Das Wunder der Entfaltung
Rolf Verres’ Weg in die Welten des Bewusstseins
April 21, 2016
Spiritualität wird für die Zukunft Europas wichtig sein – oder, um es mit Jürgen Habermas zu formulieren: »Die verlorene Hoffnung auf Resurrektion hinterlässt eine spürbare Leere.« Jürgen Habermas ist kein Geistlicher, aber in diesem Gespräch mit Joseph Ratzinger, aus dem das Zitat stammt, wird klar, dass auch gesellschaftliche Projekte einer geistigen – nicht zwingend geistlichen – Einbettung bedürfen, damit sie nicht, vermeintlich alternativlos, im Pragmatismus enden, oder überhaupt auf das Wohl der Menschen hin ausgerichtet werden können. »Wir müssen Europa eine Seele geben«, war übrigens eine Forderung von Jacques Delors, der tief katholisch war. Im Grunde haben wir die Seele Europas genau da verloren, als wir einen Binnenmarkt zum Projekt gemacht haben und nie einen wahrhaftigen europäischen Gesellschaftsentwurf hatten, wie Oskar Negt wohl formulieren würde. Während des europäischen Verfassungskonventes haben wir recht fadenscheinig und vordergründig darum gerungen, ob die judeo-christlichen Ursprünge Europas in der Präambel der Verfassung erwähnt werden. Die EU – nicht Europa – war bestenfalls immer bigott.
Religion opfert die eigene Vernünftigkeit für die emotionale Kohärenz des Selbstmodells. Spiritualität löst das phänomenale Selbst auf. »There is no I, no ego«, ist wahrscheinlich die Essenz der Lehren der Bhagavad Gita oder der Yoga-Sutren des Patanjali. Indianische Traditionen nennen dies »Mitakuye Oyasin«, wir sind alle eins. Wir wissen, dass Albert Einstein der physikalischen Struktur der Liebe als kosmische Energie auf der Spur war.
Spiritualität ist radikal individuell und missioniert nicht. Sie beruht auf der Annahme, dass das eigene Handeln die Welt prägt, diese also auch nur durch eigenes gutes Handeln verändert werden kann. Die Lehre der Bergpredigt entspricht am ehesten dem Prinzip der Spiritualität. Das derzeitige quasi-missionarische Ausgreifen Europas zur Verteidigung der »liberalen Demokratie und ihrer Werte« hingegen entspricht dem nicht.
Europa, das über die Aufklärung seinen eigenen Bezug zur Meta-physik verloren und sich einem sprichwörtlich gnadenlosen Wissenschaftsbegriff hingegeben hat, verlor damit auch jede Beziehung zum Begriff der Heilung. Dem Filter einer an Wissenschaft gekoppelten, vermeintlich überlegenen (westlichen) Rationalität – man könnte auch von wissenschaftlichem Unglauben sprechen – sind geistige Mündigkeit und gesellschaftliche Sittlichkeit letztlich zum Opfer gefallen. Die Wissenschaft selbst, vor allem eine gewisse Hörigkeit mit Blick auf Daten, ist zum Objekt europäischer Mission geworden, wie Paul Feyerabend in seinem Buch »Erkenntnis für freie Menschen« konstatiert.
¬ SPIRITUALITÄT IST RADIKAL INDIVIDUELL UND MISSIONIERT NICHT. ¬
Die heute vielleicht am weitesten verbreitete Form von Spiritualität ist die Achtsamkeits- oder Einsichtsmediation im Sinne der klassischen buddhistischen Vipassanã-Tradition. Würde man dieses Achtsamkeitsprinzip einmal auf das Handeln der EU anwenden, wäre schon viel gewonnen: die EU würde dann vielleicht ihre Landwirtschaftspolitik so reformieren, dass sie z. B. nicht Afrika mit Agrar-Produkten überschwemmt und damit lokale Märkte und Basare im Maghreb zerstört. Deren Händler-Söhne bevölkern dann die hässlichen Vorstädte von Paris, wo sie wieder keine Chance haben und sich im schlimmsten Fall radikalisieren und zu Terrorattentätern werden. Mit dem Prinzip der Achtsamkeit auch nicht vereinbar wären Waffenexporte z. B. nach Saudi-Arabien, eines der Länder, das die dschihadistischen Umtriebe des IS am offenkundigsten unterstützt.
Letztlich ist das buddhistische Achtsamkeitsprinzip – Spiritualität kennt keine kulturellen Grenzen – der Kant’sche Imperativ. Wenn in Europa schon der Begriff der Spiritualität in die esoterische Spinner-Ecke geschoben wird, dann könnte und sollte man sich an Kant erinnern, um zu sehen, dass Europa wohl derzeit einen ungebührend großen Platz in der Welt für sich beansprucht und immer wieder durch strukturelle Gewalt für sich geltend macht. Wie sich Europa entwickelt, wird auch davon abhängen, wie achtsam wir gegenüber den Ansprüchen und Entwicklungsmöglichkeiten anderer Weltgegenden sind.