Poesie auf dem Marktplatz

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Interview
Published On:

January 24, 2018

Featuring:
Erich Kästner
Uta Hauthal
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Issue 17 / 2017:
|
January 2018
Die Postmoderne und darüber hinaus
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Die Kunst der Begegnung

Mit der Poesie-Tankstelle bringt Uta Hauthal Gedichte mitten ins Leben. Sie bereist Städte genauso wie ländliche Gegenden, zum Beispiel in Sachsen und der Schweiz, um Menschen mit der Kraft der Poesie und der offenen Begegnung zu berühren.

evolve: Wie bist du auf die Idee für die Poesie-Tankstelle gekommen?

Uta Hauthal: Ich habe schon immer gerne rezitiert, also meine Stimme einem Text oder Gedicht geliehen. In den Buchhandlungen sind Lyrikbände meist in einem schmalen Regal im hintersten Eck zu finden, und die Verlage sagen, das verkauft sich nicht, das liest kein Mensch. Das heißt in gewissem Sinne, dass wir die Poesie aus unserem Leben geworfen haben, und das finde ich traurig. So kam ich darauf, mit Gedichten auf die Straße zu gehen und es Poesie-Tankstelle zu nennen.

Im Literaturhaus Dresden habe ich viele Veranstaltungen betreut oder moderiert, gleichzeitig aber auch nach einer anderen Art der Literaturvermittlung gesucht. Außerdem bin ich neugierig auf Menschen und liebe es, in Kontakt zu treten, und dafür ist die Poesie-Tankstelle ein wunderbares Mittel.

Ich bin mit meinem Fahrrad unterwegs, an dem ein großes Schild »Poesie-Tankstelle« befestigt ist. Damit stelle ich mich an eher unpoetische Orte – auf Marktplätze, vor Einkaufszentren, an den Straßenrand – und spreche Passanten an: »Haben Sie Lust auf ein Gedicht? Kann ich Sie mit einem Gedicht erfreuen?« Wenn sich jemand darauf einlässt, interessiert ist und stehen bleibt, rezitiere ich für ihn oder sie ein Gedicht. Es entsteht eine Kommunikation mit einem einzelnen Menschen.

Foto: Luciano Fasciati
Foto: Rägi Gremlich

e: Es braucht von dir auch Mut, solch eine ungewöhnliche Begegnung mit der Poesie anzubieten.

UH: Die Grundvoraussetzung ist, dass es mir gut geht und ich genug Energie habe. Außerdem muss mir klar sein, dass jede Art von Ablehnung nichts mit mir persönlich zu tun hat, nicht mich meint, sondern den Umständen geschuldet ist. Ich bin mir bewusst, dass es unterschiedlichste Situationen geben kann, in denen sich der Einzelne, den ich anspreche, gerade befindet. Wenn mich plötzlich völlig unvorbereitet im Alltag jemand anspricht, würde ich vielleicht auch stutzen oder denken, ich hab grad was ganz anderes im Kopf. Daher kann ich damit umgehen, wenn die Menschen vorbeigehen und sagen: »Keine Zeit …« oder »Um Gottes willen …« Umso herausragender ist es dann, wenn sich jemand einlassen will und fragt: »Oh ja, was haben Sie denn dabei?«

e: Was geschieht, wenn sich jemand auf ein Gedicht einlässt?

UH: Wenn jemand stehen bleibt, reagiere ich intuitiv. Ich plane nie, welches Gedicht oder welchen Dichter ich anbiete. Ich versuche, alle Antennen offen zu haben und zu erspüren, was es gerade braucht, gehe also völlig offen in die Situation. Es ist immer wieder ein verzauberter Moment für den anderen und für mich, weil die Poesie so direkt ist und so viel mit Herz und Gefühl, mit Tiefe und Klang zu tun hat. Ich trage ein Gedicht vor, die Worte verbinden sich mit meinem Atem, meiner Stimme, meinem Rhythmus und dadurch wird es lebendig. Oft sagen die Menschen, wenn ich mit der Rezitation fertig bin: »Oh, das ging ganz tief« oder »Ich hab jetzt eine Gänsehaut.« Die Menschen fühlen sich heute oft nicht gehört oder nicht wahrgenommen, dabei ist der einzelne Mensch so wichtig, und ich rezitiere für einen einzelnen Menschen.

Es ist immer wieder ein verzauberter Moment für den anderen und für mich.

e: Das heißt, es geht dir um die Wertschätzung des anderen Menschen und um eine Art Praxis der offenen Begegnung?

