, die so funktioniert, ist nichts weiter als ein Herrschaftsinstrument innerhalb einer zweckrationalen politischen Kultur mit häufig toxischen Verwaltungsstrukturen. Weder verbessern solche Prozesse wirklich unser Gemeinwesen, noch tragen sie mit guten Lösungen etwas bei, noch stärken sie das Vertrauen in unsere öffentlichen Institutionen.

Da aber alle Institute für ihre Arbeit Werbung machen müssen und weil die Verwaltungen und die Politik selbst viel Geld für die Kommunikation in die Hand nehmen, verhallt Kritik relativ ungehört. Auch, weil wir ja alle eigentlich mehr Partizipation wollen und diese im Grunde gute Idee nicht durch schlechte Presse beschädigen wollen.

Und selbstverständlich gibt es sie: die richtig guten, wichtigen Partizi­pations­prozesse, die begeistern, verändern, Wirkung entfalten, zu echter Co-Kreation einladen und Zukunft gestalten. Das sind aber meist nicht die Prozesse, die gerade von Verwaltungen in Masse durchgeführt werden. Sondern das sind die Prozesse, hinter denen Menschen stehen, die inhaltlich getrieben sind, die echte Veränderungen bewirken und unser Gemeinwesen durch mehr Teilhabe und Demokratie stärken wollen. Projekte beispielsweise, für die engagierte Verwaltungsmitarbeiter:innen sich selbst seit Jahren einsetzen und die sie mit viel Herzblut ermöglichen und begleiten, oder Projekte, die von Politiker:innen initiiert werden, die ein wirkliches Interesse an einem intensiven Dialog mit ihren Bürger:innen haben, oder solche, die von NGOs vorangetrieben werden, die neue demokratische Werkzeuge erproben wollen, oder Projekte, die von Engagierten und Aktivist:innen vor Ort eingefordert werden, um ein dringendes gesellschaftliches Problem zu lösen. Kurz: Projekte und Prozesse, in denen es wirklich um etwas geht. Partizipation, in der durch solide methodische Konzepte Räume entstehen, in denen ehrlich gestaltet werden darf, in denen Konflikte wirklich transformativ bearbeitet werden können und in denen sichergestellt wird, dass Ergebnisse tatsächlich umgesetzt werden, also eine reale Wirkung zeigen.

¬ WIR BRAUCHEN EINE POLITISCHE KULTUR DER REGENERATION UNSERER GEMEINWESEN. ¬

Überhaupt Wirkung! Dafür machen wir doch am Ende Partizipation: für Wirk­ung, für gute, sinnvolle und notwendige Veränderungen. Als Bürger:innen wollen wir wirksam sein für unsere Gemein­schaften, in denen wir leben, und wir wol­len unsere eigene Wirksamkeit spüren. Dann sind wir auch weiterhin bereit uns zu engagieren. Partizipation ist dann keine Technik, keine Methode, keine Strategie, kein Verwaltungsvorgang. Partizipation ist dann eine Kultur. Eine regenerative, co-kreative Kultur der wirksamen Teilhabe an unserem Gemeinwesen. Und dieses Gemeinwesen benötigt gerade Heilung, Regeneration, neue Ideen und Innovationen, neues Vertrauen, mehr Zu­sam­menhalt und Solidarität und eine lebendige Entwicklung!

Daher sollte Partizipation genau andersherum funktionieren: Nicht Verwaltungen und Politik sollten Partizipation nutzen, um ihr System zu stabilisieren, sondern Partizipation sollte die Kultur sein, mit deren Hilfe wir unsere Verwaltungen modernisieren, unsere Politik wieder näher an die Bürger:innen und ihre Belange bringen und mit der wir ermächtigende, lebendige Strukturen für unser Gemeinwesen schaffen.

Doch wie gelingt eine solche Um­kehr­ung der Vorzeichen? Durch konsequentes Einnehmen und Vorleben partizipativer Kultur. Durch Haltung, durch Beispiel, durch transparente und offene Führung zu mehr Teilhabe und Demokratie.

Wenn wir zu denen gehören, die Parti­zipation beauftragen, konzipieren oder durchführen, sollten wir uns an erster Stelle der Wirksamkeit im Sinne des Gemeinwohls verpflichten und entsprechend professionell handeln. Wir sind diejenigen, die Sorge tragen können und müssen, damit Partizipation künftig wirklich co-kreativ, transformativ und transparent ist. Das sollte die ethische Verpflichtung aller sein, die professionell im Bereich Partizipation arbeiten. Wenn wir uns als Bürger:innen beteiligen, sollten wir sehr genau prüfen, wo und wie wir uns einbringen. Fragen, die wir stellen können, sind: Wer hat die Partizipation mit welchen Interessen entwickelt? Wie groß sind die Spielräume und der Gestaltungsrahmen, der uns gegeben ist, und sind unter diesen Bedingungen gute, notwendige und ausreichende Lösungen überhaupt möglich? Ist dafür gesorgt, dass mit den Ergebnissen sinnvoll weitergearbeitet wird, dass sie zwingend in Verwaltung und Politik aufgegriffen werden und dass vielleicht sogar deren Umsetzung garantiert ist? Sollten bei den Antworten mehr Fragen und Ungereimtheiten auftauchen, ist meine Empfehlung, sich an anderer Stelle zu engagieren.

Ich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland dringend ein partizipatives Update brauchen. Wir brauchen eine politische Kultur der Regeneration unserer Gemeinwesen. Und ja, dazu benötigen wir mehr Partizipation und Co-Kreation, nicht weniger. Es ist unser aller Aufgabe, darauf zu achten, dass es sich dabei nicht um alten strukturellen Wein in neuen Schläuchen, sondern um tatsächliche transformative Praxis handelt.

Author:
Jascha Rohr
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