Potenziale im Blick

Our Emotional Participation in the World
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April 5, 2021

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Ausgabe 30 / 2021:
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April 2021
Kunst öffnet Welten
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Wege zu einer zukunftsfähigen Bildung

Die deutsche Geschichte prägt in vielen Bereichen unser Bildungssystem. Wie können wir diese Prägungen tiefer verstehen und Potenziale der Transformation stärken?

Man könnte sagen, Bildung ist das Herz einer Gesellschaft und sichert ihre Zukunftsfähigkeit. Unser deutsches Bildungssystem ist wie ein unbeweglicher Tanker, unfähig, auf einen zukunftsfähigen Kurs umzuschwenken, der von vielen Seiten vorgegeben und gefordert wird. Bildung gilt als Schlüssel für die Transformation.

Aus unserer langjährigen Arbeit in Schule und Hochschule mit Studierenden, Referendaren, Lehrkräften, Eltern und Schulleitungen wissen wir, dass die Transformation unseres Schulsystems mit einem Bewusstseinswandel der darin tätigen Menschen beginnen muss. Eltern, Lehrkräfte und Hochschullehrer waren selbst Kinder und Schüler. 
Sigmund Freud hat uns gelehrt, dass Erwachsene unbewusst aktiv austeilen, was sie als Kinder und Lernende passiv eingesteckt und erlitten haben. Ohne Selbsterfahrung, Reflektion und Bewusstseinswandel bleiben wir im Wiederholungszwang gefangen. In unseren Workshops und Ausbildungskursen wird in der Bearbeitung von Konfliktsituationen sichtbar, wie unsere geschichtliche Vergangenheit, insbesondere die des Nationalsozialismus, als kulturelles Erbe nachwirkt und schulisches Alltagshandeln noch heute prägt.

In ihrem Buch »Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind« hat Johanna Haarer die nationalsozialistische Ideologie mit ihren Erziehungszielen eingehend beschrieben. Erwachsene hätten sich »ruhig über die Fehler und Schwächen der Kinder lustig machen und sie verspotten dürfen« und »Kinder wurden von ihrer Mutter nie in den Arm genommen«. In den Fortbildungsgruppen von Silke Weiß fühlen sich Menschen der Kriegsenkel-Generation oft tief berührt von diesem Buch, weil sie merken, wie sehr die darin geschilderte Grundhaltung und teilweise auch Praktiken noch in ihrer eigenen Erziehung wirksam waren. Und dass sie diese selbst unbewusst an ihren eigenen Kindern – und Schülerinnen und Schülern – angewendet haben! Sigrid Chamberlain beschreibt in »Adolf Hitler, die deutsche Mutter und ihr erstes Kind«, wie man mit Kindern zur Zeit des Dritten Reiches umgegangen ist. Kinder galten als unsauber und schmutzig. Man müsse ihren Willen brechen und sie gefügig machen, damit sie gehorchten. Von Adolf Hitler ist ein Zitat überliefert: »Jedes Kind ein Kampf. Meine Pädagogik ist hart. Das Schwache muss weggehämmert werden. Eine gewalttägige, herrische, unerschrockene, grausame Jugend will ich. Schmerzen muss sie ertragen. Es darf nichts Schwaches und Zärtliches an ihr sein.«

Die Verherrlichung von Stärke und die Verachtung von Schwäche führte zwar zu Kampfgeist und enormer Anstrengungsbereitschaft, prägte jedoch das deutsche Bewusstsein auf fatale Weise: Schwarz-Weiß-Denken blockiert die Widerspruch­s­toleranz, jeglichen Perspektivwechsel und damit auch den Umgang mit Komplexität. Wenn alles eindeutig und schnell bewertet werden muss, darf es keine Grautöne oder gar ein Sowohl-als-auch geben. Statt sich verletzlich zu zeigen und um Hilfe zu bitten, wird das geschwächte Selbstwertgefühl mit neuen Anstrengungen überkompensiert. So entwickeln sich Persönlichkeiten, die nach außen stark und mächtig wirken, aber innerlich schwach und labil sind.

Nach dem Dritten Reich hat sich die Bundesrepublik Deutschland eine demokratische Verfassung gegeben, aber in ihrem Schulsystem im Wesentlichen nichts verändert. Weder das Aufbegehren in der 68er-Revolution noch die Reformpädagogik haben dazu geführt, dass sich unser Schulsystem in seinen Grundstrukturen verändert hat.

Manipulative Strukturen, Disziplinierung und Praktiken von Beschämung und Unterdrückung, Förderung von Konkurrenz statt Kooperation – das alles ist bis heute wirksam. Helga Breuninger hatte in der Radiosendung »Hallo Ü-Wagen« auf einem Marktplatz in NRW vor 1000 Schülern erzählt, wie sie mit vier Jahren von ihrem Vater schwimmen gelernt hat: »Ich erhielt eine kurze Anleitung mit Schwimmflügelchen, dann sollte ich ohne diese aus dem tiefen Beckenbereich alleine zurückschwimmen. Ohne zu atmen und mit letzter Kraftanstrengung erreichte ich den Beckenrand. Mein Vater verließ das Schwimmbad mit der Bemerkung: ›Gut, jetzt kannst du schwimmen!‹« Auf die Frage in die Zuschauermenge, wer ähnliche Erfahrungen gemacht hatte, meldete sich mindestens die Hälfte aller Kinder.