UH: Fachlich ausgedrückt könnte man sagen, es ist ein Moment achtsamkeitsbasierter Kommunikation: mit großer Offenheit und Unvoreingenommenheit in den Moment zu gehen, in die Begegnung mit dem anderen Menschen. Und das Mittel dazu ist das Gedicht. Es entsteht ein ganz eigener Raum. Und eine Intensität, auf die man sich einlassen muss und die auch verunsichern kann, weil sie so ungewohnt ist. Man denkt vielleicht: Was muss ich denn da machen, muss ich etwas sagen? Diese unbekannte Situation, in der man nicht weiß, was jetzt passiert, ist für einige Menschen schwer auszuhalten. Aber genau dieser Raum des Unbekannten und Neuen in einer konkreten Begegnung reizt mich und treibt mich an. Und wenn ich mein Herz öffne, kann auch der andere sein Herz öffnen, wenn er sich darauf einlässt. Viele Menschen genießen diese Begegnung, in einer Zeit, wo wir eher unsere Mauern bauen, unsere Zartheit und Verletzlichkeit zu verstecken suchen.

e: Wenn du so über Land ziehst und kleine Orte und deren besondere Atmosphäre wahrnimmst, ist das für dich auch eine Art Forschungsprojekt im Hinblick auf die kulturelle Befindlichkeit dieser Orte?

UH: Forschungsprojekt würde ich es nicht nennen, aber es hat sich durch die Reisen gezeigt, dass mich das auch interessiert. Ich finde es spannend, zu erspüren, was das für ein Ort ist und was ihn prägt. Radle ich an einem Supermarkt vorbei zum Marktplatz und finde keinen Gasthof, keinen Bäcker mehr, dann ist das ganz anders, als wenn es Geschäfte gibt und Stimmengewirr aus der Kneipe. Im kleinen Dorf Weißig bei Leipzig z.B. fand ich bei einem Regenschauer Schutz unter einer Linde, die Tür des Gasthauses stand offen, Gläserklirren und Lachen waren zu hören, ich stand unter dem Baum und memorierte »Die 13 Monate« von Erich Kästner. Ein Mann kam heran, entdeckte mein Schild, ließ sich von mir den »Mai« rezitieren und sagte beseligt, als ich fertig war: »Sie haben mir jetzt den Tag verzaubert …«

Auch ist es schon ein Aspekt meines Projekts, dass ich einen kleinen kulturellen Impuls an Orte bringe, an denen es sonst vielleicht wenig kulturelle Angebote gibt. Das ist auch ein Grund dafür, warum die Kulturstiftung des Freistaates Sachsen mein Projekt unterstützt hat. Dort macht man sich schon länger Gedanken darüber, wie Kunst und Kultur in den ländlichen Raum gebracht werden können, wie das Gefühl vieler Menschen, abgehängt und alleingelassen zu sein, transformiert werden könnte. Das ist eben nicht nur eine wirtschaftliche Frage. Der zweite Grund für die Förderung ist die Verbindung zwischen Sachsen und der Schweiz, die ich durch die Poesie-Reisen schaffe. Im Sommer 2017 war ich insgesamt fünf Wochen in der Schweiz.

e: Durch diese Begegnung entsteht dann eine Erinnerung an die Kraft der Poesie, die dann vielleicht auch weiterwirkt ins Leben der Menschen.

UH: Ja, es freut mich immer wieder, wenn Menschen sagen: »Ich lese keine Gedichte mehr, ich weiß gar nicht warum, ich muss das mal wieder machen.« Der Ausgangspunkt des Projekts war ja die Wahrnehmung, dass wir die Poesie so an den Rand gedrängt haben, dass sie aus unserem Bewusstsein verschwunden ist. Das heißt aber nicht, dass die Menschen nicht offen wären, dass sie nicht Sehnsucht danach hätten. Die authentische Begegnung von Mensch zu Mensch ist viel seltener geworden. Das Internet zeigt es exemplarisch: Wir haben »Freunde«, wir zählen die »Likes« und die »Klicks« und merken nicht, dass das alles nicht real ist. Ohne Zwang beugen wir uns dem Diktat der Quantität – auf die Menge kommt es an, die Anzahl, nicht auf die Substanz. Ich aber stehe überraschend an einem unliterarischen Ort und rezitiere für einen einzelnen Menschen ein Gedicht. Insofern bin ich mit meinem Angebot natürlich auch eine Zumutung: etwas ganz Eigenes, Individuelles in einer Welt, in der Differenzen zunehmend vernichtet werden. Wirklich berührt und ergriffen werden kann ich nur, wenn ich mich öffne, wenn ich etwas entdecken kann, wenn ich Resonanz zulasse. Letztlich geht es darum in jeder Art von Poesie.

Author:
Mike Kauschke
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