Aus diesen historischen Einflüssen heraus, die hier natürlich nur skizziert werden können, haben wir uns im Schulsystem »Bonsai-Praktiken« angeeignet: Wir lassen Kinder und Jugendliche zwar wachsen, aber wir setzen sie in viel zu kleine Gefäße, schneiden ihre Wurzeln, kappen ihre Äste und biegen sie an Drähten in bestimmte Richtungen. Der Effekt ist sichtbar. Bäume, die unter guten Bedingungen im Freien aufwachsen, werden groß und kräftig. Bonsais sind wohl geformt und machen sich hübsch im Wohnzimmer, bleiben aber klein und sind abhängig davon, dass man sich um sie sorgt. Sie sind wenig resilient und anpassungsfähig. Sie sind Ausdruck eines Systems von Kontrolle. Wir bilden Menschen, die machen, was man ihnen sagt, aber nicht solche, die morgen komplexe Probleme lösen werden.

ES GEHT HEUTE UM LERNPARTNERSCHAFT AUF AUGENHÖHE. 

Manche Schulen sind auch heute noch emotional unterkühlte Lernanstalten. Wir sind in diese kulturelle Matrix hineingeboren und haben uns daran gewöhnt, kontrolliert und bewertet, gelobt oder getadelt zu werden. Die systematische Unterdrückung von Selbstwirksamkeitserfahrungen durch fremdgesteckte Ziele und enge Curricula ist die Folge. Sie überschreibt die eigenen Bedürfnisse und Interessen von Kindern und Jugendlichen, hält sie unmündig und passiv.

Stabile demokratische Gesellschaften entstehen aus der dynamischen Balance von Ich und Wir, wenn die Kreativität des Individuums als gesellschaftliches Potenzial wirksam wird. In unserer Vision von zukunftsfähiger Schule stehen Kinder und Jugendliche als gleichwürdige Personen, d. h. als Subjekte im Zentrum, und werden nicht als Objekte unserer Curricula diszipliniert, belehrt und bewertet.

Es geht also um Lernpartnerschaft auf Augenhöhe, um Aktivierung, Beteiligung und kooperatives Lernen. Potenzialentfaltung braucht den Potenzialblick. Er erwächst durch eine wertschätzende Haltung, lebt vom Glauben an Kinder und Jugendliche und wird in einer vertrauensvollen Beziehung wirksam.

Es gibt schon Schulen, die sich auf diesen Weg gemacht haben. Ein herausragendes Beispiel ist die Alemannenschule Wutöschingen. Die Klassenzimmer sind abgeschafft. Gearbeitet wird in einer Art Großraumbüro mit Lehrkräften in der Rolle von Lernbegleitern. Statt 45 Minuten Unterrichtstakt lernen Kinder und Jugendliche selbstbestimmt. Sie entscheiden selbst, wo und mit wem sie was lernen wollen, digital oder analog. Andere Schulen wie die Richtsbergschule in Marburg folgen diesem Beispiel. Eine schulübergreifende Initiative für Potenzialentfaltung ist der »Frei-Day« von Margret Rasfeld mit ihrer Initiative »Schule im Aufbruch«: ein Tag oder ein Nachmittag unverzweckte Zeit, wo Themen der Zukunft erforscht werden können.

In diesen Beispielen entwickeln junge Menschen Selbstvertrauen, Offenheit und vor allem die Fähigkeit, unvorhergesehene und unerwartete Situationen im Team konstruktiv zu lösen – eine wichtige Zukunftskompetenz. Zentral sind hier die Lernbegleiter als Vorbilder.

Der Erwerb der neuen Rollen und die wertschätzende Haltung von Lernbegleiterinnen braucht innere Arbeit und persönliche Entwicklung sowie Beziehungskompetenz. Ein anderer Weg ist ein Musterbruch wie in der Alemannenschule und im ESBZ Berlin: Stefan Ruppaner und Margret Rasfeld haben ihr Kollegium davor beschützt, frontal vor einer Klasse zu stehen und in ihre alten Muster zurückzufallen, stattdessen wird in interaktiven, flexiblen Gruppen unterrichtet.

Noch verharren viele Verantwortliche im öffentlichen Schulsystem verunsichert und ängstlich in den alten Strukturen. Mut entsteht über die Zugehörigkeit zu einer Bewegung. Was den Einzelnen überfordert, schafft die Gruppe. Dazu haben wir Autorinnen mit anderen Bildungsaktivistinnen wie Margret Rasfeld die Bewegung »Die Kraft des Wir« im Netzwerk der Pioneers of Education initiiert. Im öffentlichen Diskurs sollen hier wirkmächtige Bilder von Schulen als Lebensorte und Lerngemeinschaften entstehen, die sich in den Herzen verankern. Sie sind der Treibstoff für die Transformation.

Author:
Silke Weiss
Author:
Helga Breuninger
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